Die Schule diskriminiert und lehrt es: Ein Streitgespräch über die gesellschaftlichen Funktionen der Bildungseinrichtungen
GRAMS: Herr Huisken, Sie haben als Lehrer gearbeitet, studierten Erziehungswissenschaften, Politikwissenschaft und Psychologie und waren bis zu Ihrer Emeritierung an der Universität Bremen Hochschullehrer für die Politische Ökonomie des Ausbildungssektors. Sie gelten als profunder Kenner und Kritiker der deutschen Schule. In Ihren vielfältigen Veröffentlichungen zum Thema beschreiben Sie die Schule als Diskriminierungsanstalt. In Ihren Büchern – zuletzt in den „Flüchtlingsgesprächen“ und in „Alles bewältigt, nichts begriffen“ – verbinden Sie die Schule per se mit der Diskriminierung der Kinder und Jugendlichen. Mehr noch: Die Schule sortiere die Kinder und Jugendlichen und lehre sie, soziale „Selektion“ für alternativlos zu halten.
Nun sitzen Sie im Gespräch zusammen mit einem ehemaligen Direktor einer Schule, der Ihnen aus seiner Innenansicht der Schule nicht zu widersprechen vermag. Die Schule diskriminiert die ihr Anvertrauten durch das ihr eigene Prinzip des dissozialen Sortierens der Schülerinnen und Schüler.
Lassen Sie uns in einem ersten Schritt der gesellschaftlichen Funktion der Schule als „Totaler Institution“ nachgehen, deren Aufgabe das Sortieren der ihr Anvertrauten ist. In einem zweiten Schritt könnten wir darüber nachdenken, welche psychischen Verwerfungen, welche Leidensprozesse die Institution Schule zu bewirken vermag. Lassen Sie uns in einem dritten Schritt aber auch über Gegenentwürfe sprechen, über jene Projekte und Menschen, die unermüdlich den Dialog mit den Kindern und Jugendlichen suchen, um mit ihnen gemeinsam „die Menschen zu stärken und die Sachen zu klären“.
Nun also zu unserem ersten Schritt. Wie gelangen Sie zu Ihrem Urteil, die Schule diskriminiere durch ihre Sortierungsfunktion?
HUISKEN: Dass die hiesige Staatsschule diskriminiert, d. h. Unterschiede zwischen Schülern hervorbringt, ist ein unstrittiger Befund: Die Diskriminierungsanstalt produziert ‚gute‘ und ’schlechte‘ Schüler in einem für die jeweilige gesellschaftliche Nachfrage nach tauglichen Mitgliedern für die kapitalistische Arbeitswelt möglichst funktional bestimmten Verhältnis. Der Auftrag der Schule – es ist, um das gleich vorweg zu sagen, nicht ihr einziger Auftrag – besteht darin, den gesamten Nachwuchs einer Vorsortierung zu unterziehen, an den sich jene lebensbiographisch entscheidende Sortierung anschließt, der sich Schulabsolventen in der Konkurrenz ein Leben lang um die Sicherung von mehr bzw. mehrheitlich weniger erfreulichen Verdienstgelegenheiten unterwerfen müssen, ehe sie – ebenfalls mehrheitlich – in der Altersarmut den Rest ihres Leben verbringen dürfen. Als ’schlechte‘ Schüler werden dabei jene ermittelt, die im schulisch veranstalteten Leistungsvergleich bei vorgegebenen Lerninhalten und Lernmethoden schlechter abschneiden als ihre in- oder ausländischen Mitschüler.
Ich bin mir im Klaren darüber, dass die damit angedeutete Zweckbestimmung weniger unstrittig ist. Noch mehr Widerspruch ernte ich im Allgemeinen, wenn ich den Nachweis zu erbringen versuche, dass die schulisch ermittelte Schülerhierarchie das Werk des schulischen Lernens ist, das über das Verfahren der notwendig chancengleichen Lernkonkurrenz verläuft. Lassen Sie mich dazu ein paar Worte zur Erläuterung sagen: Wenn allen Schülern – im großen Ganzen – dieselbe Zeit zum Lernen und zur Reproduktion des gleichen Lernstoffs eingeräumt wird, und wenn diese Zeit weder am ‚langsamsten Schiff der Flotte‘ Maß nimmt noch jedem Schüler die seinem Lerntempo entsprechende Zeit einräumt, vielmehr so knapp bemessen ist, dass zwangsläufig Schüler abgehängt werden, dann bezeugt dieses Verfahren die schulische Zwecksetzung, mittels der Organisation des Lernens alle Schüler auf die Notenskala von 1 bis 5 oder 6 zu verteilen; was zum Endergebnis hat, dass immer noch eine Mehrheit des Nachwuchses von weiterführender Bildung fern gehalten wird. Wenn überdies das Ergebnis dieser schulischen Konkurrenz nicht der Auftakt zur schulischen Behebung von festgestellten Lerndefiziten ist, sondern zu ihrer Fixierung und Exekution gemäß der jeweils schulrechtlich vorgegebenen Schullaufbahnen führt, dann wird zugleich mehr als deutlich, dass diese Sorte Lernen von der Rücksichtslosigkeit gegenüber mitgebrachten oder schulisch erzeugten Lerndefiziten und gegenüber all jenen Befindlichkeiten lebt, mit denen Schüler in der Schule antreten – von Rücksichtslosigkeit gegenüber schulisch ausgetriebener Lernmotivation und untergrabenem Lerninteresse ganz abgesehen.
Es baut diese schulische Diskriminierung somit kalkuliert auf jener gesellschaftlichen ‚Diskriminierung‘ auf, mit der ein Staatsvolk per Konkurrenz um den Verdienst auf die Hierarchie der Berufe verteilt wird. Schulsoziologisch gesprochen finden sich darüber bekanntlich große Teile des Volkes in der sogenannten ‚Bildungsferne‘ wieder; ein Begriff der zum einen zynisch verbucht, dass es für die Arbeit und das Leben der Volksmehrheit im Kapitalismus keine Bildung braucht, und in dem zum anderen festgehalten wird, dass der Nachwuchs dieser Volksmehrheit in der Pflichtschule mit einer ‚Vorsozialisierung‘ antritt, über die per Lernkonkurrenz sicher gestellt wird, dass diese gesellschaftliche Diskriminierung – sagen wir ruhig etwas pauschal – nach Arm und Reich reproduziert wird.
