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Die insti­tu­ti­o­na­li­sierte Rechts­ver­wei­ge­rung

Zur sozialen Funktion einer unsozialisierten Strafjustiz

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 53 – 77

Die schärfste Kritik an Theorie und Praxis des strafenden Staates und seiner Organe kommt aus den Reihen der Human- und Sozial­wis­sen­schaf­ter. Der münchner Psycho­ana­ly­tiker Hans Christian Dechêne legt die unbewußten Motive der strafenden Gesell­schaft gegenüber ihren Abweichlern offen, die in der Form von Gesetzen und Rechtss­prü­chen in weitem Maße zu einer Unrecht­spre­chung führen. Ein gesell­schaft­li­ches Klima der Aggres­si­vität läßt nicht zu, daß an die Stelle des atavis­ti­schen Strafen­kön­nens ein humanes Helfen­wollen tritt.

Fritz Riemann, dem Initiator der Psychoanalyse in München, zum 75. Geburtstag am 15. September 1977 gewidmet.

… und sind wir auch gefallen,
Seid nicht auf uns erbost wie das Gericht:
Gesetzten Sinnes sind wir alle nicht —

Bert Brecht, Dreigroschenoper

Die Geset­zes­lage und die Psychologie

Im Jahr 1969, wenige Monate bevor ein erster Teil der Strafrechtsreform Gesetz wurde, erschien von Wolfgang Hochheimer „Zur Psychologie von strafender Gesellschaft”, ein Aufsatz in einer Reihe einschlägiger Untersuchungen, die von Freud ihren Ausgang nahmen, über Wittels, Alexander/Staub, Fromm, Reiwald und Naegeli bis zu Plack reichten und seither ihre Fortsetzung fanden durch Plack, Ostermeyer ua. Zu Beginn des Jahres 1977 endete der verfassungswidrige Zustand, daß Menschen eingesperrt wurden ohne gesetzliche Legitimation zur Schmälerung ihrer Grundrechte, durch Inkrafttreten eines bundeseinheitlichen Strafvollzugsgesetzes. Hat sich damit auch an der psychologischen Basis etwas verändert oder goß der Gesetzgeber nur neuen Wein in alte Schläuche beziehungsweise umgekehrt? Die folgende Arbeit geht dem nach.

I. Strafrecht: Unerschüt­te­r­lich das Schuld­prinzip

Offenbar wird der Schuldkomplex ausdrücklich dazu gebraucht, unter Druck zu setzen. Damit wird gleichzeitig eine klare Überlegung beeinträchtigt, ja der Tat als Entlastung sogar Vorschub geleistet.

Wolfgang Hochheimer(1)

Fragwür­diges Schulds­traf­recht

Wie Normverletzungen geahndet werden, ist interkulturell ebenso variabel wie intrakulturell spezifisch. Hier sei nicht näher untersucht, wo in der Tradition unserer Kultur die Wurzeln des überlieferten und beibehaltenen Schuldstrafrechts liegen. Wohl sei festgehalten: „Eine Theorie der Strafe, die die Notwendigkeit des Strafens wie selbstverständlich voraussetzt, steht niemals auf anthropologischem Grund“(2). Auf was für einem Grund aber steht sie dann?
Gegenwärtig ist, daß auch nach den beiden grundlegenden Strafrechtsreformgesetzen von 1969 – sie brachten unter anderem den Ausbau der „Maßregeln der Sicherung und Besserung” und schafften die Freiheitsstrafen unter sechs Monaten ab – weiterhin nichts dagegen steht, in der Einführung zu einer gängigen Ausgabe des Strafgesetzbuchs unbeirrt zu äußern: „An der Spitze aller Entscheidungen, die das Strafrecht getroffen hat, steht das Bekenntnis zu dem Satz: keine Strafe ohne Schuld. Dies bedeutet, daß der Staat mit dem scharfen Schwert der Strafe nur dort zuschlagen darf, wo der Täter Schuld auf sich geladen hat, und daß er dies demgemäß nur in einem adäquaten Verhältnis zum Umfang der Schuld tun darf“(3). Zwar hat die Berücksichtigung des sogenannten unvermeidbaren Verbotsirrtums die bis dahin unverblümt brutale Praxis abgelöst, daß Unkenntnis des Gesetzes nicht vor Strafe schützte; erst hierdurch erhielt der einzelne einen Minimalschutz vor allzu blindwütigem staatlichen Strafen. Trotzdem: dem Schreiber zufolge bedient sich der Staat eines „scharfen Schwertes”, mit dem er schuldbeladenen Tätern gegenüber „zuschlagen darf”.

Strafrechtsreformentwürfe

Es mag sein, daß der Gesetzgeber selbst die von ihm erlassenen Reformgesetze mit mehr Problembewußtsein sah als ihr vorgenannter Interpret es tut, der sie offenbar für ein rechtsgestalterisches Nonplusultra hält. Immerhin kam bei der Abfassung der Gesetzestexte ein Kompromiß zustande zwischen dem ursprünglichen Regierungsentwurf (E 62), bei dem der „gerechte Schuldausgleich” noch ganz im Vordergrund stand, und dem 1966 von 14 Strafrechtslehrern vorgelegten Alternativentwurf eines Strafgesetzbuches (AE), der als Strafzwecke nur noch Generalprävention („Abschreckung”) und Spezialprävention (Erziehung und „Besserung” des Täters und notfalls Sicherung vor ihm), nicht mehr aber den Strafzweck der (als „Sühne” deklarierten) Vergeltung anerkannte. Was schließlich Gesetz geworden ist, benennt zwar nicht ausdrücklich Straf-zwecke, läuft aber hinaus auf eine „Vereinigungstheorie”, wonach mit der Strafe alle drei Zwecke (gerechter Schuldausgleich, General- und Spezialprävention) gleichzeitig erreicht werden sollen. Dabei stellt sich der Schuldausgleich in der Praxis als „Sühne” dar, Sühne im Sinne von Buße und Vergeltung, nicht, wie es der Etymologie entspräche, als Aussöhnung: Offenbar soll der Graben zwischen „Sozialen” und „Asozialen” nicht nur bleiben – durch das neue Gesetz im alten Geist wird er einsturzsicher ausbetoniert.
Zwar trifft zu: „Die praktische Tragweite der Unterscheidung von Strafen und Maßregeln hängt wesentlich davon ab, welchen Zweck man mit der Strafe verfolgt“(4). Doch ist Claus Roxin, der die Feststellung trifft und deutlich ersichtlich vom Konzept des AE herkommt, ohne Zweifel um einiges zu optimistisch bei der Entwicklung seiner Vorstellung der Zukunft: „… wenn Strafen nicht mehr der Vergeltung, sondern primär der Spezialprävention dienen, unterscheidet sich ihr Zweck nicht mehr von dem der Maßnahmen“(5).

Schuldvergeltung?

Was ich befürchte bei oder gerade wegen der auffälligen Betonung des „Resozialisierungsgedankens” an allen Ecken und Enden, ist durchaus eher eine Vertiefung der „Zweispurigkeit” der Verbrechensreaktionen. Die Meinung, daß es ohne Schuldprinzip nicht gehe, hat allerdings auch Roxin, der darin staatliche Eingriffsschranken gegenüber dem Individuum gewährleistet sieht, während ein reines „Behandlungsrecht” weitergehende Eingriffe in die Freiheit des einzelnen gestatte und damit „immer einen Zug ins Totalitäre” habe. So meint er denn: „Die berechtigten Einwendungen gegen das herkömmliche Schuldstrafrecht… sind nur insoweit begründet, als aus der Annahme menschlicher Freiheit ein staatliches Recht zur Schuldvergeltung abgeleitet wird, die durch ihren repressiven Charakter der Resozialisierung im Wege steht. Es ist also nicht die Schuld, sondern die Vergeltung, die aus dem Strafrecht entfernt werden sollte“(6). Indessen ist kaum zu erwarten, daß kollektiv-unbewußtes Strafverlangen, wie noch zu zeigen sein wird, sich eine derartige, offiziell „schuldig” gesprochene Gruppe, die besonders geeignet ist zur Abreaktion eigener, verdrängter Affekte, entgehen und wegnehmen lassen wird.

Strafe muß sein — muß Strafe sein?

Doch bleiben wir vorerst noch bei „Schuld” als strafrechtlichem Prinzip, das also auch weiterhin Gültigkeit behält. Die eingefressene Fixierung an die autoritäre Vorstellung, daß Strafe nun mal sein müsse, mag sich ein wenig gelockert haben — sonderlich weit her kann es mit der Ablösung davon noch nicht sein, wie eine Reihe von Ungereimtheiten, die freilich verleugnet werden, offenkundig macht:
So war es zunächst dem Gesetzgeber, auch 1969 noch, anscheinend nach-. wievor unvorstellbar – oder erschien der Gedanke bloß inopportun? –, daß „Schuld”, wenn dann schon unbedingt, auch anders als „persönlich” denkbar wäre(7) (und „anders” wäre das Ganze schon sinnvoller, z.B. bezogen auf Sozietät, die ihre Kriminellen schließlich produziert(8).
Sodann ist es in der Praxis der Rechtsprechung ja wohl weitgehend unkontrollierbar, ob ein Richter, der sich persönlich vielleicht unverändert zur sogenannten klassischen Schule hingezogen fühlt und von Resozialisierung wenig hält, bei seinen Urteilen nicht doch den „gerechten Schuldausgleich” präventiven Maßnahmen voranstellt, und niemand hat’s gesehen… Ohne weiteres kann er sich dafür des § 13 1 StGB bedienen, wonach Grundlage für die Zumessung der Strafe die Schuld des Täters ist, denn die Schwere der Schuld zu beurteilen, ist reine Ermessenssache; und wenn er nach § 13 II StGB bei der Strafzumessung die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander abwägen soll, so ist auch das ein höchst subjektiver und durchaus manipulierbarer Vorgang. — Schließlich führt dies hin auf das grundsätzliche, mit keiner exakten Methodik angehbare und somit eigentlich unlösbare Problem, daß „Schuld”, der gesetzlichen Forderung gemäß, gemessen und gewogen werden soll, als handle es sich dabei um weiter nichts als — sagen wir — 3 Kilo deutsches Kommißbrot oder 7 Meter schwedischen Gardinenstoff. Und dann soll das total über den Daumen gepeilt „Ermittelte” auch noch eine „Übertragung” überstehen in Monate oder Jahre Knast!

Gehorsame Straf­rechts­an­wender

Die Strafrechtsanwender werden an sich mit zahlreichen Unzumutbarkeiten konfrontiert, mit in sich unstimmigen, chaotischen Verhältnissen. Aber als getreue Staatsdiener tun sie ihre „Pflicht”, rebellieren nicht etwa, bemühen sich vielmehr sogar, Unmögliches zu ermöglichen und fragen kaum je, was aus ihrem Tun erwächst. Ermitteln, urteilen, Strafen verhängen, scheint vordringlicher zu sein, zumindest ist es bequemer als danach zu fragen, was aus den Objekten ihrer Tätigkeit wird.
Schon Fritz Bauer hat erkannt: „Rechtsphilosophie, Rechtswissenschaft und Praxis stehen in aller Regel den allgemeinen Maßnahmen einer Verbrechensverhütung mit kühlem Interesse gegenüber; im Zug der Gewaltenteilung überlassen sie die Entscheidung der Gesetzgebung“(9), die sie unkritisiert entgegennimmt. Statt aktiv und mit Nachdruck auf notwendige Veränderungen der gesetzlichen Grundlagen hinzuweisen und hinzuwirken, widmen Strafjuristen, so scheint es, sich dann doch lieber der theoretischen Weiterentwicklung ihres Metiers und seiner Fortpflanzung, unangefochten davon, wie viel neues Unheil das gebiert. Obschon gerade sie die erforderliche Sachkenntnis haben oder erwerben könnten, wenn sie die Augen vor dem, was näher anzuschauen peinlich wäre, nicht gar so konsequent verschlössen, hüten sie sich, sich die Finger schmutzig zu machen und waschen ihre Hände in Unschuld. Und sich gar die Finger zu verbrennen, indem er etwa heiße Eisen angepackt hätte, scheute sich auch der Gesetzgeber vor acht Jahren; dies wird beim Abschnitt über den Vollzug noch deutlich.

