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Der Anwalt als soziale Gegenmacht

vorgängevorgänge 2910/1977Seite 78 - 87

Über die Notwendigkeit einer freien Advokatur und über ihre Gefährdung in der Bundesrepublik

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 78 – 87

In der gegen­wär­tigen erhitzten Ausein­an­der­set­zung über den Terrorismus gerät das Recht auf freie Advokatur mehr und mehr in Gefahr. Es wird weithin vergessen, daß Vertei­di­ger­rechte nicht so sehr den Anwälten als den Bürgern nützen. Der Anwalt muß nämlich der recht­spre­chenden Staats­ge­walt gegenüber frei sein, der er täglich entge­gen­tritt. Er ist für den Prozeß der Rechts­fin­dung nicht weniger wichtig als die Strafe fordernden und zumessenden Justi­z­or­gane.

Bedrängte Anwaltschaft

Jede Terroristenuntat wird bei uns mit der Forderung beantwortet, anwaltliche Befugnisse zu beschneiden, etwa die Verteidigerzahl zu beschränken, den Verkehr zwischen Verteidiger und Mandanten zu überwachen, richterliche Möglichkeiten zu erleichtern, Anwälte aus Prozessen auszuschließen oder die Rechte zu beschränken, Richter wegen Befangenheit abzulehnen und Beweismittel in den Prozeß einzuführen. Dabei wissen selbstverständlich auch die durchaus sachkundigen Politiker, die dieses fordern, daß wohl keine einzige politische Gewalttat durch solche Mittel verhindert hätte werden können. Gewiß scheint es Verdachtsgründe gegen ehemalige Rechtsanwälte, wie Siegfried Haag oder Jörg Lang zu geben, sie seien an Terroraktionen beteiligt gewesen. Wenn dem so ist, so begingen sie ihre Taten nicht in anwaltlicher Berufsausübung. Geriet ein Arzt, wie z.B. Karl-Heinz Roth in einen ähnlichen (wie inzwischen durch richterliches Urteil feststeht, ungerechtfertigten) Verdacht, so erhob niemand deshalb die absurde Forderung, die Freiheit ärztlicher Berufsbetätigung einzuengen. Allerdings gibt es auch Vorwürfe der Bundesanwaltschaft gegen einige wenige Rechtsanwälte, sie hätten in dieser ihrer Eigenschaft als Rechtsanwalt terroristische Unternehmungen unterstützt. Aber einmal fehlen jedenfalls bisher dafür Beweise, die in einem Gerichtsverfahren standgehalten hätten. Zum anderen gibt es keinen schlüssigen Grund, warum deswegen über 25.000 Rechtsanwälte in ihrer Berufsausübung beschränkt werden sollten.
Dennoch geben auch die Regierungsfraktionen, wenngleich zögernd und mit schlechten Gewissen ihrer Abgeordneten, zunehmend jenen Forderungen der Opposition nach. Man wird daraus schließen dürfen, daß das Motiv Beschwichtigung der Bürger sei. Da niemand, am wenigsten aber Polizeistaaten, ein wirksames Rezept gegen politischen Terrorismus hat, scheint hier wenigstens ein zwar wirkungsloses, doch tröstliches
Hausmittel gefunden: Die Anwaltschaft wird zum Prügelknaben der Nation. Was mag sie auf die nächste Terroristenuntat hin erwarten?

Vertei­di­ger­rechte dienen dem Bürger

Die Öffentlichkeit sollte das nicht zu gelassen hinnehmen. Verteidigerrechte sind nicht den Rechtsanwälten, sondern dem Bürger zuliebe da. Jeder Bürger, auch der Unschuldige, kann in den Verdacht einer Kriminaltat und damit in Untersuchungshaft geraten. Er ist dann aber auch auf den Anwalt seines Vertrauens angewiesen. Die Freiheit der Advokatur gewährleistet wie die Freiheit der Presse oder wie richterliche Unabhängigkeit die staatsbürgerlichen Freiheitsrechte. Absurd erschiene es, wollte man, wenn vielleicht 12 Richter in den Verdacht geraten, aus politischen Motiven das Recht gebeugt zu haben, alle anderen Richter der Kontrolle anwaltlicher Berufsgerichte unterstellen. Absurd wäre es, wegen gelegentlichen Mißbrauchs der Pressefreiheit etwa die journalistische Berufsausübung allgemein der Kontrolle zum Beispiel der Strafsenate der OLG zu unterwerfen. Wo ist der Staatsnotstand, der wirksam dadurch bekämpft werden könnte, daß man zu Lasten aller künftig, wenngleich vielleicht unschuldig verdächtigten Staatsbürger die anwaltliche Unabhängigkeit beschneidet? Man kann den Rechtsstaat gegen Angriffe nicht gut dadurch verteidigen, daß man ihn scheibchenweise aufgibt.