Übrigens – dies mein vorerst letzter Satz – scheint es die Kritiker des Umstands, dass die Schule es Schülern aus den unteren Schichten der Gesellschaft auch heute noch extrem schwer macht – siehe PISA 2000 – sich über höhere Bildung bis zum Studium vorzuarbeiten, nicht im Mindesten zu stören, dass ihre Kritik mit dem von ihnen – als fehlende Chancengleichheit falsch – kritisierten Sachverhalt seit Jahrzehnten in einträchtiger Koexistenz existiert.
GRAMS: Die von Ihnen treffend kritisierte Vorsortierung der Schülerinnen und Schüler in den ersten neun, zehn, zwölf oder mancherorts dreizehn Schuljahren war tatsächlich zugleich eine präzise Abbildung der frühen Industriegesellschaft: Zukünftigen Arbeiterinnen und Arbeitern musste die „Volks-Schule“ genügen, der kommenden Generation der ‚mittleren‘ Verwaltung und der Techniker das „Einjährige“ der Realschule. Für die vermeintliche Elite blieb das Gymnasium. Das Einjährige erhielt seinen Namen, weil die Absolventen der Realschulen bis 1918 nur ein Jahr in der Reichswehr dienen mussten. Diese Dreiteilung der Gesellschaft war in der Tat eine Widerspiegelung der Differenzierung der Arbeitswelt. Wo sie noch existiert, wird übersehen, dass wir das Jahr 2022 schreiben. Die allerorten Einzug haltende Zweigliedrigkeit ändert an diesem Prinzip nichts. Diskriminiert werden jene, die zu vermeintlich schlechten Schülerinnen und Schülern erklärt werden. Ich leitete viele Jahre eine große berufsbildende Schule, die aus 17 unterschiedlichen Bildungsgängen bestand. In Fachschulen, Berufsfachschulen, Beruflichen Gymnasien und Fachoberschulen konnten alle schulischen Abschlüsse erworben werden. Ich beobachtete, dass Schülerinnen und Schüler der Berufsfachschulen, die den Hauptschulabschluss erwerben wollten, ihre gleichaltrigen Mitschülerinnen der Fachschulen siezten. Sie erklärten es mir mit ihrer Unsicherheit gegenüber denen, die doch im Gegensatz zu ihnen so viel wüssten. Die Vorsortierung, von der Sie, Herr Huisken, sprechen, war durch sie hindurch gegangen. Doch zu den psychischen Verwerfungen, die Diskriminierung in und durch die Schule bewirken, kommen wir später. Es bleibt jedoch festzuhalten: Wenn die Biografie eines Kindes geprägt wird von dem steten Erlebnis, nur den Rängen vier bis sechs auf der Notenskala zugeordnet zu werden, bleibt ein tiefsitzendes Gefühl für die eigene Unfähigkeit.
Diese rücksichtslose Umgangsweise mit Kindern und Jugendlichen schreiben sie der „hiesigen Staatsschule“ zu. Hier bitte ich Sie um eine Erläuterung, weil zwischenzeitlich weit mehr als zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland private Schulen besuchen. Privatschulen nehmen aber in besonderem Maße die Vorsortierung über die finanziellen Möglichkeiten der Eltern vorweg. Wer das Internat Schloss Salem besucht, hat kein Problem mit einem engen Zeitfenster, in dem von allen Kindern einer Gruppe das Gleiche gelernt werden muss. Angesichts der finanziellen Ausstattung der Eltern ist dieses Zeitfenster individuell dehnbar. Ist insofern die wachsende Anzahl von Privatschulen Ausdruck weiterer und vertiefter Vorsortierungen und die Privatschulen sind dabei der Katalysator?
Eine zweite Frage zu dem von Ihnen bislang dargestellten Zusammenhang: Sie sagen, die Menschen würden „per Konkurrenz um den Verdienst auf die Hierarchie der Berufe verteilt“. Dieser Prozess setze zielgerichtet in den Schulen ein. Angesichts der Existenz eines Marktes, auf dem „doppelt freie Lohnarbeiter“ ihre Arbeit feilbieten, darf doch die staatliche Institution Schule dem nicht nachstehen. Sie muss auf diesen Markt vorbereiten, ergo eine Vorauswahl mit dem Ziel treffen, jene zu erwählen, die auf lukrative Berufsaussichten vorbereitet werden, auf solche, die ein Auskommen mit dem Einkommen ermöglichen und auf solche, die als „Arbeitskraft minderer Güte“ bezeichnet werden können. Am untersten Rand dieser Hierarchie befänden sich dann dergestalt behinderte Menschen, deren Arbeitskraft nicht verwertbar erscheint. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wäre die Schule ihrem Charakter nach eine Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Produktion …
HUISKEN: Ihrer ersten Anmerkung kann ich nur zustimmen. Die „Reformen“ des Schulwesens sind Legion; geändert wurden Lehrpläne, Lehrmethoden, Schulorganisationen usw. Nie jedoch wurde etwas grundsätzlich an der Sortierungsfunktion des allgemeinbildenden staatlichen Schulwesens geändert. Der Übergang von der Drei- zur Zweizügigkeit, die sich immer mehr durchsetzt, ist in dieser Hinsicht nur konsequent, da mit ihm unmittelbar die Scheidung des Schulvolkes nach zukünftiger Elite und nach der Masse der lohnarbeitenden Bevölkerung eingeleitet wird.