Hat sich der Täter zum Unrechttun entschlos­sen?

Eine alles andere als gute, weil exorbitant phantasierte, doch alte und vom Bundesgerichtshof neu abgesegnete juristische Tradition besteht darin sich vorzustellen, „daß sich der Täter mit seinem Tatentschluß gegen das Recht und für das Unrecht entschieden habe“(10). Unerschüttert von anderslautenden empirischen Befunden hält das Strafrecht an der These fest, menschliches Handeln entspringe stets einer abwägenden Überlegung, sei zweckgerichtet und von bewußtem Willen geleitet und gesteuert. Schlankweg geleugnet werden die faktische Komplexität und Verworrenheit von Situationen, deren durch wirkliche oder vermeintliche Ausweglosigkeit drastisch verminderte Überschaubarkeit, der Grad an konflikt- und damit affektbedingter Unmittelbarkeit des Handelns, die oft habituelle Unfähigkeit zu Reflexion und Bewußtheit, die in der Frühentwicklung erfahrenen emotionalen Defizite und die zumeist umfassend fehlgelaufene Lerngeschichte delinquent werdender Menschen. Gleichwohl sind all dies handlungsrelevante Momente, die sowohl den „freien Willen” eines Täters zur Tat wie auch die „freie Vorstellbarkeit” ihres Unrechtsgehalts bzw. der Tatfolgen beträchtlich reduzieren können und die Annahme einer „Entscheidung” für das Unrecht oder eines „Entschlusses” zum Rechtsbruch zum leeren Artefakt werden lassen.
Und gravitätisch schreitet Juristerei fort, weit fort von realem Leben: Da-mit eine Handlung als strafbar einzuordnen ist, bedarf sie der Qualifikation als „vorsätzlich” und „schuldhaft”. Wie schafft das die Justiz?

Der sogenannte „Vorsatz”

Wo’s nottut, im Umkehrschluß: „Vorsatz” ist als sogenanntes subjektives Tatbestandsmerkmal nicht direkt wahrnehmbar; also „begnügt sich der Richter mit dem Schluß, was einer tue, wisse und wolle er auch, tue er also vorsätzlich… Immerhin sind sich die Juristen des Dilemmas… wenigstens unterschwellig bewußt und haben deshalb den bedingten Vorsatz erfunden. Diesen (dolus eventualis) werten sie rechtlich dem direkten Vorsatz (dolus directus) gleich. Der Täter handelt bedingt vorsätzlich, wenn er den verbotenen Erfolg der Tat… für den Fall, daß er eintreten sollte, billigend in Kauf nimmt…, wobei es dann nicht schwerfällt, die Billigung zu behaupten, denn das ganze ist ein Phantasiegebilde ohne jede Möglichkeit der Verifizierung, einzig geschaffen, einen Täter zu verurteilen, dem kein Vorsatz nachzuweisen ist”. Und wie steht’s mit dem Nachweis von „Schuld”? Nicht viel anders: „Tut jemand Unrecht, so nimmt man an, er tue es wissentlich und willentlich. Auch hier… liegt die Vorstellung eines allumfassenden Bewußtseins zugrunde, das im Augenblick der Tat nicht nur sämtliche Umstände und Folgen, sondern auch noch die rechtliche Wertung in Betracht zieht. Steht ausnahmsweise fest, daß der Täter sein Tun für erlaubt hält, so nützt ihm das nicht viel. Dem Unrechtsbewußtsein steht es nämlich gleich, wenn der Täter das Unrecht bei gehöriger Anspannung seines Gewissens oder zumutbarer Erkundigung hätte erkennen können. Damit wird praktisch auf das Unrechtsbewußtsein als Erfordernis der Schuld verzichtet…“(11).
Einem „für das Unrecht entschiedenen” und „zur Tat entschlossenen” Menschen wäre also auf jeden Fall die Mitnahme eines Exemplars des StGB mit Kommentar auf seinem Weg zum Tatort zu empfehlen; statt schnurstracks in eine Bank zu dringen, sollte er sich lieber noch unterwegs auf eine solche setzen, um sich zuvor in seine Lektüre und möglichst auch in Meditation über den Unrechtsgehalt seines Vorhabens zu versenken; halten seine Zweifel trotzdem an, was er eher billigend in Kauf nehmen sollte, Leere im Geldschrank der Bank oder in der eigenen Geldbörse, wäre ihm vorsorgliche Erkundigung beim Schalterbeamten, ob der über einen Überfall wohl mit sich reden ließe, sowohl zuzumuten wie auch an-zuraten. Und, siehe da! Ganove, Geld, Justiz: sie alle wären gerettet!

Sündenböcke…

Keineswegs gerettet, vielmehr geopfert werden jene, die tatsächlich straffällig werden, geopfert verschiedenen Zwecken und unreflektiert-unbewußten Kollektivwünschen: dem Bedürfnis nach abwehrender Abgrenzung, ordinärer Straflust, der Schaffung bequemer Sündenböcke, dem verbreiteten Wunsch, sich Gedankenarbeit und Geldausgaben zu er-sparen usw, gezielten Gruppeninteressen der Gesetzesmacher, speziellen Berufsinteressen der Gesetzesanwender, juristischer Rechthaberei, der sogenannten Generalprävention (Abschreckung solcher, die es ohnehin nicht nötig haben, auf Kosten derer, bei denen sie ohnehin nichts nützt) ua.

Rückfall­täter oder: wer sich nicht bessert, stellt böswillig den Strafzweck in Frage…

Besonders entschieden verstoßen und in diesem Sinn benutzt wird einer, der auf Anhieb weder zur Scheinrechtfertigung des bestehenden Zustands der Gesellschaft taugt, sich also nicht „durch Strafe bessert”, noch zur Bestätigung juristischer Fiktionen sich geeignet zeigt. Und immerhin sind das runde 80 Prozent aller inhaftiert Gewesenen. Sie könnten Gesetzgebern wie Rechtssprechern natürlich das unangenehme Gefühl verursachen, mit ihren Strafen am Ende doch auf dem Holzweg zu sein. Aber das Problem wird „strafrechtswissenschaftlich” gelöst: Der Schwarze Peter wird dem erneut delinquent Gewordenen zurückgegeben, die erste Strafe hat dann eben „noch nicht ausgereicht”!
Der Abwicklung dieses Tricks dient die Kreation des § 17 StGB nach dem ersten Strafrechtsreformgesetz, der sich der Behandlung von Rückfalltätern annimmt. Danach ist für jemand dann „die Mindeststrafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten”, wenn er schon mindestens zweimal verurteilt worden ist und von den verhängten Strafen mindestens drei Monate Freiheitsstrafe verbüßt hat, denn je nach Art und Umständen der Straftaten sei ihm „vorzuwerfen, daß er sich die früheren Verurteilungen nicht hat zur Warnung dienen lassen”! Vor die Wahl gestellt, entweder an der Tauglichkeit des Mittels zu zweifeln oder aber den Rückfall dem erneut Straffälligen als „persönliche Schuld” anzulasten, entscheidet man sich erleichterten Herzens für das letztere: die abermalige Verwahrung des Delinquenten bei zugleich eigener Bewahrung vor Konflikten.
Wie sehr die Dinge gerade da, wo sie strafrechtlich relevant werden bzw. würden, im Dienst herrschender Intentionen stehen, zeigt eklatant folgender Sachverhalt, der belegt, wie „Schuld” durchaus nach Bedarf gehandhabt werden kann: Wenn etwa bei trivialem Mord gern von „niedrigen Beweggründen” die Rede ist, so zweifellos nicht ohne Zweck: daneben scheint es „höhere”, legalisierte geben zu sollen, etwa wenn von Soldaten die Tötung von Menschen wie selbstverständlich gefordert wird. So interpretiert Heinrich Hannover den Ausdruck „niedrige Beweggründe” durchaus zutreffend, wenn er den „ungewollten Doppelsinn” einmal psychologisch als Nichtanerkennung des Unbewußten, zum anderen soziologisch als Zuweisung an die Unterschicht auffaßt(12),(13).

Nicht­an­er­ken­nung des Unbewußten

Wo so viel Ausweichen vor dem Eigentlichen das, was geschieht, bestimmt, müssen handfeste. affektive Interessen im Spiel sein, Interessen der Strafjuristen selbst, von seiten herrschender Gruppen oder auch der Gesellschaft im ganzen. Offenbar hat die „Schuld” der Verurteilten hier eine Funktion für die Urteilenden.
Hiermit hat Wolfgang Hochheimer sich näher befaßt: Der Begriff betreffe „von Anfang an eine Reaktionsweise auf einen Verstoß gegen ein Gebot. Das Gebot gilt dabei als absolute Setzung durch eine hohe Autorität. Schuld kann schon beginnen bei Zweifel an der Unfehlbarkeit einer Autorität…” Die Erziehung dorthin setzt sehr frühzeitig ein: „Mit dem Schuldkomplex hält man zunächst Kinder unter Druck, indem ihre Energien psychodynamisch gebunden bleiben und nicht frei werden können für eigene Disponibilität… Wem zunutze? Die Antwort kann nur lauten, dem äußeren Regiment, der Übermacht von elterlicher, kirchlicher und staatlicher institutionalisierter Autorität zum Nutzen.” Damit gilt für das Schuldbewußtsein: „Soweit wir heute sehen, ist es mehr ein Sozialprodukt als eine eingeborene Urstimme.” Rational ließe sich denn auch begründen, „daß ,Schuld` bei entsprechend anders vorgehender Erziehung auch ,Irrtum` oder ,Fehlverhalten` heißen könnte… Kulturkritische Analysen autoritärer Durchsetzung traditioneller Wertungen haben deren Fragwürdigkeit (jedenfalls) aufgezeigt“(14).

II. Richter: Büttel kollektiven Straf­ver­lan­gens und Palast­wächter vor dem eigenen Käfig

Aus unserer Erfahrung haben wir sehr stark den Eindruck bekommen, daß es einen deutlichen Zusammenhang gibt zwischen harter Justiz, harten Strafmaßnahmen und — als Antwort — harter Kriminalität.

Walter Goudsmit(15)

Eine Fallbe­schrei­bung…

Wozu die dargestellte „Logik” führen kann, mag folgender Fall aufzeigen. Er eignet sich dafür in mehrfacher Weise.