Gilt noch das Prinzip der Freiheit der Advokatur?

Dennoch haben Gesetzgeber und Gerichte eine Lage geschaffen, in der man sich die Frage stellen muß, ob es in der Bundesrepublik noch das Prinzip der Freiheit der Advokatur gibt.
Darf ein Rechtsanwalt durch – notfalls extensiven – Gebrauch der gesetzlichen Schutzrechte seiner Prozeßpartei die Justiz hemmen, etwa einen befangenen Richter so oft ablehnen, bis dieser sich nicht mehr halten läßt, oder darf er trotz richterlichen Mißvergnügens unbeirrt die Verhandlungsunfähigkeit des eigenen Mandanten geltend machen? Der Prozeßordnung nach schon, aber darf er es ohne Angst vor Sanktionen, Ausschließung, Entpflichtung, Ehrengerichtsanklagen, Mißbilligung durch die eigene Standesorganisation? Er darf es, und sogar unter Beifall der Öffentlichkeit, z.B. im „Schalke-Prozeß” gegen Siebert, Aldenhoven, Libuda und neun andere wegen Meineides vor der Strafkammer in Essen 1975. Er darf es unter Billigung des Publikums z.B. auch im Majdanek-Prozeß gegen 14 ehemalige SS-Angehörige wegen Mordes an mindestens 250.000 Juden, Kriegsgefangenen und Widerstandskämpfern bzw. deren Frauen und Kindern vor dem Landgericht Düsseldorf, dessen Ende nicht abzusehen ist. Er darf es hingegen z.B. nicht (und muß außer den angegebenen Sanktionen noch mit Diffamierung durch seine Berufsgenossen als „schwarzes Schaf”, mit Kündigungen der gemieteten Praxisräume und von Mandaten und existenzbedrohenden finanziellen Einbußen rechnen) im Baader-Meinhof-Prozeß in Stammheim vor dem Zweiten Strafsenat Stuttgart.
Ein ebenso sehr zur Anwalts- wie zur Staatsanwalts- oder Richterkritik bereiter, aufmerksamer, nachdenklicher und nüchterner Prozeßbeobachter wie Gerhard Mauz bemerkte über den Baader-Meinhof-Prozeß: „Nur durch totale Unterwerfung hätten die Verteidiger in Stuttgart-Stammheim die totale Konfrontation mit dem Gericht vermeiden und der Empörung der Öffentlichkeit entgehen können … von den Verteidigern wurde erwartet, daß ihnen die Verteidigung des Rechtsstaats wichtiger war als die Verteidigung ihrer Mandanten“‚. Probierstein ist also die Rolle des Verteidigers in derartigen Prozessen.