Nur um an dieser Stelle Einwänden zuvorzukommen: Nein, mir sind weder die Versuche, von Notenbewertungen zu schriftlichen Leistungsbewertungen überzugehen noch die Beschlüsse entgangen, die Notengebung in den ersten Schuljahren der Grundschule auszusetzen. In beiden Fällen hat Schulpolitik – allerdings völlig begriffslos – auf Widersprüche und ihre schulisch kontraproduktiven Wirkungen reagiert. Wo die Fixierung auf Noten dazu führt, dass Lernen nicht sach-, sondern notenorientiert erfolgt, da stehen nicht nur Erziehungsberechtigte, die ihren Kindern zu besseren Schulabschlüssen verhelfen wollen, sondern auch die – absurderweise – in rasantem Aufschwung befindlichen Nachhilfeeinrichtungen ziemlich ratlos vor der Frage, wo eigentlich die zu behebenden sachlichen Mängel liegen, wenn der Schüler mit einer 5 in Mathe oder Deutsch nach Hause kommt. Denn die Note hält nur den rein quantitativen Vergleich mit den Einser- oder Zweier-Schülern fest, sagt über qualitative sachliche Defizite nichts aus. Ähnlich verhält es sich beim Verzicht auf Notenbewertung in Grundschuljahren: Um zehn Jahre oder mehr wenigstens an der schulischen Lernkonkurrenz teilnehmen zu können, bedarf es beim Schüler der Elementarausstattung in Sachen Lesen, Schreiben und Rechnen. Grundschülern, die in der 1. oder 2. Schulklasse per Notenaussortierung abgehängt werden – aus welchen Schichten die dann wohl kommen? –, fehlt es daran; ihre Teilnahme an der Lernkonkurrenz ist dann zunehmend formaler Natur.
Ihre Frage nach der Bedeutung der Privatschulentwicklung hierzulande schließt unmittelbar an. Die Zeiten der privaten Alternativschulen – Glocksee, Freie Schule Frankfurt etc. –, die noch versuchten, ohne Schülersortierung auszukommen, sind ziemlich vorbei. Allerdings waren auch diese Alternativkonzepte an das Grundgesetz, sprich: an staatliche Erlaubnis gebunden, die so konsequent durchgesetzt wurde, dass nicht wenige Schulversuche ihre Bemühungen gar nicht erst umsetzen konnten. In Bremen weiß man ein Lied davon zu singen. Alternativschulen, die von der Schulaufsicht grünes Licht bekamen, haben sich allerdings diese Unterwerfung unter staatliche Vorgaben teilweise so sehr zu Herzen genommen, dass sie ihre Werbung um weitere Schüler mit dem Verweis untermauerten, dass ihre Absolventen nach Integration in die höheren allgemeinbildenden Staatsschulen – aus dem vorgegeben Sortierungsverfahren durften und wollten sie sich ohnehin nicht ausklinken – immer hervorragende Zeugnisse erhalten hätten. Eine merkwürdige Werbung, die die Frage nahelegt, worin das Alternative der Erziehung wohl bestanden haben mag, wenn die so Erzogenen ausgerechnet in jener Staatsschule reüssieren, an der Alternativpädagogen kein gutes Haar gelassen hatten.
Die Zunahme von staatlich zugelassenen allgemeinbildenden Privatschulen in Deutschland – Sie sprechen von mehr als 10 Prozent – ist, wenn man von reinen Konfessionsschulen absieht, die Antwort auf die Sorge der kleinen Schicht der Vermögenden, inwieweit ihr Nachwuchs es in der Staatsschule relativ sorgenfrei bis zum Abi schafft, das heute als die Voraussetzung fürs Studium gilt, über das allein der Zugang zu den meisten Jobs der Elite eröffnet wird. Das Misstrauen in die Leistungsmotivation der eigenen Kinder wird durch Geld kompensiert. Mit Jahresschulgeldern zwischen 3.000 und 50.000 Euro lässt sich in der privaten Lehranstalt das gewünschte Ergebnis einkaufen. So gesehen ist der Boom von Privatschulen nichts anderes als eine zur hiesigen Geldwirtschaft passende Ergänzung des Pflichtschulwesens: Wo es die Staatsschule schafft, den Nachwuchs der Armen dieser Gesellschaft durch chancengleiches Lernen nach Schulende wieder in jenen Status zu versetzen, aus dem sie entkommen sollten – „Meinem Kind soll es später mal besser gehen!“, lautet der regelmäßige und regelmäßig wieder untergrabene Wunsch von Eltern aus diesen Schichten –, da darf es nicht wunder nehmen, dass es hierzulande zugelassen wird, den mit Reichtum ‚gesegneten‘ Familien schulisch die ihrem Status entsprechenden Schulkarrieren einzurichten.
Der zweiten Frage stehe ich etwas hilflos gegenüber. Ich bin zum einen nicht der Auffassung, dass Schule die Logik der kapitalistischen Gesellschaft „widerspiegelt“ – wenn man den Begriff mal wörtlich nimmt. Sie leistet, wie im ersten Beitrag angedeutet, funktionale Vorarbeit durch die Verteilung des Nachwuchses auf die Hierarchie der Berufe und durch die Erziehung zu Konkurrenzsubjekten, über die wir wohl noch reden werden. Es geht also um ein praktisch-gesellschaftliches Verhältnis, nicht um ein geistiges, wie dies die „Widerspiegelungstheorie“, auf die Sie sich wohl beziehen, anspricht. Diese Theorie redet über das Verhältnis von ‚Sein und Bewusstsein‘, rezipiert jedoch den theoretischen Zusammenhang von K. Marx, auf den sich die Theorie beruft, falsch. Bewusstsein ist immer bewusstes Denken. Der Verstand ist keine geistlose Fläche, auf der sich ‚Sein‘ bloß widerspiegelt; mit Notwendigkeit schon gar nicht. Aber meinen Sie nicht auch, dass die Erörterung dieses Zusammenhangs etwas vom Thema weg führt?