Der Mann, von dem ich berichte, war zu der Zeit, um die es hier vorwiegend geht, 30 bzw. 31 Jahre alt. Seine Familie
kam bei Kriegsende — sie waren Volksdeutsche— in ein Internierungslager, wo dem 5jährigen die Mutter wegstarb. Sobald das möglich war, wurde er zu Großeltern nach Österreich gegeben. Als der Vater, der in Westdeutschland lebte, sich neu verheiratet hatte, nahm er seinen Sohn zu sich und ließ ihn ein Gymnasium besuchen. Es gab Spannungen mit Vater und Stiefmutter, so daß der Junge in der 11. Klasse die Schule verließ und zu seinen Großeltern zurückging. Er machte eine Ausbildung als Fotograf, begann in München die Meisterschule für Fotografie, hielt aber aus objektiven wie subjektiven Gründen nicht durch. Seither lebte er von privaten Aufträgen und hatte Kontakt mit Künstlern, zum Theater und zu Studenten, soweit er nicht in Haft war. Dies war meist wegen kleinerer Diebstähle, verteilt auf 5 oder 6 Vorstrafen, während insgesamt etwa 4 Jahren der Fall. Zweifellos ist er im gewissen Sinn labil zu nennen, seine Lebensform war nie konventionell, zu beidem trug seine starke Sensibilität erheblich bei.
Unerwartet bekommt er „eine ganz große Chance”, als eine Fabrikbesitzerin ihm und seiner Sozialpädagogik studierenden Freundin anbietet, in einer Kleinstadt ein von ihr getragenes „Resozialisierungskollektiv” für Entlassene einer Jugendstrafanstalt aufzubauen. Uneingeschränkt sieht er darin eine „sinnvolle Aufgabe” und steigt mit seiner ganzen Kraft in das Projekt ein. Es läuft über einige Monate gut an, obwohl es zahllose Schwierigkeiten gibt – bis er bei einer Autokontrolle geschnappt wird: Da noch ein altes Strafverfahren (su) gegen ihn lief, er Bewährungsauflagen nicht erfüllt hat und sich zudem bei einem Umzug des Kollektivs nach drei Monaten von der Kleinstadt auf ein wenige Kilometer entferntes Dorf nicht umgemeldet hatte, bestand Haftbefehl gegen ihn. Auf der Stelle kommt er in U-Haft und bald darauf zur Verbüßung seiner Reststrafe in Strafhaft. Als er nach einigen Monaten wieder frei wird, ist das Kollektiv, dessen „Kopf” er war, in dem er sich engagiert hatte wie wahrscheinlich nie zuvor in seinem Leben und das für seine eigene Resozialisierung und Stabilisierung optimal war, zerfallen: Seine Freundin hatte sich mit seinem Rechtsanwalt liiert; zwei Gruppenmitglieder waren rückfällig geworden (während das Kollektiv existierte, hatte es keinen Rückfall gegeben); ein dritter Junge fand keinen Ausweg mehr und hatte sich erhängt. Dennoch hatte das kurze „Experiment” positive Wirkungen auf die Jugend der Kleinstadt: Nicht nur, daß hunderte Jugendliche an der Beerdigung des toten Jungen teilnahmen, – mit Hilfe der Fabrikbesitzerin war inzwischen mit dem Aufbau eines „freien Jugendzentrums” begonnen worden.
Bei der Verhandlung des erwähnten alten Strafverfahrens, die nach seiner Entlassung noch ausstand, trifft er auf einen sehr bemühten und vernünftigen Richter. Die Straftat hatte er begangen, als er, vor Gründung des Kollektivs, in seiner damaligen kleinen Wohnung einige aus Heimen entwichene Fürsorgezöglinge beherbergte; außerdem war die Wohnung – ihr Inhaber verstand es, eine friedliche und anregende Atmosphäre zu schaffen – ständiger Treffpunkt vieler unbürgerlicher Freunde geworden. Auf dem nächtlichen Heimweg aus einem Gemeinschafts-Fotolabor, in dem er den ganzen Tag, ohne zu essen, gearbeitet hatte, klaute er aus einem bereits beschädigten Automaten 12 Packungen Zigaretten im Wert von 24 Mark; er rauchte zu der Zeit sehr viel und wollte die Freunde zu Hause gleich mitversorgen. Der Richter, der ihm offensichtlich den „schweren Diebstahl im Rückfall” mit zwangsläufiger Haft ersparen wollte, verurteilte ihn wegen Mundraubs zu 1500 Mark Geldstrafe. Dennoch nützte auch dieses „pädagogisch” hohe Strafmaß nichts – immerhin würde die Relation bedeuten, daß eine Firma, die für 16000 Mark Steuern hinterzieht, 1 Million Strafe zahlen müßte (aber dergleichen kommt selbstverständlich nicht vor, das würde ja womöglich die Firma ruinieren!) –: die Staatsanwaltschaft verlangte Revision. Bei der erneuten Verhandlung, bei der die juristische Qualifikation bereits festlag, so daß es nur noch um das Maß der zu verhängenden Freiheitsstrafe ging, bekam unser Mann 14 Monate. Bei der Berufungsverhandlung wurden schließlich 10 Monate daraus.
Fazit: Für einen schweren Rückfalldieb von 12 Schachteln Zigaretten reicht das 62,5fache an Geldstrafe nicht etwa aus, der muß sitzen, länger als einen Tag pro Zigarette! Und für so einen ist – nehmen wir seinen Verdienstausfall während der Knastzeit zurückhaltend mit 6000 Mark an und sehen wir, um die Rechnung nicht zu verunreinigen, einmal ab von der vorangegangenen Misere des kaputtgemachten Resozialisierungskollektivs und der abgehauenen Freundin, desgleichen von der ihn erwartenden neuen Misere nach seiner Entlassung! –, für so einen ist ein Preis von 25 Mark pro Zigarette ja doch wohl durchaus angemessen! Vielleicht ist er der Justiz eines Tages sogar dankbar, half sie ihm doch, sich das Rauchen abzugewöhnen! Oder?

… und wie reagieren?

Wie wird, wie kann ein solchermaßen von der „Rechtssprechung” malträtierter Mensch auf die über ihn verhängte Bestrafung reagieren? Als ich ihn zuletzt im Gefängnis sah, schilderte er — und es klang, als spräche er über einen anderen, zumindest spürte er, wie er dabei war, „ein anderer” zu werden —, wie ihm sein Gefühl für Menschen wie für Dinge abhanden komme und einem von ihm selbst abgelehnten harten Egoismus
weiche. Deutliche Angst machte ihm eine Tendenz, die er in sich aufsteigen fühlte: auf das als ausgesprochen aggressiv empfundene Urteil, verstärkt durch die „Brutalität der Umgebung”, seinerseits aggressiv und brutal zu reagieren. Die Gefahr wird real: „Bei überstrenger Behandlung wirkt höchstens noch die Angst vor der nächsten Strafe triebhemmend, die innere moralische Eigenhemmung geht aber verloren“(16). Will das die Justiz vielleicht sogar oder auch die Gesellschaft? Oder wie sonst kommen Richter zu solchen – rational sinnlosen, psychodynamisch geradezu gefährlichen – Urteilen? Und wie eigentlich verkraften sie persönlich ihr Geschäft, Menschen zu verurteilen und zu bestrafen?

Rationale und irrationale Motiva­ti­onen

Vorab ist festzuhalten, daß jedes zwischenmenschliche Verhalten, also auch das aller an einem Strafprozeß Beteiligten, von Vorprägungen mitbestimmt, oft unbewußt gesteuert und immer auch situationsbedingt ist; stets wirken neben rationalen irrationale Motivationen und Einstellungen mit, auch dort, wo wir ganzundgar „objektiv” uns zu verhalten meinen. Gerade Strafjuristen allerdings pflegen Sachverhalte dieser Art auffallend starrsinnig zu leugnen und halten erstaunlich zäh an der — ihre Subjektivismen rationalisierenden— Fiktion von Objektivität und Rationalität fest.

Mechanismen der Angstabwehr

Woher und warum die Fiktion? Die Antwort haben die Psychoanalytiker der strafenden Gesellschaft von Alexander und Staub bis Plack und Ostermeyer einhellig gegeben: Ein Strafrecht und eine Strafjustiz, die von der Gesellschaft zur Projektion von Schuldgefühlen des Kollektivs und zu-gleich zur Abreaktion und Absorption von Aggressionen installiert worden sind, können, um ihr unbewußtes Unbehagen zu bewältigen, kaum anders als mit Mechanismen der Angstabwehr operieren(17).
Als Ausführer dieser Funktionen aber sind nur Leute zu gebrauchen, die sich besonders gut auf „Triebverkleidung unter abstrakten Formeln“(18) verstehen und ihr kreatives Potential weitgehend diesem Zweck zur Verfügung stellen. Dabei können Affinitäten zwischen der eigenen und der Struktur des Strafsystems kaum überraschen: Bereits die Gesetzestexte und deren Begründungen sind „Produkte von Untertanen autoritärer Systeme und damit teilweise von irrationalem Gehalt“(19). Entsprechend erbringt die „Analyse der Regungen und Haltungen im seelischen Bereich des Bestrafers… immer mehr oder weniger intensive Anteile affektiver… Prozesse. Der Strafende verkörpert und vollstreckt Gewalt und Macht, entstamme diese nun institutioneller oder persönlicher Autorität“(20).

Justitielle Aggres­si­ons­ab­fuhr

Hier nun verschränkt sich das, was die Gesellschaft von ihren Bestrafungsdelegierten erwartet, mit einem Erfordernis, das die Bestrafer ihrem persönlichen Gleichgewicht zuliebe erfüllen müssen. Denn es ist nun einmal „ein Unterschied, ob man wie der Zeitungsleser Bestrafung nur konsumiert oder ob man sie wie der Staatsanwalt beantragt, wie der Richter verhängt und wie der Vollzugsbeamte vollstreckt… Soweit sie mehr tun als ein passives Mitglied des kollektiven Ichs, nämlich Aggression verhängen und nicht nur miterleben, soweit sind sie… von der Über-Ich-Kontrolle nicht befreit“(21). Die Notwendigkeit, ihre Schuldgefühle zu beschwichtigen, läßt sie esoterisch zwangshaft werden und bringt Phänomene hervor wie massierte Produktion von Formalismen, Dogmatismen und Systembildungen, die Isolierung der Tat vom Täter aus „Berührungsangst” vor ihm(22), die „Apparatisierung” und „Ganovisierung“(23). Als spezielles Symptom der besonders verhängnisvollen Schuldprojektion ist das in der StrafprozeBordnung bereits institutionalisierte „übertriebene Pathos von Anklage” zu sehen, „das unser Rechts- und Strafwesen irrationalisiert“(24). In derselben Richtung, wenngleich genereller ist die ganze „Feierlichkeit” des Gerichtszeremoniells überhaupt aufzufassen(25).

