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Schuld, Strafe und Straf­zu­mes­sung

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 29-37

Strafe und Strafzumessung orientieren sich bei uns trotz mancher Reformen immer noch vorwiegend am Schuldprinzip. Der bekannte Saarbrücker Strafrechtslehrer untersucht die fortdauernde Problematik anhand der in den letzten Jahren in reformierender Absicht erfolgten Änderungen des Strafgesetzbuches und des Strafvollzugsrechts. Die grundsätzliche Fragwürdigkeit des Schuldstrafrechts und der Bestrafung des Täters kann freilich auch kaum durch noch so viele differenzierende Kautelen aufgehoben werden, konstatiert Heinz Müller-Dietz.

Schuldstrafrecht

I.

Unser Strafrecht gilt als Schuldstrafrecht. Bestraft werden darf nur, wer schuldhaft gegen eine Strafrechtsnorm verstoßen hat. Denn Bestrafung bedeutet eine sozialethische Mißbilligung der Tat. Der Staat, die Rechtsgemeinschaft bringen durch die Bestrafung die Verwerflichkeit der Tat zum Ausdruck. Sozialethisch mißbilligt werden kann aber nur, was dem Täter vorgeworfen werden kann. Strafe setzt – wie es der Bundesgerichtshof einmal in einer berühmt gewordenen Entscheidung festgestellt hat – Schuld voraus. Und sie darf ferner das Maß der Schuld nicht überschreiten. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt diesen Bedingungszusammenhang zwischen Schuld und Strafe bekräftigt. Danach folgen aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes die beiden Prinzipien: Keine Strafe ohne Schuld. Und keine höhere Strafe, als dem Maß der Schuld entspricht. Gegen den Täter muß also ein Schuldvorwurf erhoben, daß Maß seiner Schuld festgestellt werden können. Ihm muß angelastet werden können, daß er sich für das Unrecht, für die rechtswidrige Tat, entschieden hat, obgleich er sich für rechtmäßiges Verhalten hätte entscheiden können. Wer im Zeitpunkt der Tat nicht in der Lage war, das Unrecht seines Handelns zu erkennen, konnte sein Verhalten auch nicht an der Rechtsnorm, gegen die er verstieß, ausrichten; gegen ihn kann ein Vorwurf nicht erhoben werden – er geht daher straffrei aus. Der Vorwurf zielt also nach verbreiteter Lesart darauf ab, daß der Täter nicht anders, also dem Recht gemäß, gehandelt hat, obwohl ihm dies möglich gewesen wäre.

Das Problem der Willens­frei­heit

II.

Die These vom Andershandelnkönnen legt die Prüfung nahe, ob der Täter die innere und äußere Freiheit gehabt hat, rechtmäßig zu handeln. Nun ist seit eh und je streitig, ob der Schuldvorwurf die Anerkennung der Willensfreiheit voraussetzt. Manche meinen, nur wenn der Täter die Möglichkeit gehabt habe, zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Tun zu wählen, komme überhaupt ein Schuldvorwurf in Betracht. Willensfreiheit sei demnach notwendigerweise Voraussetzung eines Schuldstrafrechts. Andere sind der Auffassung, daß ein Schuldstrafrecht auch auf deterministischer Grundlage denkbar sei. Das Strafrecht interessiere sich in diesem Zusammenhang nur dafür, ob sich Menschen hinsichtlich ihres Verhaltens normalerweise durch (Straf-)Rechtsnormen beeinflussen, determinieren ließen, ob Rechtsnormen also im Regelfall hinreichend Gegenmotive im Sinne rechtstreuen Verhaltens setzen könnten. Wenn das akzeptiert werden könne, komme es auch nicht mehr entscheidend darauf an, ob die philosophisch wie empirisch offene Frage nach der Existenz menschlicher Willensfreiheit bejaht werden könne.

Das Problem der Tatumstände

III.

Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens sind indessen nicht allein im Streit um die Willensfreiheit deutlich geworden. Sie beziehen sich auch auf die Ermittlung dessen, was einer in einer bestimmten Situation zu leisten imstande war. Kein (psychologischer oder psychiatrischer) Sachverständiger ist in der Lage festzustellen, ob der Täter nach seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten, seiner Motivation, seiner Persönlichkeitsstruktur, der konkreten Tatsituation und den äußeren Faktoren – kurz: nach all den Umständen, die für die Tatbegehung möglicherweise relevant geworden sind – die Tat hätte vermeiden, sich hätte rechtmäßig verhalten können. Was den Gutachten und dementsprechend auch den Entscheidungen der Gerichte zugrundeliegt, sind mehr oder weniger anerkannte Erfahrungswerte hinsichtlich typischer und atypischer Fälle – Erfahrungswerte, aus denen man dann auf den Einzelfall angewandt zu erschließen sucht, ob dieser der Regel entspricht oder von ihr abweicht, ob also ein Schuldvorwurf erhoben werden kann oder nicht. Im Grunde wird danach gefragt, ob denn der – fiktive – „Normalmensch“ die Tat hätte vermeiden können. Nur wenn im Einzelfall Anzeichen für eine Abweichung von der Regel – etwa ein pathologischer Zustand (z.B. eine Geisteskrankheit) – erkennbar sind, kann der Schuldvorwurf, der normalerweise mit der Bejahung jener Frage verbunden ist, entkräftet werden. Damit verzichtet man aber darauf, die individuellen Handlungsbedingungen und -möglichkeiten des Täters zu ermitteln. Was ihn letztlich dazu trieb, die Tat zu begehen, was ihn davon hätte abhalten können – das alles tritt allenfalls ansatzweise zutage, bleibt in seinem vollen Ausmaß offen.
Damit bleibt aber auch ungeklärt, welches Maß an gesellschaftlicher (Mit-) Verantwortung auf einer Tat lastet. Gewiß werden dem Täter da und dort schichtspezifische, familiäre und berufliche Sozialisationsbedingungen und aus ihnen resultierende Defizite schuldmindernd (und damit strafmildernd) zugutegehalten. Doch geschieht das keineswegs immer und in vollem Umfange. Zudem können den Täter solche Gesichtspunkte im strafrechtlichen Sinne in aller Regel nicht entschuldigen. Er wird zur Verantwortung gezogen und nicht die Gesellschaft — wie sehr auch soziale und ökonomische Faktoren staatliche und gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Versäumnisse anklagen mögen.

Der beabsich­tigte Warnzweck der Bestrafung

IV.

Gestraft wird gleichwohl — von den genannten „pathologischen” Fällen abgesehen, in denen dem Täter eine Ausnahmesituation zugutegehalten wird — um des Beispiels willen: Die Allgemeinheit würde es — so heißt es vielfach — nicht ertragen, wenn Straftaten sanktionslos hingenommen würden. Wäre die Begehung von Delikten — aus welchen Motiven und Gründen auch immer — nicht mehr mit dem Risiko einer (Entdeckung und) Bestrafung verknüpft, so würden — nach ganz überwiegender Meinung in Wissenschaft und Praxis — Straftaten überhandnehmen: die Rechtsgüter des Einzelnen wie der Allgemeinheit wären nicht mehr hinreichend geschützt. Dabei kann man sich fragen, ob und inwieweit jene vielberufene Forderung nach strafrechtlicher Ahndung von Delikten sozialpsychologisch gesehen zugleich auch einem gesellschaftlichen Ausgleichs- oder Vergeltungsbedürfnis und/oder einem latent vorhandenen Neid- oder Versagungskomplex entspringt, der es nicht duldet, daß der Täter mit der Begehung des Delikts etwas tut, was insgeheim jeder tun möchte, aber nicht tun darf. Tatsache ist jedenfalls, daß man sich von der Existenz und Anwendung von Strafrechtsnormen — und damit von der Bestrafung des Täters — wenigstens eine gewisse Abschreckungswirkung verspricht, die manchen (oder gar viele) von der Begehung von Straftaten abhält.
Auf der anderen Seite erscheint dieser Warnzweck der Bestrafung vielfach als negative Kehrseite der positiv gedachten Straffunktion, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Geltungs- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung zu stärken. Hierauf legen Rechtsprechung und Lehre neuerdings besonderen Wert. Es gilt als ausgemacht, daß Strafandrohungen und Bestrafungen nur in begrenztem — freilich nur schwer fixierbarem — Umfange von der Begehung von Straftaten abzuhalten vermögen. Um so mehr verspricht man sich von Strafsanktionen eine generelle Stärkung der Norm- und Rechtstreue. Hiernach erhöht sich die Glaubwürdigkeit einer Rechtsordnung im Allgemeinbewußtsein in dem Maße, in dem eben der Staat auf Straftaten adäquat, und d.h. mit dem Strafübel, reagiert. Davon gehen jedenfalls Strafrechtslehre und -praxis aus. Umstritten ist lediglich, in welchem Umfang dieser psycho-soziale Mechanismus Realitätsgehalt hat; das Ob steht praktisch außer Zweifel.

Die Frage nach dem Zweck der Strafe

V.