GRAMS: Nein, ich denke nicht, dass uns der Begriff der Widerspiegelung vom Thema wegführt. Wenn wir einer gesellschaftlichen Institution den Charakter zuschreiben, so beschaffen zu sein, wie die je aktuellen Herrschaftsverhältnisse beschaffen sind, eröffnen sich ganz praktische Dimensionen. Dann wird deutlich, warum die Schule Kinder sortiert. Es wird deutlich, warum sich mit der Industriegesellschaft die Dreigliedrigkeit des Schulwesens herausbildete. Es wird deutlich, warum Kinder mit Behinderungen in Sondereinrichtungen be-sondert werden, wie sie auch in der Arbeitswelt als Arbeitskraft minderer Güte be-sondert werden. Dann wird erklärbar, warum der Lehrerinnen- und Lehrerberuf den Beamtenstatus besitzt, dem ein Referendariat vorangestellt wird, das von vielen zukünftigen Pädagoginnen und Pädagogen als Einrichtung des Zurichtens und Sortierens erlebt wird – des Zurichtens auf einen Schulbetrieb, in dem sortiert wird. Der Begriff der Widerspiegelung, den Marx in der Deutschen Ideologie quasi vorbereitet, könnte aber auch erklären, warum die Schule sich für die demokratischen Kräfte einer Gesellschaft unter historisch günstigeren Bedingungen graduell zu verändern vermag. Ihre Beispiele von Oskar Negts Glockseeschule in Hannover und den vielen weiteren Alternativen, die ihre Geburtsstunde in den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten, belegen dies, wie auch ihr Nischendasein bzw. ihr Niedergang unter ungünstigeren gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen.
Lassen Sie mich auf Ihre Überlegungen zu den Nachhilfeeinrichtungen zurückkommen, die sich in der Tat in einem rasanten Aufschwung befinden. In dem Maße, in dem die Schule Kinder ob ihrer vermeintlich geringeren Leistungen aussortiert, wird dies zum Geschäftsmodell gemacht und die Eltern, die es sich noch leisten können, investieren in die Steigerung der Leistungsfähigkeit ihrer Kinder. Gesellschaftliche Krisen, drohender sozialer Abstieg und Armut befeuern den Wunsch nach größerer Leistungsfähigkeit des Kindes. Das verspricht Profite für jene, die Angst vor dem sozialen Abstieg des Kindes für ihren Gewinn nutzen – eine präzise Abbildung der herrschenden Verhältnisse. Welche Empfindungen aber machen sich in einem Kind breit, das den Anforderungen nicht genügt, die in der Schule gestellt werden? Welche Empfindungen breiten sich in einem Kind aus, das erlebt, wie vermeintliches Unvermögen mit pekuniären Mitteln ausgeglichen werden soll? Die Literatur bietet eine Fülle an Beispielen für dieses Leiden: Am deutlichsten wird die Zerreißprobe für Kinder in Hermann Hesses „Unterm Rad“ beschrieben und in Alfred Andersch „Der Vater eines Mörders“. Bei Hesse begeht der in der Schule Gescheiterte Suizid. Alfred Andersch beschreibt autobiographisch eine Unterrichtsstunde bei Oberstudiendirektor Himmler, dem Vater des späteren Reichsführers SS. Er erlebt Demütigung und Ausschluss.
Welches Erleben macht sich in den Kindern breit, die aussortiert worden sind? Was hinterlässt die Konkurrenzbeziehung im Denken und Fühlen?
HUISKEN: In der Tat stellt die Klärung Ihrer Frage eine wichtige Ergänzung meiner Ausführungen zur Schule als Sortierungsinstitution dar. Dazu gleich.
Ihre Anknüpfung an meine kurze Bemerkung zur „Widerspiegelung“ möchte ich aber, wie Sie sich sicher vorstellen können, nicht unwidersprochen lassen. Sie ordnen diese Theorie in Zusammenhänge ein und benutzen sie für Urteile, bei denen sie m.E. gar nichts zu suchen hat. Die Widerspiegelungstheorie nimmt ein geistiges Abbildungsverhältnis zwischen Bewusstsein und Sein an und bestreitet – in ihren radikalen Varianten –, dass es autonomes Denken überhaupt gibt. Letzteres kann und will ich Ihnen nun wirklich nicht ankreiden. Aber dass das Schulsystem und die kapitalistische Gesellschaft in einem Abbildungsverhältnis stehen, behaupten Sie dann schon. Ein geistiges kann es nicht sein, wenn wir von gesellschaftlichen Einrichtungen handeln. Aber selbst die reduzierte Auffassung Ihres Arguments, demzufolge – so verstehe ich Sie – sich in der Schule Elemente wiederfinden lassen, die es in der kapitalistischen Gesellschaft auch gibt, wie z.B. die Pflichterfüllung, die Konkurrenz nebst ihren Aussortierungsvorgängen, Unterwerfung unter Vorgaben, das Prinzip von Befehl und Gehorsam etc., erlauben weder den Schluss, dass sie diese Sachverhalte in der Schule finden lassen, weil es sie auch in der Gesellschaft gibt, und erst recht nicht, dass sie deren notwendiges ‚Abbild‚ sind. Denn erstens haben all die genannten Elemente ihren eigenen Grund, den es für sich zu ermitteln gilt – mit der Schulpflicht will der Staat Zugriff auf alle Kinder sicher stellen, Lehrplanvorgaben sollen ganz bestimmte geistige Kost in den Kinderköpfen verankern, in der Schule gelten Staatsvorgaben unbedingt, weswegen es zu ihrer Erledigung des Beamten braucht usw. –, zweitens gibt es in gleichgearteten Ländern Schulen ohne verbindliche Schulpflicht, ohne verbeamtete Lehrer und ohne jene Vorsortierung, wie sie in der hiesigen Schule praktiziert wird, und drittens findet hier inzwischen auch Inklusion statt, werden immer mehr Lehrer nicht ins Beamtenverhältnis übernommen etc.