Kollektives Straf­ver­langen

Bemerkenswerte Belege für die der Strafjustiz inhärente Subjektivität und Irrationalität sind sodann die — neben den „gesetzlichen Tatbeständen” — als rechtsstaatliche Garantien gemeinten Rechtsinstitute der „freien Beweiswürdigung” und der „freien Strafzumessung”. Sie erweisen sich gleichzeitig als besonders weite und darum besonders sorgsam kaschierte Einfallstore für kollektives Strafverlangen.Als wesentliche Beweismittel gelten nach wie vor Geständnis oder Zeugenaussagen, „Beweise”, deren Fragwürdigkeit schon von den ersten forensischen Psychologen um die Jahrhundertwende exakt aufgewiesen wurde. Doch davon unbehelligt: „Das Strafrecht macht aus dieser Not eine Tugend. Es erklärt den Beweis dann für geführt, wenn der Richter von der zu beweisenden Tatsache überzeugt ist – es begnügt sich also mit subjektiver Überzeugung statt objektiver Gewißheit“(26). Zwar ermöglicht die Befreiung von formalen Beweisregeln es dem Richter — jedenfalls theoretisch —, einem Angeklagten, auch wenn er ein „Geständnis” abgelegt hat, oder einem Zeugen, auch wenn er seine „Aussage” unter Eid stehend macht, trotzdem nicht zu glauben. „Aber Freiheit von festen Regeln schränkt zugleich die Nachprüfbarkeit ein. Gestattet sie durch ihre Geschmeidigkeit eine bessere Anpassung an die Wahrheit, so gestattet sie zugleich eine bessere Anpassung an die Straflust.” Dabei „gibt es keine Kontrolle, und das Strafrecht sorgt auch dafür, daß die Richter nicht über-trieben gewissenhaft werden. Es hat den Grundsatz ,im Zweifel für den Angeklagten’… sehr weit ausgehöhlt. Der Richter darf nämlich nur ,vernünftige` Zweifel zugunsten des Angeklagten sich auswirken lassen, unvernünftige Zweifel hat er außer Betracht zu lassen… Er darf die Schuld nicht deshalb verneinen, weil die gedankliche Möglichkeit eines abweichenden Geschehensverlaufes besteht… Die freie Beweiswürdigung dient also dazu, das Strafverlangen der Gesellschaft nicht an der Moralität der Rechtsanwender scheitern zu lassen. Sie gibt einem Strafverlangen der Rechtsanwender freie Bahn“(27).

Irrati­o­na­lität der Straf­zu­mes­sung

Nicht minder frei — wegen des bereits genannten Problems der Meß- und Wägbarkeit von Schuld vor allem frei von der Möglichkeit der rationalen Handhabung(28) — sind die Modi der Strafzumessung. „Daß trotzdem die Fiktion von der Schuldangemessenheit der Strafe so hartnäckig verteidigt wird, und zwar selbst vom Gesetzgeber, weist auf die Schuldprojektion hin, die die strafende Gesellschaft vollzieht. Das Schuldprinzip ist die Rationalisierung der Schuldprojektion” (Hervorhebung H.Ch.D.). Sie kann weitgehend unbehelligt von Skrupeln erfolgen, „weil die Legalisierung ein gutes Gewissen macht“(29). Die Folge davon ist insofern um so schlimmer, als die Projektion bewirkt, „daß nicht nur die Schuld des Täters, sondern die auf ihn projizierte Schuld der Gesellschaft mit abgestraft wird. Zwangsläufig fällt die Strafe dann höher aus, als wenn sie nur der Schuld des Täters gilt“(30).

Identi­fi­ka­tion der Juristen mit dem „Apparat”

Als einer der wesentlichen Gründe dafür, daß Strafjuristen in ihrer Mehrheit derartige Vorgänge, deren Urheber sie großenteils selber sind, weder sehen wollen noch können, ist ihr zumeist recht hoher Grad an Identifikation mit dem Justizapparat zu betrachten. Identifikation (abermals ein der Angstabwehr dienender Mechanismus) kann verschieden, unter anderem auf unterschiedlichen „Gehorsams-Ebenen” (Alexander Mitscherlich 1963) zum Ausdruck kommen, die Volker Frielinghaus im Hinblick auf „die menschlichen Verhaltensweisen ,Rechtssetzung` und ,Rechtsanwendung” näher untersuchte. Eine charakteristische Auswirkung von Gehorsam ist, daß dadurch Denkhemmungen erzeugt werden. So auch beim „Vorurteilsgehorsam”, den kennzeichnet, „daß angeblich ,sicheres Wissen` gegen kritisches Bedenken sich durchsetzt. Dabei behandelt die vom gefestigten Vorurteil… gesteuerte Reaktionsbereitschaft ihren Gegenstand, als sei er aus eigener Erfahrung bekannt und nicht durch äußere oder introjizierte Autoritäten vorgeschrieben”. Ein Niederschlag derartiger Abläufe ist etwa, daß in der Jurisprudenz „eine unbekannte Vielzahl von strukturverschiedenen Lebenssachverhalten” begrifflich formalisiert wird, womit vom materiellen geltenden Recht nicht viel mehr übrig bleibt als eine „disponible und fungible leere Formhülle“(31).
Gleichermaßen auf Identifikationsvorgängen beruht die „Organisationsverhaftung” zahlreicher Richter, von denen Rüdiger Lautmann eine größere Anzahl vorwiegend bei Urteilsberatungen als teilnehmender Beobachter studiert hat. Hier einige seiner Feststellungen: „Wichtiger als eine Faktensuche… erscheint.., die Aufgabe des Richters, eine Entscheidung zu erreichen”(32). „Die Richter orientieren sich bei der Wahrheitssuche nicht an den nonjuristischen Prozeßbeteiligten; ihre Bezugsgruppe ist vielmehr die Justiz in Gestalt der Kollegen, Vorgesetzten und insbesondere der höheren Instanzen“(33). „Eines der wenigen Ziele, das gelegentlich verbalisiert wird, besteht darin, den faktisch abgelaufenen Entscheidungsvorgang nicht transparent werden zu lassen. Nach außen soll kein Bild davon dringen, wie das Urteil im einzelnen zustandegekommen ist”.

System­lo­sig­keit bei der Entschei­dungs­fin­dung

Eine weitere, wesentliche Beobachtung Lautmanns war die „Systemlosigkeit” des richterlichen Entscheidungsprogramms, d.h. der Mangel an rationalen Gesichtspunkten bei der inhaltlichen Entscheidungsfindung, der etwa so sich ausdrückt: „Alternativen aus einem Kontinuum werden oft seltsam intuitiv vorgebracht – beinahe wie eine Erleuchtung”(35). Oder auch so: „Wo immer Zahlenangaben in einer Entscheidung auftauchen…, da zeigt sich ein Ehrgeiz auf Genauigkeit, der merkwürdig kontrastiert zur Lässigkeit, die häufig richterliche Faktenfindung und Abstraktion kennzeichnet”(36).
Kennzeichnend ist dergleichen allerdings in psychoanalytischer Sicht durchaus: Verschiebungen von (affektiv oder emotional) Bedeutsamem auf Nebensächlichkeiten (wie etwa numerischen Daten) sind geradezu ein Hauptmerkmal zwanghaften Verhaltens. Mir selbst ist bei der Vernehmung von Angeklagten viele Male aufgefallen, wie Richter und Staatsanwälte vom Wesentlichen, den Handlungsmotiven, immer wieder ablenkten, indem sie völlig belanglose Orts- und Zeitangaben erfragten. Dabei hatte ich oft den Eindruck einer — angesichts von Menschen, die von Berufs wegen mit Menschen umgehen – erstaunlichen Ratlosigkeit, bis-weilen auch ausgesprochenen Hilflosigkeit, fast so, als wüßten sie nicht recht, was man denn sonst noch fragen könnte. Ich würde nicht zögern, derartige Haltungen schlicht „rührend” zu finden, wenn solche Unentfaltetheit menschlicher Qualitäten nicht so elende Folgen für Menschen hätte, die von Justizverwaltern dieser Güte abhängig sind auf Gedeih und Verderb.

Ein positives Psychogramm des Richters

Natürlich, auch unter Strafjuristen gibt es psychisch voll entfaltete, unneurotische Persönlichkeiten, die frei sind von verdrängten Aggressionen, von unbewußten Schuldgefühlen und entsprechender Tendenz zu Projektion und anderen Abwehrformen. Ein solchermaßen intakter Mensch kann Straftätern wesentlich offener und vorurteilsfrei gegenüberstehen, kann Ähnlichkeiten zulassen, ihn verstehen und sachlich auf ihn reagieren. Andererseits hat er es innerhalb seiner Bezugsgruppe besonders schwer, bedarf einer hohen Frustrationstoleranz und verdient Anerkennung dafür, daß er nicht selten um der dem Justizapparat ausgelieferten Menschen willen Repressionen und Repressalien auf sich zu nehmen bereit sein muß. Leichter wird ihm hingegen die Verarbeitung mancher Konflikte fallen, die der Durchschnitt seiner Kollegen nur verdrängen kann, wonach sie dann um so unheilvoller, weil bewußtseinsfern, sein Handeln programmieren. Denn: „Daß es für den Strafjuristen, der… wie kein anderer schicksalhafte, oft daseinszerstörende Gewalt über Menschen auszuüben hat, ein psychisches Konfliktfeld gibt, ja geben muß, gehört noch immer zu den tabuierten… Problemen der Strafrechtswissenschaft. Die konflikthaften Wirkungen des Strafens auf den Strafenden sind bisher ausschließlich eine Angelegenheit privater Bewältigung oder gar professionell zu leistender Verdrängung… geblieben”(37).
„Der Richter muß, um mit Radbruch zu sprechen, ,‚eine Art Sozialbeamter, sozialer Diagnostiker und sozialer Therapeut‘ sein; ,auf ein Lot Jurisprudenz‘ muß ,ein Zentner Menschen- und Lebenskenntnis‘ kommen”, fordert vor zwanzig Jahren schon Fritz Bauer(38). Wie aber sollte ein solches Desiderat erfüllbar werden angesichts einer unter Formalismen nahezu erstickenden, nicht nur psychologie- und soziologieblinden, sondern letztlich lebensfeindlichen Justiz, die, Vorschläge zur Ausbildungsreform(39) geringschätzig vom Tisch wischend, ihren Nachwuchs – zwei Generationen nach Radbruch und taub für das Thema „Strafrechtsreform” — immer noch weitestgehend dem alten Stil verpflichtet antiinnovatorisch heranbildet?
Und wie sollte den vom Apparat zwangsangepaßten Strafjuristen geholfen werden bei der Verarbeitung ihrer dabei unvermeidlichen persönlichen Konflikte, soweit sie sich dem Risiko der Bewußtmachung überhaupt zu stellen die Kraft und den Mut haben, wenn ihnen psychotherapeutische Hilfe (etwa im Stile der Berufskonflikte aufarbeitenden Balint-Gruppen für Ärzte) die alten Konflikte zwar nehmen würde, doch – innerhalb des bestehenden Systems – neue, wenngleich bewußtere und ichhafter auszutragende nicht ersparen könnte? Für die Mehrzahl wohl reduzieren sich die Chancen zu persönlicher Entlastung und Neuorientierung auf das Zustandekommen einer Justizreform im allgemeinen. „Justizreformer müssen zweierlei tun: die Ersetzung von Magie durch Rationalität betreiben und die Symbiose juristischer Macht und ideologisch verschleierter Herrschaft zerstören”, konstatiert Ostermeyer(40). Zwar sei klar, „daß die richtige justizreformerische Strategie noch nicht gefunden ist”, doch „nicht die Jurisprudenz selbst, nur soziologisches und psychoanalytisches Rüstzeug kann Haltungen wie Obrigkeitlichkeit, Demokratieunverständnis und Klassenjustiz aufdecken”(41).