Freiheit gegenüber dem Gericht

Freiheit der Advokatur als Schutzgarantie für den Bürger gegen die Staatsgewalt kann aber nur als normative Institution verwirklicht werden. Der Rechtsanwalt muß in erster Linie derjenigen Staatsgewalt gegenüber frei sein, welcher er täglich entgegentritt, also der dritten, der rechtsprechenden Staatsgewalt gegenüber. In dem Maße, in dem man anstelle dieser Unabhängigkeit eine Unterworfenheit setzt, schwindet die freie Advokatur.
Wo die Dritte Staatsgewalt dem Rechtsanwalt die Freiheit seiner Berufsbetätigung zwar gewähren, jedoch auch versagen kann, herrscht Abhängigkeit. Der Verteidiger, der nach seiner Bestellung durch den Gerichtsvorsitzenden, weil dieser die Verteidigung als nicht sachgerecht beurteilt, wieder entpflichtet werden kann ( § 141 Abs 4 StPO) oder der z.B. bei dringendem(2) Verdacht der Beteiligung(3) nicht etwa vom anwaltlichen Berufsgericht, sondern vom Strafgericht aus dem Verfahren ausgeschlossen werden kann ( § § 138a ff StPO), verhandelt unter einem Damoklesschwert. Ihm fehlt auch die Gleichberechtigung mit den anderen Rechtspflegeorganen. Sie wäre nur da, wenn umgekehrt über die entsprechenden Ausschließungen von Richtern wegen Besorgnis der Befangenheit allein die anwaltlichen Berufsgerichte zu befinden hätten. Wem dieser Gedanke absurd vorkommt, die Regelung des Anwaltsausschlusses in § 138c StPO aber nicht, der verneint in Wahrheit die Gleichberechtigung der Rechtspflegeorgane.
Man mag einwenden, es handele sich — verglichen mit der Vielzahl von Prozessen — um kaum ins Gewicht fallende Ausnahmen. Für unsere Untersuchung wird es aber immer da von Interesse, wo ein Rechtsanwalt unter dem Druck von Repressionen steht, wenn er von prozessualen Rechten seines Mandanten Gebrauch macht.
Wie der Arzt Krankheit nicht anhand der Körperteile beschreiben wird, an welchen ihre Symptome noch verborgen sind, sondern seinen Blick dorthin wendet, wo sie deutlich hervortreten, so müssen wir die Freiheit der Advokatur dort untersuchen, wo für ihren Gebrauch Nachteile zugefügt werden können. Das ist die Strafverteidigung, vor allem in politischen Prozessen.
Wo Staat, Gesellschaft, Öffentlichkeit den Prozeßausgang mit Gleichgültigkeit oder Nachsicht ansehen, können sie dem Rechtsanwalt leicht Freiheit, sogar Narrenfreiheit lassen. Toleranz wird auch naheliegen, wo die Delinquenten Prügelknaben, für eine Kollektivschuld sind. Rechtskultur wird erst auf die Probe gestellt, wo die Gesellschaft Angeklagte als gefährliche Feinde ansieht, denen man ungern eine Chance läßt.

Die bedenkliche Formel vom „Organ der Rechts­pflege”

Wir wären nicht von deutscher Gründlichkeit, wenn es keine verfassungsrichterliche Theorie für die Beschneidung anwaltlicher Freiheiten gäbe. So hatte zwar das Bundesverfassungsgericht noch im 34. Band seiner Entscheidungssammlung die Anwaltstätigkeit gekennzeichnet als „freien Beruf, der staatliche Kontrolle und Bevormundung prinzipiell ausschließt”. Aber schon im 38. Band klingt es anders: „Ein staatlich gebundener Vertrauensberuf”, eine „amtsähnliche Stellung”. Als Zuchtrute für die Rechtsanwälte erwies sich in jedem Fall die Definition des § 1 BRAO, wonach sie „Organ der Rechtspflege” seien. Dabei wird „Rechtspflege” formal als „Dritte Staatsgewalt”, inhaltlich aber als Pflege eines unveräußerlich in den Sternen hängenden, nicht der Veränderung, sondern eben nur der Pflege bedürfenden Rechts ausgelegt.
Doch formiert sich auch geistige Gegnerschaft gegen diese Rückführung einer freien anwaltlichen Berufsausübung unter berufsrichterliche Kontrolle und in ein staatsnäheres, beamtenähnlicheres Rollenverständnis. Diese Gegenposition muß naturgemäß den Anhängern des Obrigkeitsstaates ihre Zuchtrute entwinden, also jene in der Tat ziemlich gewaltsame Auslegung des § 1 BRAO problematisieren und in Richtung auf das Ziel der wirklich freien Advokatur verlassen. So sind Formeln wie „Organ der Rechtspflege” und „Freiheit der Advokatur”, die jahrzehntelang nur als Arabesken für Festreden dienten, jählings zu Brennpunkten einer geistigen Auseinandersetzung um den freiheitlichen Rechtsstaat geworden. Die Fronten verlaufen freilich anders als die zwischen den politischen Parteien. So hat als einer der ersten RA Kurt Blanke (CDU), Celle, auf die Gefahr einer freiheitsfeindlichen Auslegung des „Organ der Rechtspflege” hingewiesen. Der Begriff schmecke nach Einbau in die staatliche Organisation und könnte „nachher nur gegen die Anwälte gebraucht werden“(4). Die Entwicklung gab Blanke recht. Knapp, Saarbrücken, wies in seiner Schrift „Der Verteidiger – ein Organ der Rechtspflege” nach, daß der unscharfe und mehrdeutige Begriff, erstmals 1893 vom Ehrengerichtshof verwendet und 1935 (!) in den amtlichen Sprachgebrauch des Reichsministers der Justiz übernommen, stets gebraucht worden sei, den Rechtsanwalt in die staatliche Rechtspflege einzubinden, in der Folge anwaltliche Tätigkeit an den Maßstäben staatlichen Handelns zu messen, Rechtsanwälte aus Verfahren auszuschließen oder sonst zu disziplinieren.
Der Präsident der Rechtsanwaltskammer Berlin, Karlheinz Quack, betonte diese Warnung seinerseits in einer Festrede zum 38. Deutschen Anwaltstag 1975, wie auch RA Hans Dahs, Krämer u.a. sich während des Jahres 1975 kritisch damit auseinandersetzten(5). Der in die gleiche Richtung der staatlichen Einbindung gehenden Forderung, Bewerber um die Anwaltszulassung künftig in beamtenähnlicher Weise einer politischen Überprüfung auf etwaige „Radikalität” ihrer Ansichten und Haltungen zu unterziehen, widersetzten sich in der 38. Hauptversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer am 29. 9. 1975 mit liberalen Argumenten vor allem RA Heinz Brangsch, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Anwaltsvereins, und der Präsident der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf, Hans-Konrad Lehne.