Damit ist zugleich angedeutet, welche Funktionen dem Strafrecht und der Bestrafung des Täters zugedacht sind. Freilich regelt das Strafgesetzbuch auch in seiner Neufassung von 1975 die Strafzwecke selbst jedenfalls nicht ausdrücklich. Anders als das 1977 in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz  (das in § 2 dem Strafvollzug die Aufgaben (re-)sozialisierender Behandlung des Gefangenen [Rückfallverhütung] und des Schutzes der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten stellt), kennt es keine Vorschrift, die von den Aufgaben des Strafrechts oder der Strafe spräche. Das hat fraglos seinen Grund in den unterschiedlichen weltanschaulichen, ethischen und politischen Vorstellungen von Sinn und Zweck der Strafe und von der Funktion des Strafrechts. Diese Meinungsunterschiede hatten im Rahmen der Strafrechtsreform nicht überbrückt werden können. Dementsprechend hat der Gesetzgeber auf eine Regelung der Strafzwecke verzichtet. Er hat aber durch die Vorschriften über die Strafzumessung wenigstens zum Ausdruck gebracht, von welchen Gesichtspunkten sich der Richter bei der Verhängung und Bemessung von Strafsanktionen leiten lassen muß. Daran wird einmal – wenn auch mittelbar – deutlich, welche Zwecke der Bestrafung des Täters zugedacht sind. Zum zweiten läßt sich an jenen Regelungen wiederum ablesen, daß das Schuldprinzip ein – wenn nicht der – Grundpfeiler unseres Strafrechts ist. Und schließlich lassen die Strafzumessungsregeln des Strafgesetzbuches einmal mehr die grundsätzliche Problematik und Fragwürdigkeit staatlichen Strafens erkennen.

Kriterien der Straf­zu­mes­sung

VI.

Ausgangspunkt aller Strafzumessungserwägungen bildet § 46 Abs 1 des Strafgesetzbuches. Nach ihm hat sich die Strafzumessung an zwei Gesichtspunkten zu orientieren: „Die Schuld des Täters ist Grundlage der Strafzumessung. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.” Der erste Satz bekräftigt im Grunde nur, was strafrechtliche Lehre und strafgerichtliche Rechtsprechung seit längerem vertreten haben. Der zweite Satz ist – relativ – neu; er kam erst 1969 durch das 1. Strafrechtsreformgesetz ins Strafgesetzbuch. Jene Grundlagenformel wird überwiegend dahin verstanden, daß die Schuld des Täters für Art und Höhe der Strafe das Maß abgibt. Der Strafe ist hiernach die Funktion des Schuldausgleichs zugedacht. Aber diese Aussage wird vom Gesetz selbst relativiert und von Rechtsprechung und Lehre (und nicht nur von grundsätzlichen Kritikern des Schuldstrafrechts) korrigiert.
Die Grundlagenformel ist bewußt unscharf gefaßt. Weder zwingt sie den Richter dazu, bei der Strafzumessung allemal das Maß der Schuld auszuschöpfen, noch verpflichtet sie ihn dazu, sich ausschließlich an der Schuld zu orientieren. Vielmehr weist Satz 2 ausdrücklich auf die Pflicht des Richters hin, in jedem Falle auch die Folgen einer Bestrafung für die künftige Entwicklung des Täters, also individual- oder spezialpräventive Gesichtspunkte, zu berücksichtigen. Das zwingt den Richter etwa zu der Prüfung, ob sich die unerwünschten sozialen Begleitumstände eines strafweisen Freiheitsentzuges im Einzelfall nicht (re-)sozialisierungsfeindlich auswirken würden. Allerdings hat man nicht den Eindruck, daß die Rechtsprechung diesen Gesichtspunkt stets und in gebührender Weise ins Auge faßt und daraus dann auch konkrete Konsequenzen für die Behandlung des Täters ableitet. Der Sache nach bedeutet diese gesetzliche Regelung eine Absage an Vorstellungen von der Funktion des Strafrechts, wie sie den absoluten Straftheorien Kants und Hegels zugrundeliegen. Dementsprechend hat die Strafe nicht (mehr) die Aufgabe, Schuldausgleich, und d.h. praktisch Vergeltung, um ihrer selbst willen zu üben. So hat der Bundesgerichtshof selbst einmal ausgesprochen, Strafe sei vielmehr nur dann zu rechtfertigen, wenn sie sich zugleich als ein notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweise. Der grundsätzliche Ausgangspunkt, wonach die Schuld des Täters als eine Art Orientierungsmarke für die richterliche Strafzumessung zu fungieren hat, ist damit freilich nicht aufgegeben.

Die Problematik des Schuld­aus­glei­ches durch Strafe

VII.