Human- und Sozial­wis­sen­schaften müssen gelernt werden

Sollte aber Juristerei dann doch noch eines Tages wirkliche und selbstkritische Wissenschaftlichkeit wie wirksame Humanisierung ernst gemeint ins Auge fassen, so müßte sich ein gründlicher Sinneswandel und intensive Kenntnisnahme der psychologischen und soziologischen Erfordernisse vollziehen. Es dürfte dann nicht länger bei bloßen Deklamationen und Lippenbekenntnissen bleiben, wie sie etwa im Jugendgerichtsgesetz, das vor vierundzwanzig Jahren als „fortschrittlich” gefeiert wurde und doch auch damals schon kaum noch als Alibi getaugt hat, in § 37 und den Richtlinien dazu niedergelegt worden sind. Hübsch unverbindlich heißt es dort, daß Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein „sollen”; Kenntnisse u.a. in Pädagogik, Jugendpsychologie und Soziologie seien „von besonderem Nutzen”; den bei Jugendgerichten Tätigen wird „empfohlen”, mit Vereinigungen und Einrichtungen, die der Jugendhilfe dienen, „Fühlung zu halten”. Folgerung: Wer keine Lust hat, kann’s durchaus lassen; der gerichtliche Dunstkreis muß nicht etwa verpflichtend überschritten
werden, es langt auch, wenn mal einer eine Weile beim Vormundschaftsgericht gewesen ist.
In Zukunft freilich wird das einmal nicht mehr reichen: „Kenntnisse in Jugendpsychologie” etc. werden nicht nur „von besonderem Nutzen” sein, unabdingbar wird ein fundiertes Umgehen mit dem Wissen aller einschlägigen Human- und Sozialwissenschaften notwendig werden, darunter vor allem mit den Erfahrungen der Psychoanalyse, die nun einmal „das einzig greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft” ist(42). Teilnahme an Hausbesuchen von Sozialarbeitern in verwahrlosten Familien, Erleben auch der Innenseite von Gefängnismauern, Praktika in sozialtherapeutischen Anstalten u.ä. werden auf dem Ausbildungsprogramm künftiger Strafjuristen stehen müssen. Andernfalls ist nach Meinung eines methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Richters, Helmut Ostermeyers, anderes zu gewärtigen: „Wenn die Juristen sich weigern …, den schwarzen Kittel des rituellen Richters gegen den weißen des wissenschaftlichen Sozialarztes zu vertauschen, … wird die Gesellschaft es irgendeinmal aufgeben, ihnen wie einem lahmen Gaul zuzureden … Sie wird sich mit weniger Mühe neue Sozialärzte heranbilden und die Juristen rechts liegen lassen“(43).

III. Vollzug: Freiheits­s­trafen als Maßnahme zur Verhütung von Krimi­nai­täts­rü­ck­gängen

Eine Gesellschaft ist krank, wenn ihre fundamentalen Institutionen und Beziehungen… so geartet sind, daß sie die Nutzung der vorhandenen materiellen und intellektuellen Mittel für die optimale Entfaltung der menschlichen Existenz nicht gestatten.

Herbert Marcuse(44)

Straf­ver­hänger wissen nichts vom Straf­vollzug

Bei der Strafverhängung trägt der gerichtliche Gaul ideologische Scheuklappen, die bewirken, daß die eigentliche Strafvollstreckung als realer Vorgang mit realen, obschon nicht absehbaren Folgen fast gänzlich hinter mundgerecht gemünzten Wortformeln verschwindet: eine verhängte Strafhöhe etwa sei „sowohl tat- wie schuldangemessen”. Ähnliche Leerformeln finden sich in Urteilsbegründungen, wenn das Potpourri der offiziellen Strafzwecke, die es zu erreichen gelte, angestimmt wird; in Frage kommen Sühne, Abschreckung, Besserung und Schutz der Gesellschaft. Wenn einzelne Strafzwecke sich bei nur etwas genauerem Hinsehen als unvereinbar erweisen —„Sühne” und „Besserung” etwa harmonieren ja wohl kaum mehr als die gleichzeitige Verwendung von Öl und Wasser als Mittel zur Brandbekämpfung —, so qualifiziert sie das fast um so besser für die Erfüllung ihrer Pilatusfunktion: Einer scheint immer dafür zu taugen, „im Namen des Volkes”, doch sorgfältig vom Gericht rationalisiert, auf daß die erforderliche Unbewußtheit beibehalten bleibe, die im Auftrag des kollektiven Ichs geforderte Strafe gegenaggressiv zu vollziehen.

Die falsche Hoffnung: das Jugend­ge­richts­ge­setz von 1953

Schon einmal – fast eine Generation liegt das zurück – hätte man meinen und hoffen können, daß wenigstens angesichts von Jugendlichen die „Resozialisierung” (in Wahrheit müßte es freilich fast immer um Nachholung von Sozialisation gehen) eindeutig dominieren werde. Doch selbst das war nur sehr bedingt der Fall: Zwar ließen Kommentatoren zum Jugendgerichtsgesetz von 1953 es damals nicht an Beteuerungen fehlen, daß man es hier also nun mit einem „echten Erziehungsstrafrecht” zu tun habe, das „von dem jungen Menschen” ausgehe, „den Menschen in en Mittelpunkt” stelle, und dabei werde „ein klares Ja gesprochen zum Menschen, der gerade in seiner Jugend des besonderen Verständnisses bedarf“(45). Einmal abgesehen von dem impliziten Eingeständnis, daß ein erwachsener Straftäter folglich nicht primär als Mensch gesehen wird, daß ein klares Ja statt zu ihm zu irgendetwas fiktivem anderen gesprochen wird und daß er nicht etwa auf Verständnis rechnen kann: Weder zeigt der Gesetzestext durchgängig einen solchen Tenor, noch erwiesen sich die Jugendgerichte rechtsgestalterisch ihrer Erziehungsaufgabe als hinlänglich gewachsen, noch wird in Jugendgefängnissen eindeutig, konsequent und dazu befähigt ein „Strafvollzug der positiven Zuwendung“(46) praktiziert.
Aber schon der Ausgangspunkt war schief: So hat ein Urteil auf Jugendstrafe zu lauten, „wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel”, d.h. die der Jugendstrafe vorgelagerten Möglichkeiten, „zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist” ( § 17 II JGG). Was schädliche Neigungen sind, bleibt undefiniert; daß sie erst in der Tat zutagetreten müssen, bleibt unreflektiert; und ebenso, warum denn gerade Jugendstrafe das Übel zu beheben imstande sein soll. Jedoch, was tut’s? Ist die Schuld nur schwer genug, muß sowieso gestraft werden, ob das weitere Unheil vorhersehend oder auch blind, ist am Ende ziemlich egal. Und was schon tut’s, wenn von der Achtelmillion jährlicher Verurteilungen von jungen Leuten unter 21 doch ohnedies nur ein Zehntel auf Jugendstrafe lautet und davon noch einmal die Hälfte zur Bewährung ausgesetzt wird? Das sind schließlich nur um die 6000, die als Jugendliche und Heranwachsende pro Jahr in den Knast wandern(47). Den anderen tut es ja sogar gut, daß gerade die paar am meisten Geschädigten für die weitere Schädigung im Knast herangezogen werden.

Drei Ärgernisse im Jugend­s­traf­vollzug

Würde im Jugendstrafvollzug „Erziehung” stattfinden (was freilich nahezu immer Heilerziehung bzw. Psychotherapie bedeuten müßte), so wäre dies der seltene Fall, wo der behauptete Strafzweck der „Besserung” vielleicht erreicht würde. Indessen: Der Verdacht ist zu hegen, daß der Schaden, den delinquente Jugendliche anrichten, für die Gesellschaft noch das geringste Ärgernis darstellt. Größer dürfte das Ärgernis sein, das sie bereiten, indem sie der Gesellschaft mit ihrem Tun deren Versäumnisse an ihnen vor Augen führen. Aber der stets kluge Gesetzgeber wußte wie immer Abhilfe, griff in die Mottenkiste und holte aufs neue das alte Alibi hervor, daß dort, wo ein jugendlicher Tunichtgut es gar zu arg treibt, die Schuld daran hast-du-nicht-gesehen ihm selber in den Schuh geschoben werden kann. Keine Abhilfe gibt es allerdings für ein drittes und darum auch das größte Ärgernis: wenn straffällige Jugendliche allein durch ihr Alter immerhin dann doch noch eine gewisse Geste der Hilfe herausfordern. Denen darf man allenfalls hinter vorgehaltener Hand dafür böse sein, daß sie noch keine ausgewachsenen Kriminellen sind, denen gegen-über es nun mal leichter fällt, eben einfach nur noch gegen sie zu sein.
Daß das Gegen-sie-sein-können wenigstens bei erwachsenen Delinquenten die meistgewollte Haltung der Mehrheit der Öffentlichkeit ist, läßt sich klar belegen: Würde sie Kriminalität wirklich maximal verhüten wollen, würde sie durch eine wesentlich veränderte Sozialpolitik, womit sie die sozialen (und damit bereits einen Teil der psychologischen) Ursachen behöbe, entschlossen Prophylaxe betreiben. Sie würde ferner Strafanstalten schleunigst in Institutionen umwandeln, in denen die Bemühung um Hilfe und Heilung oberstes Ziel wäre, und nicht nur für wenige, nach besonderen Kriterien Auszusondernde ausnahmsweise die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt ermöglichen.

Die dauerhaft verschobene Reform: Sozial­the­ra­peu­ti­sche Anstalten

Wie überaus zögernd unsere Gesellschaft sich selbst da verhält, mag allein schon daran abgelesen werden, daß der ursprünglich für den 1. 10. 1973 vorgesehene Eröffnungstermin für die sozialtherapeutischen Anstalten zuerst auf den 1. 1. 1975 und dann noch einmal auf den 1. 1. 1978 verschoben worden ist. Ohne Zweifel ist der Aufschub symptomatisch: Daß kein Geld für die teuren Anstalten da sei, erweist sich als platte Ausrede, sobald zugegeben würde, daß es im Endergebnis sehr viel teurer kommt, besonders gefährdete und gefährliche Straftäter ohne Behandlung in bloße Sicherungsverwahrung zu geben. Und auch das entpuppt sich als Ausflucht, wenn beim „normalen” Straftäter, der „preisgünstiger” therapiert werden könnte, lieber vielfache Rückfälligkeit, die Unterhaltung bastionsartiger „Justizvollzugsanstalten” und in ihnen ein künstliches Rentnerdasein ohne „volkswirtschaftlichen Nutzen” in Kauf genommen wird. Mögen sich Soziale und Asoziale in ihrer Liebe zum Geld wenig unterscheiden – ihren Affekt lassen sich die Sozialen, wie es scheint, liebend gern eine ungleich größere Menge kosten(48).

Das Straf­voll­zugs­ge­setz von 1976

Ein weiteres ist signifikant: Als rechtliche Basis dafür, daß fraglos gestraft werden darf, hatten wir ein rundes Jahrhundert lang unser StGB, das in den Grundzügen seit 1871 festlag; dafür, wie gestraft wurde, existierten aber nur höchst fragwürdige Verwaltungsvorschriften; was Priorität hatte, war absolut eindeutig. Ohne durch ein geltendes Gesetz dazu legitimiert zu sein, nahmen wir uns das Recht, Menschen zusammen mit der Freiheit Grundrechte zu entziehen oder zu schmälern. Endlich am 14.3. 1972 bequemte sich das Bundesverfassungsgericht festzustellen, daß der Zustand ohne entsprechendes Gesetz verfassungswidrig ist. Im selben Jahr legte die Regierung, nachdem die Strafvollzugskommission bereits fünf Jahre daran gesessen war, einen Entwurf vor, der, nachdem er hier und da und dort zurechtgestutzt worden ist, mit dem Strafvollzugsgesetz von 1976 endete, das äußerst maßvoll bleibt in puncto Geldausgaben und überaus mäßig in puncto Progressivität. An frommen Wünschen freilich fehlt es nicht, so wird etwa deklamiert: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel)” ( § 2 StVollzG).