Ähnlich­keiten zur DDR-Rechts­ord­nung?

Niemand kann also mit dem Schatten eines Rechts behaupten, hier seien Marxisten wieder einmal dabei, die Axt an eine Wurzel der christlich-abendländischen Kultur zu legen. Vielmehr verhält sich umgekehrt ein sich selbst als marxistisch verstehender Obrigkeitsstaat wie etwa die DDR in dieser Streitfrage genauso, wie unsere Restaurativen es verlangen. Auch die dortige Anwaltschaft hat sich mit der Staatsmacht zu identifizieren. Auch dort hat der Rechtsanwalt als „Organ der Rechtspflege … der Erforschung der Wahrheit und der Rechtsfindung zu dienen”; ist zu enger Zusammenarbeit mit den anderen Organen der Justiz verpflichtet, hat vor allem die Rolle eines Mittlers zwischen Gerichtsentscheidung und Bürger wahrzunehmen. Dem „Rechtsanwalt in der DDR … stehen bei weitem nicht die rechtlichen Mittel zur Verfügung, wie sie ein bundesdeutscher Rechtsanwalt hat, der — wie das Stammheim Verfahren … zeigt — eine Hauptverhandlung unter Umständen monatelang blockieren kann“(6). Auch gibt es in der DDR schon lange fast genau die gleiche politische Klausel für die Zulassung zur Anwaltschaft, die von der parlamentarischen Opposition bei uns neuerdings erst angestrebt wird: Der Bewerber muß „die Gewähr bieten” für sein Eintreten für die staatliche Grundordnung.

Keine Parallele in den westlichen Demokratien zur Bundes­-Rechts­an­walts­-­Ord­nung

Andererseits begreifen die klassischen Demokraten westlicher Prägung den Rechtsanwalt niemals als „Organ der Rechtspflege”, dem nicht vor allem die Hilfe für den Mandanten, sondern „die Aufrechterhaltung der staatlichen Rechtsordnung die Richtschnur seines Handelns” ist. Sie weisen dem Anwalt die Aufgabe zu, dem ihn honorierenden Auftraggeber gegen die bedrängenden Staatsorgane beizustehen. Nur nach obrigkeitsstaatlicher Tradition tritt die Anwaltschaft mit der „Aufgabe, das Recht zu pflegen, an die Seite der Gerichte und Staatsanwaltschaften” (amtliche Begründung zu § 1 BRAO). Ein britischer oder französischer Anwalt würde verständnislos den Kopf schütteln über die Vorstellung, er sei nicht vor allem der Beistand seines Mandanten, der diesem mit allen rechtlich erlaubten Mitteln gegen die Staatsgewalt zu helfen habe, sondern ein staatlich gebundenes und amtsähnliches Organ der Rechtspflege. Die Wirkung dieser These auf auswärtige Juristen kann man nachempfinden, wenn man sich vorstellt, Ärzte würden zu „Organen der Gesundheitspflege”, Architekten zu „Organen der Raumpflege” gemacht.