Jetzt aber zu Ihrer Frage, die mir ebenfalls wichtiger ist. Für alle Schüler gilt nämlich, dass die Sortierung nicht nur die Verteilung von Schülern auf Bildungskarrieren leistet, sondern zugleich ein ganz eigenes Erziehungsprogramm enthält: Gelernt, eingeübt und ‚fürs Leben‘ internalisiert wird zunächst der Standpunkt, dass nicht so sehr die geistige Aneignung des Schulstoffs zählt, sondern dass man so lernen muss, dass man im bewerteten Ergebnis besser ist als Mitschüler. Das hat die bekannten Folgen fürs Lernen, die der Kenntnis der Sache nicht gut bekommen: Man lernt auswendig, man lernt nicht zu früh, um nicht wieder alles vergessen zu haben, wenn die Arbeit ansteht, aber auch nicht zu spät, damit man mit dem verlangten Stoff durchkommt. Die Schülerfrage, was denn in der Arbeit ‚dran komme‘, belegt zusätzlich diese anerzogene Gleichgültigkeit gegenüber dem vorgegebenen Lerninhalt und erst recht gegenüber seinem Wahrheitsgehalt. Man lernt daran, dass Mitschüler immer zugleich Konkurrenten sind, die einem potentiell die bessere Bewertung bestreiten: Freunde sind dann die, die abschreiben lassen, und verdorben haben es mit dem Schüler diejenigen Mitschüler, die sich – warum wohl? – weigern, ihre richtigen Ergebnisse mit dem schwächeren Schüler zu teilen. In der Konkurrenz zählt nur, was von oben an stofflichem Inhalt und Lernverfahren vorgegeben ist. Schülerinteressen an anderen Urteilen und Inhalten haben im Unterricht keinen Platz bzw. nur dann, wenn sie sich doch noch irgendwie mit dem Lehrplan vereinbaren lassen oder dem Lehrer bei Schülern folgenlos Bonuspunkte eintragen. Eine solche Erziehung zur Unterwerfung unter alle Vorgaben von Schule und Lehrerschaft ist der Kern aller Konkurrenztugenden. Mit denen bin ich aber immer noch nicht fertig: Was einem auch in Fleisch und Blut übergehen sollte ist die Lehre, dass der Konkurrenzerfolg trotz aller individuellen Anstrengungen nicht in der Hand der Konkurrierenden liegt; und zwar deswegen, weil die Bewertung immer eine vergleichende ist, die damit ihr Maß in Leistungen einer gesamten Schülerpopulation hat. Es gehört also zum ausgebildeten Konkurrenzsubjekt dazu, dass es ihm zur Gewohnheit zu werden hat, sich von Konkurrenzbewertungen ‚überraschen‚ zu lassen – ob sie einem nun passen oder nicht. Schließlich ist festzuhalten, dass zugleich moralische Tugenden eingeübt werden. Denn Einsprüche gegen Konkurrenzresultate werden überhaupt nur gehört, wenn sie auf Fehler im Konkurrenzverfahren verweisen, immanente Ungerechtigkeiten vortragen können, also das eigene Interesse in einen vom Lehrer zwar geachteten, aber deswegen von ihm noch längst nicht befolgten Einspruchsgrund verwandeln.
Dies ist überdies eine ganz grundsätzliche Lehre ‚fürs Leben‘: Interessen gelten für sich nichts, sie müssen berechtigt, also gehörig sein, also in die vorherrschende Moralität des Rechtssystems passen, wenn sie überhaupt Gehör finden wollen. Dass sich aus Vortrag nebst Anhörung von Einspruch oder Kritik bei Zuständigen – wer mag dazu wohl gehören? – dann nichts anderes ergibt, als es den Zuständigen zu überlassen, inwieweit ein Einwand ernst genommen und ob der kritisierte Sachverhalt korrigiert wird, kennt man. Allerdings nicht als die selbst erklärte Unmündigkeit, die es ist, sondern als erlaubte Freiheit. Allein die Möglichkeit des Vortrags eines um seinen eigentlichen Inhalt gebrachtes Interesse ist hierzulande für Viele schon der Inbegriff des demokratischen Wertesystem – weil: woanders darf man das ja nicht.
Ich muss noch etwas hinzufügen: Das ist das Erziehungsprogramm. Es gehört zu dem sogenannten „heimlichen Lehrplan“, der in keinem Curriculum so verzeichnet steht – was jedoch seiner Wirksamkeit keinen Abbruch tut. Es sei denn, der eine oder andere Schüler macht das nicht mit. Und dafür gibt es die genannten guten, aber auch schlechte Gründe. Es darf nämlich dann, wenn diese Standards zum Erziehungsprogramm gehören, nicht wunder nehmen, dass Schüler sich die immer noch in der universitären Lehre und deswegen im Kopf von Lehrern vorhandenen begabungstheoretischen Fehldeutungen von Erfolg und Misserfolg in der Lernkonkurrenz einleuchten lassen; und entweder an ihrer angeblich schuluntauglichen inneren Anlage ernsthaft und manchmal sogar suizidal verzweifeln oder sich den gesellschaftstauglichen Fehlschluss zu eigen machen, für jedes Missgeschick und für alle Beschädigungen, die ‚das Leben‘ unter dem Zweck des Geldverdienens für sie bereit hält, sich selbst als den Schuldigen auszumachen; was auf Dauer der pädagogisch erwünschten ‚Resilienz‘ erheblichen Abbruch tun kann.
Wenn Schüler zugleich zum Individualkult angehalten werden, sich als Selbst beweihräuchern sollen – und auch das gehört zu diesem Erziehungsprogramm –, dann sind noch ganz andere Übergänge zu beobachten als diejenigen, auf die es der Pädagogenschaft dabei ankommt. So ein Selbst – diese gänzlich leere psychologische Erfindung, mittels derer der Mensch sich die Gesellschaftstauglichkeit als seine Bestimmung zurecht legen soll – kann nämlich auch mal ganz andere Wege gehen. Wer etwa von früh an dazu angehalten wird, in seine Schulhefte auf der ersten Seite den Spruch „Ich bin wertvoll“ zu kritzeln – wofür es auch noch eine Fülle anderer Techniken gibt –, der kann auch schon mal auf die Idee kommen, dass die Schule mit ihren dauernden Misserfolgsbescheinigungen seinem wahren Selbst nicht gerecht wird. Dass so ein Schüler es denn der Schule auf seine Weise zeigen will, dass er ein cooler Typ ist, ein Siegertyp eben, weiß man. Es muss nicht gleich der Amoklauf sein, zu dem das beleidigte Selbstbewusstsein greift. Das Angeben vor Mitschülern und Lehrern kennt eine Fülle anderer Wege, sich ganz außerhalb der erwünschten sozialen Bewertung wenigstens mal als king zu fühlen.