Was trägt das Gesetz zum „Voll­zugs­ziel” bei?

Was trägt das neue Gesetz konkret zur Erreichung des „Vollzugsziels” bei? Schon in der Diktion erinnert es in vielem an seine Vorgängerin, die Dienst- und Vollzugsordnung (DVollzO) und deren formalistisch-pedantische Bestimmungen, die allenfalls rhetorisch auf die wirklichen Bedürfnisse der Gefangenen und kaum je auf deren zukunftsgerichtete Anliegen einging. Erstaunlich vieles „soll” lediglich von seiten der Anstalt geboten oder ermöglicht werden, „muß” es nicht etwa und „kann” auch unterbleiben; dekuvrierend sind hier Passagen der § § 37 (der überdies erst am 1. 1. 80 in Kraft tritt) und 38:

„ § 37. (2) Die Vollzugsbehörde soll dem Gefangenen wirtschaftlich ergiebige Arbeit zu-weisen und dabei seine
Fähigkeiten, Fertigkeiten und Neigungen berücksichtigen.
(3) Geeigneten Gefangenen soll Gelegenheit zur Berufsausbildung, beruflichen Fortbildung, Umschulung oder
Teilnahme an anderen ausbildenden oder weiterbildenden Maßnahmen gegeben werden.
(4) Kann einem arbeitsfähigen Gefangenen keine wirtschaftlich ergiebige Arbeit oder die Teilnahme an
Maßnahmen nach Absatz 3 zugewiesen werden, wird ihm eine angemessene Beschäftigung zugeteilt.
§ 38. Unterricht. (1) Für geeignete Gefangene, die den Abschluß der Hauptschule nicht erreicht haben, soll
Unterricht in den zum Hauptschulschluß führenden Fächern oder ein der Sonderschule entsprechender Unterricht
vorgesehen werden…”

Nicht vorgesehen sind selbstverständlich Gefangene, die sich zur Ablegung der mittleren Reife oder gar des Abiturs eignen würden; ein ordentlicher Krimineller hat nun mal in altgewohnter Weise einzubrechen und nicht etwa zu neuen Bildungsufern aufzubrechen. Er hat gefälligst der Unterlegene zu bleiben; sinnvollerweise „unterliegt” er denn auch nach dem neuen StVollzG nicht wenigem, was er zu beachten, zu unterlassen oder sich gefallen zu lassen hat(49). Umgekehrt kann manches, was einem Gefangenen gewährt worden ist, dann rückgängig gemacht oder entzogen werden, wenn dies „Sicherheit und Ordnung” erfordern, Kategorien, die im übrigen undefiniert bleiben, also nach Gutdünken gehandhabt werden können.
Was das Entgelt für die im Gefängnis getane Arbeit des dazu „Verpflichteten” angeht ( § § 41 und 43), so beschränkt sich das auf ein Almosen von 5% des durchschnittlichen Einkommens aller Rentenversicherten; über eine Erhöhung wird zum 31. 12. 80 „befunden” ( § 200). Und selbstverständlich hängt am Einkommen die Sozialversicherung! Was schließlich Behandlung angeht — ich meine die vordringliche der kaputten Psyche der Inhaftierten —, so ist hiervon im anomalen Normalfall praktisch keine Rede. Keine Chance hatte demgegenüber der überwiegend von denselben Verfassern, die schon den AE zur Strafrechtsreform vorgelegt hatten, entwickelte Alternativentwurf zum Regierungsentwurf für das Strafvollzugsgesetz: er war viel zu konkret, zu konsequent und zu therapieorientiert. Stattdessen trat ein, was Horst Schüler-Springorum schon vor sieben Jahren befürchtete und voraussagte(50): Ein „Vollzugsförderungsgesetz” ist das Strafvollzugsgesetz nicht geworden.

Was bedeutet eigentlich Freiheits­s­trafe?

Fragen wir nun: Was bedeutet und beinhaltet Freiheitsstrafe, die im Bewußtsein der Allgemeinheit so unbedingten Vorrang hat vor allen Alternativen?! Daß Besserung im Gefängnis praktisch nicht stattfindet, daß Abschreckung nahezu nicht funktioniert: inoffiziell hat sich das Wissen davon ja doch fast schon allgemein herumgesprochen. Aber auch das Argument der öffentlichen Sicherheit“ sticht nur wenig, die „Gemeingefährlichen” unter den Delinquenten stellen schließlich eine recht kleine Minderheit dar (es sei denn, daß auch Eigentumstäter — Eigentums- und Vermögensdelinquenz machen rund drei Viertel der Gesamtkriminalität aus — in unserer besitzbesessenen Gesellschaft als gemeingefährlich gelten sollen). Doch bei aller Besitzfixierung: die Begründung wäre zu flach, denn zwischen dem Fetisch Eigentum und dem Strafreflex Freiheitsentzug gibt es letztlich keinen einleuchtenden Zusammenhang. Also doch Sühne, Buße, Vergeltung? Es sieht in der Tat so aus.
Soviel steht dabei fest: Geldstrafen oder vergleichbare Sanktionen wären in jedem Fall nur Partialstrafen, hingegen wird Freiheitsentzug als Totalstrafe erlebt, und zwar sowohl von den Inhaftierten selbst wie auch von denen, was nicht minder wichtig ist, die Wert darauf legen, daß Einsperrung im Gefängnis — und das heißt zugleich Aussperrung aus der Gemeinschaft der anerkannt Sozialen — geschieht.

Die Freiheits­s­trafe trifft das Zentrum des Selbst

Die Freiheits- als Totalstrafe zielt darauf ab, das Selbst des Bestraften wie seine Triebe zentral zu treffen. Selbständigkeit und Selbstachtung, Möglichkeiten zu Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, die freie Wahl von Mitmenschen, mit denen man umgehen möchte, ein Anspruch auf Privatsphäre werden massiv vermindert bis ausgeschaltet. Herabgesetzt bis völlig entzogen werden die Befriedigungsmöglichkeiten des Bewegungsdranges, des Sexualtriebes, jedenfalls in der Normalform mit einem andersgeschlechtlichen Partner, und gesunder Aggressionen, wie sie sich etwa im Wunsch nach persönlichem Fortkommen, in Bestätigungs- und Leistungswillen ausdrücken. Da werden also Leute, die meist nichts nötiger hätten als tragfähige und zuverlässige soziale Bindungen, genau daran gehindert; da wird Menschen, die ihre Sexualität und Aggressionen oft ohnehin nicht haben integrieren können, ein normales Ausleben ebendieser Bedürfnisse unmöglich gemacht; da werden psychisch längst Lädierte noch weiter in Fatalismus aus Ohnmacht, in Depression, Masochismen, Hypochondrien, Hysterie, Selbsthaß und Selbstmordideen getrieben und zum Annehmen pathologischer Sozialformen und Lernmodelle gedrängt. Und die Fähigkeit zum Umgang mit der Realität, falls je vorhanden, geht allmählich verschütt und wird für die Zeit nach der Entlassung weiter erschwert, indem man den Häftling weder vernünftig arbeiten und verdienen ließ, noch ihn kranken- und sozialversicherte.

Der Sog zum Rückfall

Paradoxerweise kann die Sehnsucht nach Freiheit angesichts der damit aufkommenden Spannungen und begründeten Ängste (kaum Geld, keine Arbeit, keine Wohnung, oft keine helfenden Angehörigen und Bekannten, Stigmatisiertsein und Ablehnung durch die „Sozialen”) umschlagen in Sehnsucht nach der „Geborgenheit im Gefängnis”. Zumal es nicht selten Ähnlichkeit hatte mit der Erfahrung eines lieblos-kalten Kindheitsmilieus, an das der aus der Haft Entlassene mangels erhaltener Psychotherapie weiter traumatisch fixiert ist, liegt es zudem vom Unbewußten her nahe, daß ein neues Delikt sich scheinbar als „Problemlösung” anbietet. Aber selbst dann, wenn er dem Sog zum Rückfall entgehen kann, ist ein ehemaliger Sträfling danach fast immer ein noch lebensuntüchtigerer Mensch als er es vorher sowieso schon war. Und anscheinend will die Gesellschaft das so. Helga Einsele jedenfalls, selbst „Ehemalige”, zwar Strafanstaltsleiterin, aber eine mit Herz und Verstand, hat daran keinen Zweifel: „Bestimmt braucht man ,den anderen` als Sündenbock und Machtobjekt…“(51).

Lebens­läng­lich: die totale Existenz­ver­nich­tung

Gleichwohl: Was Gefangene während ihrer Knastzeit über Wasser hält, ist die Hoffnung auf ihr Leben nach der Entlassung. Mag sie noch so sehr mit Ängsten vor dem Leben draußen und der Gefahr erneuten Scheiterns vermischt, oder mag sie noch so sehr von Illusionen durchsetzt sein — sie schränkt die Totalität der Freiheitsstrafe immerhin in zeitlicher Hinsicht ein.
Räumlich und zeitlich total und damit identisch mit Existenzvernichtung wird die Einschränkung für die zu lebenslangem Freiheitsentzug Verurteilten. Daran ändert sich auch nicht viel, wenn ein Lebenslänglicher irgendwann einmal – bei uns derzeit noch selten diesseits der 20-Jahres-Grenze — begnadigt wird (eine Abschätzung der faktischen Haftdauer ist insofern nicht möglich, als eine eventuelle Begnadigung ins persönliche Ermessen des Ministerpräsidenten des jeweiligen Bundeslandes gestellt ist(52): Wer mit, sagen wir, 28 Jahren verurteilt wurde und als runder 50er vielleicht begnadigt wird, ist mit Sicherheit ein menschliches Wrack. Ungelebt gebliebenes Leben ging unter in Resignation, außer infantiler Anpassung konnten kaum Techniken zur Daseinsbewältigung erlernt werden, seelische Verkrüppelung ist unausbleiblich. Ein solcher Mensch, für den es beinahe zu allem zu spät ist, wird kaum noch einmal heimisch werden in der Welt auf der anderen Seite der Gefängnismauern.
„Wer ein Mensch bleiben soll, darf nicht ohne Hoffnung sein. Insofern ist die lebenslange Strafe unmenschlich. Sie ist reinste Vergeltung”, sagt Heinz Kraschutzki(53). Er, Antes und Erhardt, im Grunde alle, die „Lebenslängliche” wirklich erlebt haben, halten Strafen, die über 10 Jahre hinausgehen, für absolut sinnlos, weil nur noch deformierend und jegliche positive Wirkung ausschließend. Doch nach Einsele, Feige und Müller-Dietz, die hier mit Recht einen „gewissen sachlichen Zusammenhang mit der Problematik der Todesstrafe” sehen, gleicht „jeder Versuch einer rationalen Auseinandersetzung auf diesem Gebiet einem Kampf gegen Windmühlenflügel“(54). Der Grund erscheint klar: Bei den zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten handelt es sich allermeist um Mörder, also um Tabubrecher par excellence – und einen solchen kann sich das Strafverlangen des kollektiven Unbewußten am allerwenigsten entgehen lassen!
Dabei behaupte ich, daß eben dieser Mörder oder Totschläger von der Alllgemeinheit letztlich nur als Vorwand benutzt wird, daß es ihr also gar nicht so sehr nur um sein Opfer geht, denn: Dieselbe Öffentlichkeit, die nach dem Mord an einem Taxifahrer womöglich nach der Todesstrafe ruft, nimmt kaum Anstoß daran, wenn ein anderer Taxifahrer infolge eines konfliktbedingten menschlichen Versagens, das im übrigen von dem des Taximörders nicht etwa grundverschieden sein muß(55), einen Mitmenschen zu Tode fährt. Und einem anderen Tabuverletzer, der mangels intakter Psyche ein Kind sexuell mißbraucht und umbringt, wollen biedere Mitbürger gar „jeden Tag ein Stück vom Leibe abschneiden“(56), während ein anderes Kind von seinen psychisch kaum weniger deformierten, nur eben im eigenen Schlafzimmer statt hinter einem Busch im Park agierenden „Erziehungsberechtigten” zu Tode gequält wird; aber die bleiben von der Öffentlichkeit unbehelligt(57).