Die Angst des Staates, „Waffen­gleich­heit” mache die „Rechts­pflege” funkti­ons­un­tüchtig

Dennoch sollte man nicht gleich diejenigen, die die Anwaltschaft bei uns mehr ans Gängelband nehmen wollen, als Gegner der parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts oder gar Anhänger eines bürokratischen Kommunismus ansehen. Bei dem Streit um den Begriff „Organ der Rechtspflege” stehen sich nicht Sozialisten und Kapitalisten gegenüber, sondern Anhänger des Obrigkeitsstaates und des freiheitlichen Rechtsstaates. Dabei geht es nicht um genuine Anwaltsrechte, sondern um Schutzrechte für die Mandanten. Das Recht auf eine durch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher „Waffengleichheit” bestimmte Verteidigung in einem fairen Verfahren gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines Rechtsstaates(7). Sobald man die Flügel der freien Advokatur beschneidet, wird der Schutz des Bürgers vor Fehlgriffen der Staatsgewalt verringert.
Auch handelt der Streit nicht nur um den Organbegriff mit einem unter-schiedlichen Anwaltsverständnis, sondern auch um den Rechtspflegebegriff mit einem verschiedenen Rechtsverständnis. Das wird nicht nur deutlich in der Vorstellung eines Rechts, dessen „Aufrechterhaltung” oder „Pflege” es gilt, sondern auch in dem mißbilligenden Vorwurf, Anwälte würden „durch Ausnutzung formaler verfahrensrechtlicher Positionen die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege in Frage stellen” — so Harald Franzki, Präsident des Oberlandesgerichts Celle(8).
Ausgangspunkt dieser Äußerungen ist die Überzeugung, es gäbe einen Grundkonsens über ein neutrales materielles Recht, den zu verlassen weder Anwälten noch Parteien erlaubt sei; es gelte in jedem Einzelfall in einer Arbeitsgemeinschaft aller Beteiligten das „richtige” Recht unter Hintansetzung vermeintlich geringwertiger „formaler verfahrensrechtlicher Positionen” zu suchen(9).

Der „Roben­streit” als obrig­keits­s­taat­li­ches Paradigma

Dem entspricht, daß deutsche Juristen vom Beginn der Ausbildung bis zum Ende des Berufslebens nicht nur materiales Recht, sondern auch Symbolformen (Roben, Richtertitel, Anreden) sehr viel höher bewerten als die gesetzlichen Verfahrensregeln, wie sie das Offizialverfahren dem — liberaleren — Parteienprozeß vorziehen, wie sie Strafjustiz nicht etwa als Schutz des Angeklagten vor der (Blutrache, Lynchjustiz usw) Gesellschaft, sondern als Schutz der Gesellschaft vor dem Angeklagten begreifen. In der infolgedessen in der Auseinandersetzung um das richtige anwaltliche Rollenverständnis so umstrittenen schwarzen Robe haben wir ein treffliches Beispiel für ein symbolisiertes Gruppenbewußtsein. Es entspricht offenbar deutscher Obrigkeitsstaatlichkeit, daß der Rechtsanwalt, anders als z.B. in der Schweiz, Skandinavien, Österreich usw, sich in der Kleidung möglichst wenig vom Richter und Staatsanwalt, aber möglichst viel vom Rechtsunterworfenen unterscheidet(10). Hierin zeigt sich das allgemeine menschliche Bedürfnis, Zugehörigkeit und Abgrenzung durch Symbole zu fixieren und der Außenwelt kundzutun; das Gruppenbewußtsein wird umgemünzt in gruppenspezifische Kleidung. Nach deutscher Tradition hat der Rechtsanwalt — da Rechtspflegeorgan — sich beruflich mit Richter und Staatsanwalt zu identifizieren, von seinem Mandanten hingegen zu distanzieren(11).

Relikte aus dem NS-System?