GRAMS: Wenn ich Ihre Ausführungen zuspitze, ist der zentrale Charakter der Schule die Sortierung der Kinder und Jugendlichen. Diese Sortierung ist zugleich der heimliche Lehrplan, ja der eigentliche Charakter der Institution Schule: Gelernt werden soll, besser zu sein als die Konkurrenz; gelernt wird, dass der Mit-Schüler, die Mit-Schülerin, nicht zugleich Mitmensch ist. Dann wird der Konkurrent, die Konkurrentin zur potentiellen Gegnerin. Eine gewisse Parallelität zu gesellschaftlichen Konkurrenzverhältnissen ist nicht zu leugnen. Auf sie soll ja auch vorbereitet werden. Non scholae sed vitae discimus lautete der erste im Lateinunterricht erworbene Satz. Er war eine Lüge: Seneca, dem dies als Zitat untergeschoben wird, schrieb in einem Brief an Lucilius, dass es umgekehrt sei, nicht für das Leben lernten wir, sondern ausschließlich für die Schule. Sie, Herr Huisken, sagen, wir lernten in der Schule viel für das Leben: Konkurrenzfähigkeit, die Fähigkeit auszuschließen und Ausschluss zu ertragen, Misserfolge als eigene Unfähigkeit zu akzeptieren und zu individualisieren und damit zugleich die Menschen zu entsolidarisieren. Unter diesen Bedingungen entsteht die ‚Fähigkeit‘ der Unterwerfung und die Fähigkeit andere Menschen zu unterwerfen, zu diskriminieren. Ich besuchte gemeinsam mit zwei Freunden das Gymnasium. Wir wuchsen in einem Stadtteil auf, in dem die meisten Väter im großen Gummiwerk arbeiteten, um das sich das Wohngebiet gruppierte; ein Arbeiterviertel, genannt „Die Conti“. Der Mathematiklehrer holte uns regelmäßig gemeinsam mit den Worten an die Tafel, „nun werden wir sehen, was die Jungs aus dem Conti-Viertel können“. Er führte uns vor. Ich erinnere zuerst Bemühen, dann Angst, später Schnee im Kopf und zum Schluss Wut und Unbotmäßigkeit. Ich erinnere hämisch lachende Gesichter, aber auch Beschämung und Solidarität. Meine Schulzeit liegt ein halbes Jahrhundert zurück. Jahrzehnte später war ich als Leiter einer Schule noch genötigt, gedemütigte Schülerinnen und Schüler aufzufangen und mit Lehrerinnen und Lehrern so zu arbeiten, dass auch mit ihnen Veränderungen möglich wurden. Diese Ausgrenzungsprozesse beschreibt auch Didier Eribon in seinem Buch ‚Rückkehr nach Reims‘. Er beschreibt eindrücklich seinen Widerstand gegen die Ausgrenzungen, die ihm widerfuhren. Ich erlebte es bei meinen Schülerinnen und Schülern und ich erinnere es in Bezug auf meine Kindheit: ich störte den Unterricht, ich widersprach, ich ‚kasperte‘, ich widersetzte mich meinen jeweiligen Entwicklungsbedingungen entsprechend.
An der Universität Bremen, an der Sie bis zu Ihrer Emeritierung lehrten, entwickelten Ihre Kollegen Georg Feuser und Wolfgang Jantzen für die von Ihnen beschriebenen Prozesse den Begriff der Isolation. Isolation sei die Einschränkung der Möglichkeit der Aneignung des gesellschaftlichen Erbes, so eine kürzeste Definition. Sie beschreiben diesen Vorgang in unserem Gespräch eindrücklich, wenn Sie deutlich machen, dass Schülerinnen und Schüler in den obwaltenden Strukturen Gleichgültigkeit gegenüber den Lerngegenständen entwickeln. Ich bin geneigt, hier den Begriff der Entfremdung zu nutzen: Der Lerngegenstand wird ihnen entfremdet, sie selbst werden verdinglicht. Ein entsetzlicher Befund: Die Institution, die eine lustvolle Aneignung der Welt ermöglichen soll, bereitet zukünftige Erwachsene auf die Entfremdung von ihren Produkten vor, indem sie die Freude an der Befassung mit der Welt nimmt und damit zugleich die Freude am Erkennen der Welt. Oder bewegt sich die Schule als Institution in dem immanenten Widerspruch zwischen einer Institution, die Weltaneignung ermöglichen könnte, aber zugleich in die Hierarchie einer arbeitsteiligen und auf sozialer Ungleichheit basierenden Welt einführen muss? Wenn dieser Widerspruch existiert, muss er auch in jenen existieren, die in den Schulen arbeiten. Das könnte erklären, warum in den Kollegien Männer und Frauen den Kampf gegen die Windmühlenflügel der Institution aufnehmen. Das könnte vielleicht auch erklären, dass selbst in denen, die guten Willens eine andere, eine bessere Schule wollen, die Funktion der Schule wie Sie sie beschreiben – verankert ist.
Gleichwohl gibt es nicht erst seit Rousseau, Pestalozzi oder Basedow mit seinem Philanthropinum Gegenmodelle. Berührende reformpädagogische Bemühungen, wie die Schule Berg Fidel in Münster, bestehen neben traditionellen Gymnasien, die es als Erfolg verbuchen, dass sie nicht von behinderten Schülerinnen und Schülern besucht werden, wie dies in Bremen geschah. In jedem Kollegium jeder Schule ist dieser Widerspruch erkennbar. Ist das Neue in der pädagogischen Arbeit ein Hebel, um tatsächlich Neues zu schaffen, oder ist es „Ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“? Oder anders: warum sind es oft jene, die unter der Schule litten, um dann die Pädagogik zu ihrem Beruf zu machen?