Strafe als Aggres­si­ons­ab­fuhr gegenüber Schwächeren

Worauf es in einer Gesellschaft, die immer noch auf der Mechanik von Unterdrücken und Unterdriicktwerden aufbaut, wenngleich kaschiert, so dennoch offenkundig ankommt, ist die Schaffung von Möglichkeiten zur Aggressionsabfuhr noch immer gegenüber ausgewählten Schwächeren und zur Schuldprojektion auf dazu abgestempelte Sündenböcke. Eines der hervorragendsten Mittel, die Arrangements zu legitimieren, die dabei vorgenommen werden müssen, um daraus Selbstbestätigung zu ziehen, bieten Strafrecht, Strafjustiz und Strafvollzug.
Zuwendung zu Mitmenschen statt deren Ausstoßung und Bestrafung: gewiß ist sie das ursprünglichere Bedürfnis, nur – inmitten materiellen Überflusses scheinen die meisten, mit Liebeszufuhr selbst zu kurz gekommen, unfähig zu sein, sie zu verwirklichen(58).

IV. Resümee: Rchts­set­zung und Rechts­an­wen­dung in Rückkop­pe­lung mit der straf­fi­xierten Gesell­schaft

Ein Kulturklima der Aggressivität

1. Unsere Kulturgeschichte ist durchzogen von existentiellen Einschränkungen, vor allem von Triebeinschränkungen nach Vorstellungen, die die jeweilige Mehrheit oder auch die über sie herrschenden Gruppen glauben durchsetzen zu müssen, sei es, um vermeintlich den Bestand der Gesellschaft zu gewährleisten, sei es, um Eigeninteressen abzusichern. Die dazu geforderte Triebunterdrückung erzeugt ein liebearmes, aggressives Kulturklima, in dem bevorzugt sadomasochistische Haltungen gedeihen und ein Fühlen und Denken in Kategorien von Gut und Böse, von Schuld und Strafe(59). Die latenten, durch libidinöse Frustration sich steigernden und, weil verdrängt, primitiv bleibenden Aggressionen führen zur Verfolgung, Bestrafung und Ausstoßung von Normabweichern. Bei diesen Vorgängen kommen den als sozial Geltenden Strafrecht und Strafjustiz rationalisierend und legitimierend zu Hilfe. Unter ihrem Schutz können aggressive Regungen im Unbewußten der „Sozialen” auf „Asoziale” projiziert und an ihnen abgestraft werden. Insoweit die Sozialen mit den Asozialen unbewußt identifiziert sind, erreichen sie so zugleich das als notwendig empfundene Stück Selbstbestrafung. Außerdem erhöhen sie damit ihre eigene Bereitschaft zum Triebverzicht(60).

Die Funktion der Asozialen für die Gesell­schaft

2. Die Asozialen werden von den Sozialen zur Erfüllung lebenswichtiger Funktionen verwendet, weshalb ihre Bekämpfung so arrangiert wird, daß ihre Erhaltung gleichzeitig garantiert bleibt. Als soziale Hauptfunktionen der Kriminellen für die Angepaßten nennt Ostermeyer, im Anschluß an Reiwald, deren Benutzung zur Aggressionsabfuhr in einer Weise, die zugleich die eigene Moral stärkt, zur Selbstbestätigung und zur Schuldprojektion. Weniger tiefenpsychologisch und mehr soziodynamisch akzentuiert Hochheimer, dem zufolge bestimmte psychische Grundhaltungen, die die Gesellschaft mit formiert haben, zwangsläufig bestimmte Gegenhaltungen bedingen. Ähnlich Plack, der in der Art der vorkommenden Verbrechen eine direkte Wirkung der gesetzten Normen sieht. Den Ursinn der Strafen erblickt er, komplementär dazu, im Entzug einer Befriedigung als Konsequenz aus einer auf andere Art verschafften Befriedigung, die jedoch verboten ist. Auf jeden Fall rufen Angriffe auf die Ordnung der Gesellschaft Gegenaggressionen hervor: aus der Unterdrückung entsteht ein Kreislauf, der die Gesellschaft in sozialer Krankheit gefangen hält.

Die Ratio­na­li­sie­rungs­funk­tion des Strafrechts

3. Wenn ein Staat die von ihm zu Strafe Verurteilten defacto nicht erzieht oder heilt, sondern weiter einem desozialisierenden Strafvollzug aussetzt, wenn er „Reformen” durchführt, die überaus zögernd auf eine Verringerung von Kriminalität zugeschnitten sind (vgl das erneuerte StGB, besonders § § 13 und 17, und das brandneue StVollzG insgesamt), dann dient er damit einer unter den von ihm Vertretenen weit verbreiteten und entschiedenen, bewußten oder unbewußten Strafabsicht. Die somit bestehende prinzipielle Fragwürdigkeit der gesetzgeberischen Basis muß, da die Gesellschaft sich ja als „moralisch” verstehen möchte, allerdings unkenntlich gemacht und überdeckt werden. Das geschieht im Strafgesetzbuch samt der Strafprozeßordnung durch Verabsolutierung einzelner Prinzipien (Gesetzesgebundenheit, Normativität des Rechts u.ä.) und durch exzessive Rationalisierung und Formalisierung immanenter Irrationalismen. Zweckmäßigstes Prinzip, wodurch ein Strafrecht unzweckmäßig gemacht werden kann — und das muß es ja, wenn es zur Offenhaltung des Grabens zwischen Sozialen und Asozialen den Fortbestand von Kriminalität zu garantieren hat —, ist das Schulddogma. Entsprechend muß der Umgang mit Angeklagten und Verurteilten, was schon Reiwald hervorhob, apsychologisch geschehen: Wozu Delinquente, wozu Menschen überhaupt fähig und bereit sein können, wird nicht gemäß ihrem Sein ermittelt, es ist längst vor der konkreten Begegnung mit ihnen im Sinne eines utopischen Sollens präjudiziert. „Entschluß” zu und „Vorsatz” bei einem Delikt sowie dessen „Vorwerfbarkeit” sind a priori vorausgesetzt. Fazit: Das Strafwesen bietet das klinische Bild einer Realitäten verleugnenden, Emotionen verschiebenden, teils wahnhaft, teils phobisch getönten Zwangsneurose. Mit ihm konfrontierte Menschen werden allzu oft zum Objekt bloßer Fiktionen, wofür die teils fiktiven, teils irrealen offiziellen Strafzwecke, von denen einige einander überdies psychologisch ausschließen, ein eindrucksvolles Beispiel sind.

Das Rollen­ver­halten der Straf­ju­risten

4. Strafjuristen haben sich von Berufs wegen in den Dienst der Ermöglichung und Durchführung der „Sozialfunktion” des Strafrechts zu stellen, wobei sie im allgemeinen die Produkte des Gesetzgebers unkritisiert hinnehmen(61). Ihr naheliegendes unbewußtes Unbehagen decken sie mit Eifer zu, indem sie die vorgegebenen Grundlinien der Gesetze weiter profilieren und die Formalisierung perfektionieren und systematisieren, wodurch das materielle Recht zu einer „disponiblen und fungiblen Formhülle“(62) wird. Vorstrukturierte zwanghafte Merkmale des Strafrechts werden durch entsprechend vorgeprägte Anwender ausgebaut und bekommen den Charakter neurotischer Symptome. So zu deuten sind die Isolierung der Tat vom Täter, die Verschiebung der Energie auf Unwesentliches, Ritualisierung der gerichtlichen Prozeduren, Rationalisierung irrationaler subjektiver Maßnahmen zu vorgeblich rationalen objektiven Notwendigkeiten (Beweiswürdigung, Strafzumessung), Prinzipientreue und Ordnungsdenken, ideologische Sauberhaltung der Gerichtssäle unabhängig davon, wie es in den Gefängniszellen aussieht(63). Die Funktion dieser Symptome ist Konfliktvermeidung, Identifikationsabwehr, Selbstbeschwichtigung, aber auch Selbstbestrafung. Der persönlichen Entlastung dient ferner die in „Vorurteilsgehorsam“(64) und „Organisationsverhaftung” sich ausdrückende Identifikation mit dem Apparat(65). Persönlich besonders belastend muß trotzdem noch wirken, daß Strafjuristen berufsbedingt eigentlich zu Aggressivität verpflichtet sind; dies wird, oft wohl zusammen mit den beruflich frustrationsbedingten Aggressionen, in der Regel freilich aus dem Bewußtsein verdrängt. So muß man allgemein, wenn man „die Psychodynamik” des Strafjuristen, seine Vorverständnisse, Vorurteile, Konflikte zum Gegenstand der Erörterung oder gar psychoanalytischer Bearbeitung“ macht, „immer noch mit dem Befremden und der heftigen Abwehr der Betroffenen rechnen“(66).

Strafen­können hat Vorrang vor Helfen­wollen

5. Strafgerichte rationalisieren das kollektive Bedürfnis nach Bestrafung und ermöglichen damit seine Realisierung erst recht in voller Intensität, ein Vorgang, den die Bestrafer seiner triebhaften Wurzeln wegen besonders vor sich selbst verborgen zu halten bedacht sind. Dabei kommt es vor allem auf die Überdeckung immanenter Widersprüche an, die allerdings an vielen Stellen kaum noch zu bemänteln sind. So etwa scheut sich das Jugendstrafrecht, obgleich es nicht auf den antitherapeutischen Schuldbegriff verzichtet, keineswegs, sich ein Erziehungsstrafrecht zu nennen; und Jugendstrafen werden als erforderlich deklariert, auch wenn ihr Vollzug durchaus die Fortdauer der Krankheit Delinquent zur Folge hat. Schon gar nicht die im Erwachsenenvollzug getroffenen Maßnahmen zielen ernstlich auf Verhinderung von Kriminalität ab, wie die Rückfallquoten beweisen. Doch zur Selbstbeschwichtigung scheint es zu reichen, daß erstens überhaupt eine kleine Gruppe von besonders handgreiflich kranken Gesetzesbrechern einer gezielten Sozialtherapie zugeführt werden wird und daß zweitens dieser Schritt für irgendwann einmal auch real vorgesehen ist. Daß Strafenkönnen gegenüber einem auch denkbaren Helfenwollen eindeutig den Vorrang hat, zeigen die immer noch verhängten Freiheitsstrafen, durch deren Totalität Individuen fast unbegrenzt unterjocht werden. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist praktisch der Todesstrafe verwandt(67). Neben der Rationalisierung als der einen Möglichkeit, die eigene Aggressivität zu kaschieren, spielt Aufspaltung der Moral als andere Möglichkeit eine Rolle, es gilt als Unterschied, ob ein Mensch durch einen Mord oder im Krieg, ein Kind durch einen Triebkranken oder seine Eltern umkommt(68).