Das wurde am deutlichsten im nationalsozialistischen Obrigkeitsstaat ausgedrückt. Die Aufgabe des Rechtsanwalts sollte nach Nummer 120 der Richtlinien für das Strafverfahren „nicht die der Gegnerschaft und des Kampfes, sondern der Ergänzung und der Zusammenarbeit” mit Richter und Staatsanwalt sein. „Richter, Staatsanwalt und Verteidiger sollen Kameraden einer Rechtsfront, sollen gemeinsame Kämpfer um die Erhaltung des Rechts sein” (12).
Dieses militärische Bild ist heute verbal entmilitarisiert und sportlicher geworden: die Gemeinschaftsaufgabe der drei Rechtspflegeorgane soll „das gemeinsame Ringen um das Recht in den deutschen Gerichtssälen” sein — alles andere sei „marxistisches Rollenverständnis (so das Präsidium des Deutschen Richterbundes)(13). Doch verlangt ja auch der amtliche Entwurf zu § 1 BRAO, es müsse „für den Rechtsanwalt die Aufrechterhaltung der staatlichen Rechtsordnung die Richtschnur seines Handelns sein. Mit dieser Aufgabe, das Recht zu pflegen, tritt die Rechtsanwaltschaft an die Seite der Gerichte und der Staatsanwaltschaften”. Als Handlungsanweisung für den Staatsanwalt mag das durchgehen. Als Maxime für einen Rechtsanwalt aber kann es nur der akzeptieren, für den Recht etwas Statisches, Unveränderbares, für ewige Zeiten Richtiges ist. Zu Ende gedacht, bedeutet diese These der amtlichen Begründung, daß neben Richter und Staatsanwalt jeder Verteidiger entbehrlich ist(14).

Die Inter­es­sen­lage der Richter­schaft ist nicht die der Anwälte

Natürlich ist für den Richter eine ihm zuarbeitende Anwaltschaft bequemer als die Notwendigkeit, sich mit einer engagierten anwaltlichen Vertretung des Rechtsunterworfenen auseinandersetzen zu müssen. Insofern kann man für die Repräsentation der Richterschaft durch das Präsidium des Deutschen Richterbundes Verständnis aufbringen. Aber warum versucht dieses der Diskussion um die Funktion der Anwaltschaft in der Gesellschaft auszuweichen, warum blockt es diese durch Tabuierung als „marxistisches Rollenverständnis” ab? Wäre es nicht sinnvoller, eigene Argumente dagegen zu setzen, es sei denn, man habe keine oder vertraue ihrer Durchsetzungskraft nicht? Was verbirgt sich hinter der Figur des „gemeinsamen Ringens” der Rechtspflegeorgane? Warum dieses Unbehagen, wenn der Rechtsanwalt aus dieser Gemeinsamkeit ausscheidet? Wer ist der Gegner dieses gemeinsamen Ringens, der endlich auf die Matte niedergestreckt werden soll? Wäre nicht die Gemeinsamkeit des Ringens zwischen Richter und Staatsanwalt allein schon verdächtig? Sollte der Richter mitringen oder der Unparteiliche sein? Warum kann die Alternative denn nur eine „gnadenlose Auseinandersetzung” sein? Kann sich das Präsidium des Deutschen Richterbundes nicht auch ein „fair trail” wie im anglo-amerikanischen Prozeß vorstellen?

Die Fiktion eines Konsenses zwischen Richtern, Staats­an­wälten und Vertei­di­gern

Das Gesetz hat jedenfalls kein „gemeinsames Ringen” des Richters gemeinsam mit dem Staatsanwalt und dem Rechtsanwalt und keinen „gnadenlosen Kampf” im Auge, sondern richterliche Unparteilichkeit. Die Annahme eines materialen Grundkonsens ist als Fiktion zu entlarven: Die Prozeßbeteiligten dürfen eine unterschiedliche materiale Vorstellung von der Sinnhaftigkeit, Wertigkeit und Rangordnung der Rechtsgüter haben. Der Anwalt hat darum zu kämpfen, daß die rechtsstaatlich formalisierten Verfahrensregeln eingehalten werden. Auch dann, wenn sie „die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege in Frage stellen und den Rechtsstaat in den Augen weiter Bevölkerungskreise ad absurdum zu führen scheinen” (Franzki)(15). Denn die rechtliche Feinfühligkeit einer meist emotionalisierten Menge, die schnell geneigt ist, nach „Rübe ab” oder „kurzem Prozeß” zu schreien, darf nicht zum Maßstab werden. Die Justiz, der dialektische Parteienprozeß und die Verfahrensvorschriften sind die Ergebnisse einer langen Entwicklung von Rechtskultur. Sie bezwecken Normen zum Schutze des einzelnen Betroffenen vor der Gewalt der Gesellschaft oder des Staates.
Hingegen hat sich jeder Gundkonsens über eine materiale Rechtswahrheit stets als Fiktion erwiesen, sei es eine katholische, eine „völkische”, eine stalinistische oder welche auch immer. All diese Fiktionen haben unendlich viel Grauen gebracht: Scheiterhaufen, Gaskammern, Blutopfer.
Eine pluralistisch verfaßte Gesellschaft kann einen so verstandenen Begriff der „Rechtspflege” nicht hinnehmen. Recht ist nichts Statisches, das es nur zu konservieren gilt. Auch Sklaverei, jus primae noctis, Hexenverbrennung und „Nürnberger Gesetze” waren schon „staatliche Rechtsordnung”. Wie einst diese Institutionen, so werden heute Alleinbestimmung oder Mitbestimmung am Arbeitsplatz oder das Privileg, um des eigenen Vorteils willen die Umwelt vergiften zu dürfen, problematisiert. Darin setzt sich die liberale Tradition der bürgerlichen Revolution im 19. Jahrhundert fort.