HUISKEN: Es bleibt erneut dabei: Ehe ich mich Ihrer Schlussfrage zuwende, nötigt mich Ihre Zusammenfassung dazu, einige Klarstellungen vornehmen.
Zunächst zur Konkurrenz. Auch die Lernkonkurrenz ist nicht zu haben, ohne dass die Schule sie nicht zugleich durch Erziehungsmaßnahmen ergänzt, mit denen auf Mäßigung jener Gegensätze gedrungen wird, die jede Konkurrenz mit sich bringt. So gibt es z. B. Gruppenarbeit mit dem Imperativ, sich wechselseitig bei der Aufgabenerledigung zu helfen – ein Imperativ, der dann, wenn es bei Klassenarbeiten ernst wird, sofort aus dem Verkehr gezogen wird –; auf die Bildung einer Klassengemeinschaft wird Wert gelegt, Mobbing mit Disziplinarmaßnahmen belegt, neuerdings wird auch per Inklusion auf Anerkennung von den und Respekt vor den ‚Schwächeren‘ Wert gelegt usw. Damit durch die Erziehung zum Konkurrenzsubjekt, das ganz auf die individuelle Verfolgung seiner Interessen bei vorgegebenen Zielen und Verfahren festgelegt wird, das Gegeneinander der Konkurrierenden nicht auch noch den übrigen schulischen Lernprozess bestimmt – wodurch wie Lehrerklagen belegen, schon mal der gesamte Unterricht sabotiert werden kanni –, braucht das Konkurrenzsubjekt die Einführung in die daneben zu befolgenden Ideale der Mitmenschlichkeit. Die bleiben genau das, was sie sind, nämlich moralische Ideale, die nur dann abgerufen werden, wenn es notwendig ist, Schüler zur Zügelung bei der Beteiligung an dem Konkurrenzgetriebe aufzurufen. Sie müssen eben beides lernen – gerade auch für ‚das Leben‘ nach der Schule: Da hat das auf Konkurrenz verpflichtete Privatsubjekt sein freigesetztes Erfolgsstreben bei der Verfolgung der ihm aufgenötigten Geldinteressen mit der gebotenen Portion ‚Anstand‚ gegenüber denjenigen zu betreiben, die ihm bei der Sicherung seines Eigennutzes im Wege stehen. Ein Widerspruch, aber einer, um den sich in dieser Gesellschaft notwendigerweise bemüht werden muss – wie jenen Rechtsvorschriften zu entnehmen ist, die greifen, wenn Bürger es bei der Wahrnehmung dieser Sorte Freiheitslizenz in der Konkurrenz übertreiben.
Es könnte damit zugleich deutlich geworden sein, warum ich der theoretischen Einordnung der Folgen der schulischen Sortierung – nach Feuser und Jantzen – als „Isolation“ii, die auf die „Einschränkung der Möglichkeit der Aneignung des gesellschaftlichen Erbes“ verweist, nicht zustimmen kann. Es spricht nichts dagegen, sich im geistig freien Raum einmal kreative Gedanken darüber zu machen, wie man sich eine gute Schule vorstellt. Doch wenn man die realexistierende Schule erklären will, dann reicht es nicht aus, das, was in der Schule mit Schülern angestellt wird, als Abwesenheit bzw. Einschränkung von etwas bloß Möglichem, also nur logisch negativ zu bestimmen. Kommt es nicht in erster Linie darauf an, zu ermitteln was und zu welchem Zweck hierzulande so, wie wir es in unserem kritischen Gespräch zusammengetragen haben, mit dem Nachwuchs umgegangen wird? Was nützt eine theoretische Konstruktion, welche die Schule an etwas misst, was sie sogar zugestandenermaßen gerade nicht leistet und auch gar nicht leisten soll? Liegt dabei nicht immer der Übergang nahe, diese idealen Maßstäbe als den eigentlichen Auftrag der Schule zu unterstellen, an dem sie bloß versagt? Dabei versagt diese Schule nicht, sie steht im Kapitalismus für einen gänzlich anderen Zweck; und der hat mit der „Aneignung des gesellschaftlichen Erbes“ – was selbst noch, höflich formuliert, eine sehr ausdeutungsfähige Sentenz darstellt – nichts zu tun. Der Skandal der Schule liegt nicht darin, dass Schülern etwas entgeht, sondern darin, dass sie für den Dienst in einem ökonomischen und politischen System funktional erzogen werden, das – wie nicht nur der aktuelle Krieg gerade mehr als anschaulich macht – der Mehrheit der in ihm lebenden Menschen nicht gut bekommt.
Damit bin ich bei meiner letzten Klarstellung. Ich sehe in der Sortierungsfunktion der Schule nicht ihren „eigentlichen Charakter“. Schule hat vielmehr drei zentrale, sich ergänzende Funktionen zu erfüllen: Da ist die – hier von uns behandelte – Sortierungsfunktion, mit der der Schüler zum Konkurrenzsubjekt erzogen wird. Sie wird komplettiert durch das, was ich die Verdummungsfunktion der Schule nennen möchte. Sie stattet den Nachwuchs vor allem mit Ideologien und Moral aus, die zwar nichts als falsche Urteile über ihr Leben hierzulande darstellen, aber brauchbar sind, um sich die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, unter Absehung von all dem, was in ihnen den Menschen abgefordert und ihnen angetan wird, als ihm letztlich nützliche Lebensumstände zurechtzulegen. Sie mündet in der Erziehung zur nationalen Identität. Sich ganz selbstverständlich als Deutscher zu fühleniii und sich der deutschen Staatsführung geistig und praktisch zu akkommodieren, das zeitigt zurzeit seine Wirkungen, wo deutsche Bürger mit absoluter Mehrheit für Krieg und für die deutsche Beteiligung an ihm plädieren, also für das Abschlachten von Menschen und die Zerstörung von all dem, was Menschen aufgebaut haben, Partei ergreifen, wenn der Krieg nur gegen den von der nationalen Führung vorgeführten ‚richtigen‘ Feind geht. Schließlich erfüllt die Schule noch eine Aufbewahrungsfunktion, deren Bedeutung in den vergangenen Jahren der Pandemie überdeutlich wurde. Wie sollten Eltern ihren Dienst, dessen Erträge sie bekanntlich nicht selten zur ‚Doppelverdienerei‘ nötigen, in Fabriken, Büros, Supermärkten, Krankenhäusern usw. erfüllen, wenn es nicht eine Einrichtung gäbe, in der ihre Kinder – immer häufiger – ganztäglich betreut aufbewahrt werden? Man stelle sich vor – und das haben Schulpolitiker in der Pandemie als Schreckgespenst an die Wand gemalt –, Kinder würden in der Zeit, in der ihre Altvorderen ihre Dienstherren reich machen, allein auf sich gestellt sein! Würde nicht die Gefahr bestehen, dass sie hilflos dem Sumpf von Kriminalität, Drogen, Gewalt und Alkoholismus ausgeliefert wären – so das Schreckgespenst, das auch ein hübsches Urteil über hierzulande durchaus verbreitete Lebensverhältnisse enthält.