Keine Reform ohne Bereit­schaft zur Selbst­kritik

6. Mit der Beantragung, Verhängung und Vollstreckung von Bestrafung beauftragte Menschen haben, sofern sie weder sadistische Züge aufweisen (was faktisch durchaus die Ausnahme ist) noch auf die Unzumutbarkeiten mit unbewußten Abwehrmechanismen reagieren (was freilich nahezu die Regel ist), ein Übermaß an Konflikten zu verkraften. Denn eindeutig ist der Hauptgegner eines positiv sozial gesonnenen und bemühten Richters, Staatsanwalts oder Vollzugsbeamten die Jurisprudenz und ihr Apparat selber. Persönlich wäre therapeutische Hilfe bei der Verarbeitung der systemimmanenten Konflikte zweifellos indiziert; institutionell vordringlich (doch vielleicht erst durch eine Art Berufsverweigerung zu erzwingen) wäre eine juristische Ausbildungs- und allgemeine Justizreform von Grund auf. Doch was dazu gefordert wäre — mehr wirkliche Wissenschaftlichkeit, Psychologisierung und Soziologisierung, zugleich mehr Politisierung und Demokratisierung, schließlich wirksamere Humanisierung des gesamten Apparats —, würde Aufrichtigkeit und Bereitschaft zur Selbstkritik in einem Ausmaß voraussetzen, daß darauf zu hoffen längst Utopie sein dürfte(69).

Wollen wir, daß sie Verbrecher bleiben?

7. Zu Recht hat ein Strafgefangener geargwöhnt: „Mir scheint, die wollen, daß wir Lumpen bleiben. Sie brauchen uns wohl, sich die Schuhe zu polieren, aber mehr noch vielleicht zum Verdecken ihrer Blöße.” Unerfreulich, doch alles in allem: Zu schlechterletzt wird Ernst S. Steffen recht behalten, wenn er schreibt(70): „… Es ist schwer, Verbrecher zu sein, wenn man etwas anderes sein möchte. Vor allem aber ist es schwer, etwas anderes zu sein, wenn man Verbrecher ist.”

Anmerkungen

1 In: Zur Psychologie von strafender Gesellschaft, Kritische Justiz, 1/1969, 27—49.
2 Arno Plack: Die Gesellschaft und das Böse — Eine Kritik der herrschenden Moral, München 1967, 5. Auflage 1969, S 117.
3 Horst Schröder: Einführung zum StGB, Beck-Texte, München 1972, S 16.
4 In: Peter Badura/Erwin Deutsch/Claus Roxin (Hg): Das Fischer-Lexikon: Recht (Neubearbeitung), 1971, Stichwort Strafrecht und Strafrechtsreform, S 220.
5 aaO, S 225.
6 aaO, S 226.
7 Vgl Hehn Stierlin: Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen, Frankfurt 1971.
8 Vgl Paul Reiwald: Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, Zürich 1948, neu aufgelegt Frankfurt 1973.
9 In: Das Verbrechen und die Gesellschaft, München 1957, S 134.
10 Vgl Schröder aaO, S 17.
11 Helmut Ostermeyer (I): Strafrecht und Psychoanalyse, München 1972, S 25 f.
12 In: Klaus Antes/Christiane Ehrhardt/Heinrich Hannover: Lebenslänglich — Protokolle aus der Haft, München 1972, S 186.
13 Während ziemlich genau die Hälfte der Bevölkerung zur Unterschicht zu zählen ist, sind 95% der von der Polizei des Diebstahls Verdächtigten und 90% aller Insassen von Strafanstalten Unterschicht-Angehörige — und das, wo spätestens seit drei Jahrzehnten, d.h. seit einer Art kriminologischem Kinsey-Report von J.S. Wallerstein und C.J. Wyle (1947) bekannt ist, daß die Kriminalität etwa von Mittelschichtlern zwar anders, nicht aber seltener ist (vgl Fritz Sack/René König, Hg: Kriminalsoziologie, Frankfurt 1968)! Im übrigen siehe zu dem nicht minder wichtigen soziologischen Aspekt etwa: Rüdiger Lautmann/ Dorothee Peters: Ungleichheit vor dem Gesetz: Strafjustiz und soziale Schichten, Vorgänge 1/1973, 45—54; Johannes Feest/Erhard Blankenburg: Die Definitionsmacht der Polizei, Düsseldorf 1972; Dorothee Peters: Die Genese richterlicher Urteilsfindung und die Schichtverteilung der Kriminalität, Kriminologisches Journal 4/1970,210—232.
14 aaO, S 34ff.
15 In: Sozialtherapie in der Praxis, in: Individuum und Gesellschaft (Hg: Stuttgarter Akademie für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie), Stuttgart 1973, 27—45.
16 Franz Alexander/Hugo Staub: Der Verbrecher und seine Richter, 1929, neu aufgelegt in: Psychoananayse und Justiz, Frankfurt 1971, S 280.
17 Abwehrmechanismen allgemein entschärfen für das Bewußtsein Unbewußtes, das ängstigt oder als verboten gilt. Die im Strafrecht und in der Strafjustiz am häufigsten zu beobachtenden sind die Rationalisierung, die Verschiebung, die Verleugnung und die Projektion. Rationalisierung ist eine verstandesmäßige Scheinbegründung irrationaler und uneingestandener Tatsachen und Vorgänge im Unbewußten; Verschiebung meint die Verlagerung affektiv bedrängender psychischer Inhalte auf ungefährlicheres Nebensächliches; Verleugnung bewirkt, daß unangenehme Sachverhalte gar nicht erst wahrgenommen werden; Projektion liegt dann vor, wenn eigene unterdrückte Impulse an anderen wahrgenommen und bekämpft werden.
18 Reiwald aaO. 
19 Hochheimer aa0, S 34. 
20 Hochheimer aaO, S 31. 
21 Ostermeyer (I), S 51. 
22 Reiwald aaO, 5 102ff. 
23 Ostermeyer (I), S 72 ff.
24 Hochheimer aaO, S 42.
25 Reiwald aaO, S 105 ff.
26 Ostermeyer (I), S 59.
27 Ostermeyer (I), S 59 f.
28 Hans-Jürgen Bruns meint zwar, daß durch die in § 13 II StBG genannten „Strafzumessungsfaktoren” der richterliche Spielraum eingegrenzt sei und die Entscheidung „axiologischen und teleologischen Regeln” folge, die „logisch-rationalen und damit kontrollierbaren Rückhalt geben”. Aber in unserem Zusammenhang und für den Abzuurteilenden ist nichts gewonnen, wenn Richter, statt Strafen nach Gutdünken zu bemessen, „rechtsdogmatisch fundiert” nunmehr der „Konkretisierung der gesetzlichen Werturteile und Vollziehung der gesetzlichen Ziele” sich zu widmen angehalten sind. Zum Glück gibt es Richter, die den Gesetzgeber an Vernunft und Menschlichkeit ein Stück weit überragen! Vgl Bruns in: Peter Badura/Erwin Deutsch/Claus Roxin aaO, Stichwort Strafzumessungsrecht, S 253 f.
29 Helmut Ostermeyer (II): Psychoanalyse und Justiz, Psyche 27 (1973), 594—596.
30 Ostermeyer (I), S 65.
31 In: Über psychodynamische Einwirkungen auf juristische Denk- und Interpretationsmechanismen, Vorgänge 5/1971, S 163ff.
32 In: Justiz — die stille Gewalt, Frankfurt 1972, S 79.
33 aaO, S 101.
34 aaO, S 178.
35 aaO, S 123.
36 aaO, S 173.
37 Herbert Jäger: Psychologie des Strafrechts und der strafenden Gesellschaft, in: Reiwald aaO, S 35.
38 aaO, S 234.
39 Siehe etwa Loccumer Arbeitskreis (Hg): Neue Juristenausbildung, 1970.
40 Helmut Ostermeyer (III): Justizreform — Quadratur des Kreises?, Vorgänge 1/1973,S61.
41 Ostermeyer (III), S 68.
42 Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1971, S 262.
43 Ostermeyer (III), S 69.
44 In: Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft, Frankfurt 1968.
45 Walter Becker: Einleitung zum JGG, Aschendorffs Juristische Handbücherei, Bd 35, Münster 1966, S XIX.
46 Vgl Helga Einsele/Ernst Klee: Das Verbrechen, Verbrecher einzusperren, Düsseldorf 1970.
47 Vgl Spiegel-Serie Jugendkriminalität: Die Täter werden immer jünger, Nrn. vom 1. bis 22. Jan 1973.
48 Als wichtigste Funktionen, zu deren Erfüllung die Asozialen von den Sozialen „gebraucht” werden,
nennt Reiwald aaO sinngemäß die folgenden:
Als dazu besonders geeignete gesellschaftliche Untergruppe haben sie ihnen als Projektionsschirm für eigene, nicht integrierte asoziale Impulse und Affekte zu dienen: damit werden sie zur Absorption sonst autodestruktiver, gesellschaftsimmanenter Aggressionen benutzt; zugleich müssen sie dadurch der Gesellschaft per Kontrast das eigene moralische Ideal verdeutlichen; dies können sie dann besonders gut, wenn sie mit Hilfe der Strafgesetze auch räumlich isoliert und konzentriert, d.h. zu „outcasts” gemacht werden.
Im Anschluß an Reiwald spricht Ostermeyer (in I bzw. der Erweiterung davon in: Die bestrafte Gesellschaft, Ursachen und Folgen eines falschen Rechts, München 1975) von den Funktionen der moralischen Rückgratverstärkung (bzw. der Moralstärkung mit gleichzeitiger Aggressionsabfuhr), der Selbstbestätigung und der Schuldprojektion.
49 Vgl die an dem Kernsatz der DVollzO „Der Gefangene unterliegt der Anstaltsgewalt” festgemachte Glosse von Heinz Müller-Dietz: Das Verhalten der Vorschriften gegenüber Gefangenen, Vorgänge 5/1973, 10—12.
50 In: Was stimmt nicht mit dem Strafvollzug? Hamburg 1970.
51 aaO, S 5.
52 Neuerdings häufen sich immerhin Bestrebungen, die damit verbundene Willkür durch gesetzliche Re-gelungen wenigstens einzugrenzen.
53 In: Die Gerechtigkeitsmaschine, Karlsruhe 1970, S 138.
54 In: Die Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe, Stuttgart 1972, Vorwort.
55 Vgl Antes/Erhardt/Hannover aaO.
56 Vgl Gustav Nass: Die Kriminellen — Seele, Umwelt, Schuld und Schicksal, München 1966, S 156.
57 Vgl Gerd Biermann: Kinderzüchtigung und Kindesmißhandlung — Eine Dokumentation, München! Basel 1969.
58 Zum weiteren Umfeld des Themas siehe: Hans Ch. Dechêne: Verwahrlosung und Delinquenz — Profil einer Kriminalpsychologie, München 1975.
59 Vgl Arno Plack aaO und: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, München 1974.
60 Vgl Alexander/Staub, Reiwald, Plack, Hochheimer, Ostermeyer (I), jeweils aaO.
61 Vgl Bauer aaO.
62 Frielinghaus aaO.
63 Vgl Reiwald und Ostermeyer (I) aaO.
64 Frielinghaus aaO. 
65 Lautmann aaO.
66 Jäger aaO, S 34.
67 Vgl Einsele/Feige/Müller-Dietz aaO.
68 Vgl Hannover in: Antes/Ehrhardt/Hannover aaO.
69 Vgl Bauer, Loccumer Arbeitskreis, Ostermeyer (III), jeweils aaO.
70 In: Lebenslänglich auf Raten, Neuwied/Berlin 1969.

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