Der Anwalt als soziale Gegenmacht im „Kampf ums Recht”

„Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder wichtige Rechtssatz hat erst denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen” (Rudolf von Jhering, „Kampf ums Recht“). Ähnlich analysierten Max Weber, Walter Eucken, Fritz Bauer und Adolf Arndt. Entsteht aber Recht stets neu als Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzung, so kann kein Anwalt sich als „Organ der Rechtspflege” verstehen, sondern nur als Vertreter von Mandanteninteressen, als parteigebundener Helfer und als ein Stück sozialer Gegenmacht, ohne die jeder Angeschuldigte jeder Staatsgewalt unendlich unterlegen wäre.
Weil in unserer derzeit vergifteten innenpolitischen Atmosphäre nach Mißdeutungsmöglichkeiten geradezu gesucht wird, sei betont:
Wer den Rechtsanwalt als Rechtshelfer sozialer Gegenmacht sehen möchte, begreift ihn damit natürlich nicht als Speerspitze eines Klassenkampfes gegen die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik. Er versteht ihn vielmehr als einen Machtfaktor, den jede pluralistische und auf gerechten Ausgleich bedachte Gesellschaft und jeder freiheitliche Staat dem der Rechtshilfe bedürftigen Bürger sozusagen gegen sich (gegen Gesellschaft und Staat) selbst zur Verfügung stellen muß. Diese gesellschaftliche Gegenmacht soll dem Bedrohten mit allen gesetzlich(16) unverbotenen Mitteln helfen, eine etwaige illegitime Machtausübung der Gesellschaft und das ihn bedrohende staatliche Gewaltmonopol abzuwehren(17).
Für liberale, tolerante, progressive Bürger ist ebenso klar, daß auch eine kapitalistische, klassengeschichtete Gesellschaft ihre Rechtsordnung durch staatliche Juristen verteidigen darf wie, daß diese Ordnung keinen Ewigkeitswert hat, sondern von Rechtsanwälten sowohl mit geistig-politischen als auch prozessual-juristischen Mitteln bekämpft werden darf. Die „Kameraden an der Rechtsfront” ringen unter einem auf Veränderung angelegten Grundgesetz und in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr gemeinsam, sondern gegeneinander, und zwar der Rechtsanwalt als Helfer seiner Partei, und im politischen Strafverfahren gegen Interessen von Staat und Gesellschaft.

Ohne freie Advokatur gibt es keinen Rechtsstaat

Die Freiheit der Advokatur ist eines der drei wirklich unverzichtbaren Wesensmerkmale eines demokratischen Rechtsstaates. Aber sie droht durch Mißdeutung des Begriffes „Organ der Rechtspflege” als Disziplinierungsmittel gegen Rechtsanwälte durch Richter, Gesetzgeber und vor allem eine restaurative Opposition zerstört zu werden.
Will indessen die Bundesrepublik Deutschland nicht den Kreis zivilisierter Staaten verlassen, so kann sie unmöglich einem – vielleicht unschuldig angeklagten, jedenfalls unter dem Schutz der Unschuldsvermutung stehenden – Bürger Schutzrechte nur deshalb entziehen, weil Anwälte aus der traditionalen obrigkeitsstaatlichen Gemeinsamkeit mit dem Richter beim „Ringen im deutschen Gerichtssaal”, aus der „Kameradschaft einer Rechtsfront” mit Richter und Staatsanwalt ausscheren, um eine liberalere, demokratischen Traditionen angemessenere Verfahrensrolle zu übernehmen.