Wenn Sie am Ende nun fragen, ob es nicht in der Schule und in ihren Zwecken einen „immanenten Widerspruch (gäbe) zwischen einer Institution, die Weltaneignung ermöglichen könnte, aber zugleich in die Hierarchie einer arbeitsteiligen und auf sozialer Ungleichheit basierenden Welt einführen muss“, daneben aber – so habe ich Sie wenigstens verstanden – behaupten, dass „in jedem Kollegium jeder Schule … dieser Widerspruch erkennbar“ sei, ihn also in gegensätzliche Auffassungen von Lehrern zur Schule verlagern, dann dementieren Sie selbst so etwas wie eine in der Sache objektiv verankerte Widersprüchlichkeit. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie gute Wünsche und vernünftige Schulvorstellungen von Lehrern als die der Sache ‚Schule‘ selbst eigenen ‘Möglichkeiten‘ anheften möchten. Das fällt selbst unter Wunschdenken!
Ihre Schlussfrage, warum so häufig gerade Menschen, die unter der Schule gelitten haben, Erzieher werden, ist damit auch eigentlich schon beantwortet. Offenkundig gehören die immer noch zu den gut Erzogenen, die sich nicht im Traum vorstellen können, dass die Schule genau das, was sie an ihr stört – Notenterror, Chancenungleichheit, Zeitdruck, Sortierung und Lehrer, die als deren Charaktermasken agieren usw. -, auszeichnet. Sie sind gut erzogene Idealisten, die der Führung dieses Landes nicht zutrauen, dass sie schulpolitische Gründe hat, mit Kindern in der von uns kritisierten Weise umzugehen – natürlich nur zu ihrem Besten, erklären sie. Diese Sorte Idealismus ist also ohne Vertrauen in nationale (Schul-)Politik nicht zu haben. Seitdem es diese Schule gibt, gibt es folglich auch immer diese Lehrer, die „es besser machen“ wollen. Merkwürdig ist das schon: Wo ständig aufs Neue dieser Bedarf artikuliert wird, muss man der hiesigen Staatsschule zumindest das Zeugnis ausstellen, dass sie ziemlich resistent ist gegen Ansprüche dieser pädagogischen Idealisten. Sie bleibt, was sie ist, leistet ihre drei Funktionen und modernisiert sie regelmäßig. Die reformbemühten Lehrer konvertieren schließlich massenhaft zu Realisten; was nur dafür steht, dass sie ihrem Kopf schon lange nicht mehr zutrauen mögen, nur einmal der schlichten Frage nachzugehen, warum diese Schule so ist wie sie ist.
GRAMS: Wenn ich Ihre Bücher nicht kennen würde, Ihre vielfältigen Aussagen zur Notwendigkeit des politischen Handelns gerade für Lehrerinnen und Lehrer auch außerhalb der Schule, damit diese Schule nicht bleibt, wie sie ist, ließen mich Ihre Ausführungen glauben, sie würden empfehlen, sich der Arbeit in gesellschaftlichen Institutionen zu enthalten, weil besonders in der Institution Schule sonst notwendig Herrschaft perpetuiert wird. In Ihren Büchern argumentieren Sie, dass wir im Hier und Jetzt wirken und es gemeinsam verändern müssen – auch um der Diskriminierung in und durch die Schule entgegen zu wirken.
In unserem Gespräch tat sich ein Dissens auf. Er betrifft vornehmlich die Einschätzung der Schule als gesellschaftliche Institutionen, die den Charakter besitzt, den diese Gesellschaft ausmacht: Sie ist eine auf dem Prinzip der Konkurrenz basierende. Brecht sagt es so: „Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen!“ Tatsächlich realisiert die Schule ein gestriges Prinzip, wenn wir Konkurrenz anstelle von Solidarität als rückwärtsgewandt definieren. Menschen benötigen jedoch für ihre Entwicklung, für das Lernen und die Kreativität soziale Aufgehobenheit, Integration, Dialoge – Menschen, die ihnen Mitmensch sind. In der Schule – wie in jeder gesellschaftlichen Institution – koexistieren das Prinzip der Konkurrenz und der Diskriminierung als Abbild herrschender Verhältnisse neben Mitmenschlichkeit, Unterstützung des Anderen, Dialog als Abbild des Bedürfnisses des sozialen Wesens Mensch. Herr Huisken, Ihre radikale Kritik an der Institution Schule ist hilfreich für ihre notwendige Veränderung. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Anmerkungen:
iVgl. F. Huisken, Über die Unregierbarkeit des Schulvolks, VSA 2007, S. 11 ff.
ii„Isolation“, das meint ja wohl eine Lage ohne jeden menschlichen Kontakt wie etwa in der Einzelhaft, trifft die Sache nicht. Sortierung per Konkurrenz unterstellt immer den Kontakt mit Gleichinteressierten, die um ‚knappe Güter‘ streiten. Der Begriff mag allenfalls als Bild für das Gefühl von Aussortierten durchgehen.
iiiVgl. dazu F. Huisken, Flüchtlingsgespräche 2015ff, VSA 2020,S. 69 ff.