Anmerkungen

1 Der Spiegel Nr. 19/1977, S 44. Dazu auch: Holtfort, Bilanz des Stammheimer Prozesses, In: Vorgänge 28, 16. Jahrgang 1977 (Heft 4), S 4 ff.
2 Nach übereinstimmenden Presseberichten vom 18. 7. 1977 soll Bundesjustizminister Vogel am 17. 7. 77 im Deutschlandfunk die Ausschließung künftig schon bei „geringem Verdacht” angekündigt haben. Die Standesorganisationen der Anwaltschaft, Bundesrechtsanwaltskammer und Deutscher Anwalts-verein, haben sich offenbar einverstanden erklärt (vgl „einspruch”, Hannover, 8/1977, S 3).
3 Wie leicht dieser zu konstruieren ist, zeigte sich im Baader-Meinhof-Prozeß. Eingehend darüber: Holtfort aaO, S 10ff.
4 Anwaltsblatt 1954, S 134 ff.
5 Quack, NJW 1975, S 1337 ff; Dahs, NJW 1975, S 1385 ff; Krämer, NJW 1975, S 849 ff.
6 Frank, Anwaltsblatt 1976, S 3.
7 Ebenso BVerfG 26/71; 38/111.
8 Niedersächsische Rechtspflege 1977, S 1 f.
9 Franzki aaO.
10 Die Bundesrechtsanwaltskammer teilte am 18. 12. 1969 dem Bundesverfassungsgericht in dessen Verfahren I BvR 226/69 eine allgemeine Überzeugung von der Robenpflicht „aufgrund einhelligen Beschlusses” mit.
11 Das Berufsverbot des Ehrengerichtes der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer (s dessen Beschluß 11/75 EV 83/73 v 12. 6. 75) gegen Groenewold wurde u.a. damit begründet, er habe „es schließlich an der notwendigen Distanz zu seinem Mandanten fehlen lassen”. In den Ausschließungsgründen des OLG Stuttgart gegen Anwälte vom 22. 4., 25. 4. und 13. 5. 1975 (Anwaltsblatt 1975,
213 ff, 243 ff) wird den Betroffenen auch angekreidet, sie hätten sich mit ihren Mandanten geduzt und mit Vornamen angeredet.
12 Sack, Der Strafverteidiger und der neue Staat, 1937, S 106, zitiert nach Ingo Müller, Hundert Jahre Wahrheit und Gerechtigkeit, in: Kritische Justiz 1/1977, S 11 ff, vorallem S 14-17.
13 Information 2/1976 in: DRiZ 2/1976. Seine einzige Alternative ist bezeichnend: „Gnadenlose Auseinandersetzung … wie sie sich heute z.B. im Baader-Meinhof-Prozeß abspielt.” Dazu, wohin also das Einbinden eines Verteidigers in eine „Arbeitsgemeinschaft” mit Richter und Staatsanwalt und die Repressionen gegen den sich dennoch für unerwünschte Mandanten engagierenden Anwalt führen kann, siehe: W. Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, DVA Stuttgart 1975.
14 Vgl Ingo Müller aaO, S 17 und Anm 67.
15 aaO.
16 Nicht etwa durch die von den 23 Rechtsanwaltskammer-Präsidenten als vermeintliche allgemeine Übereinkunft der Berufsgenossenschaft festgelegten „Stabdesrichtlinien”.
17 Darüber, daß hier keine eigentlich sozialistische, sondern eine liberale Position vertreten wird, siehe: Holtfort, Ein Stück sozialer Gegenmacht, in: einspruch/Zeitung für Rechtsanwälte, Hannover, Juni 1977 (Nr. 8), S 1 f = Kritische Justiz, Frankfurt, Heft 3/1977.

Bei dem Beitrag unseres Autors handelt es sich um eine überarbeitete und ergänzte Fassung eines Vortrags vor dem Ersten bundesdeutschen Strafverteidigertag am 14. Mai 1977 in Hannover.

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