Ebenso bleibt die prinzipielle Problematik bestehen, die Schuld des Täters zu ermitteln und zu wägen. Erscheint es schon praktisch unmöglich herauszufinden, ob der konkrete Täter sich in seiner konkreten Situation hätte normgemäß verhalten können — um wieviel schwieriger muß es sein, das konkrete Ausmaß seiner Schuld zu bestimmen! Schuld kann — so hat man immer wieder gesagt — im Grunde nicht gemessen und gewogen werden. Man kann sich über sie allenfalls ein relatives Urteil durch Vergleich mit anderen — ähnlich oder abweichend gelagerten — Fällen bilden, das dann angesichts der Vielgestaltigkeit des Lebens und menschlicher Taten mit allen Fragwürdigkeiten solcher Vergleiche behaftet ist.
Aber selbst wenn es trotz solcher Schwierigkeiten gelingt (oder gelingen würde), das Maß der Schuld (im Einzelfall) festzustellen — das nach § 46 Abs 1 des Strafgesetzbuches das Maß der Strafe bestimmen soll —, bleibt die Frage, wie Schuld durch Strafe überhaupt ausgeglichen werden kann. Welche Strafe ist denn welcher Schuld angemessen? Das Talionsprinzip, wonach dem Täter qua Strafe das gleiche Übel widerfahren sollte, das er dem Opfer durch die Tat zugefügt hatte, hat sich als inhumaner und oben-drein noch ineffizienter Atavismus von selbst erledigt. Die „spiegelnden Strafen” des Mittelalters stehen nicht mehr zur Diskussion. Auch hier kann allenfalls im Verhältnis der verschiedenen Straftaten zueinander ein Maßstab für die Strafe im Einzelfall gefunden werden. Daß ein Mord strenger bestraft werden muß als ein Diebstahl, sagt ohnehin schon das Strafgesetzbuch. Daß dieser Diebstahl strenger als jener geahndet werden muß, mag ein Vergleich der jeweiligen Tatumstände miteinander ergeben. Die Praxis hat sich auch hier schon relativ früh zu helfen gewußt, indem sie das vielkritisierte Taxensystem entwickelt hat — Straftaxen oder -tarife für Straftaten, so als lasse sich strafrechtliche Schuld quantifizieren. So kann es letztlich nicht überraschen, daß nicht nur Kritiker, sondern gerade auch Anhänger des Schuldstrafrechts die Möglichkeit anzweifeln, Schuld durch Strafe ausgleichen zu können.

Indivi­du­al­prä­ven­tion: zur Resozi­a­li­sie­rung des Täters

VIII.

Die Berücksichtigung individualpräventiver Gesichtspunkte im Rahmen der Strafzumessung ist nun sicher Ausdruck eines gewandelten Strafrechtsverständnisses. Man geht heute nicht mehr davon aus, daß der Staat mit dem Schwert der Strafe, durch Ausübung der Strafjustiz gleichsam Gerechtigkeit auf Erden herstelle. An die Stelle metaphysischer Überhöhung des Strafbegriffs, die nicht von ungefähr an absolutistische Staatsvorstellungen erinnert, ist eine zweckhafte, funktionale Betrachtungsweise getreten. Kants Rigorismus hat insofern abgedankt. Aber das Vordringen präventiver Gedanken in Gesetzgebung und Praxis ist nicht allein Ausfluß neuerer straftheoretischer Konzepte, die etwa im Sinne und seit der soziologischen Strafrechtsschule Franz von Liszts stärker auf die Karte des Gesellschaftsschutzes (durch Resozialisierung oder sichere Verwahrung des Täters) setzen.
Dahinter verbergen sich auch ganz reale, leidvolle Erfahrungen mit den Auswirkungen staatlichen Strafens. Sie sind uns inzwischen aus Berichten Betroffener – zu denen nicht nur die Delinquenten selbst, sondern auch Dritte (etwa Familienangehörige) zählen können – sowie aufgrund kriminologischer und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen hinreichend geläufig. Wir wissen nunmehr, was Strafen an Menschen anrichten können. Anschauungsmaterial liefert uns namentlich der Vollzug der Freiheitsstrafe. Der Strafvollzugsgesetzgeber hat sich deshalb mit gutem Grund veranlaßt gesehen vorzuschreiben, daß schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges entgegengewirkt werden muß ( § 3 Abs 2 des Strafvollzugsgesetzes). Sollen Strafen – zumindest auch – präventiv, und d.h. vorbeugend, wirken, dann müssen ihre (möglichen oder wahrscheinlichen) Folgen notwendigerweise stets mitbedacht werden. Insofern stellt § 46 Abs 1 Satz 2 des Strafgesetzbuches nicht nur ein Zugeständnis an ein präventives Straf-recht dar; die Vorschrift ist vielmehr zugleich auch als versteckte Mahnung zu lesen, den — realen oder fiktiven — Nutzen einer bestimmten Bestrafung für die Allgemeinheit gegen den Schaden abzuwägen, den man durch jene beim Betroffenen und bei Dritten stiften kann. In einem sozialen Rechtsstaat, der sich als Solidargemeinschaft versteht, kann der Allgemeinheit weder das Schicksal der Opfer von Straftaten noch das Schicksal der Täter selbst gleichgültig sein: Versäumnisse oder Fehlgriffe treffen nicht nur Einzelne – sie schlagen hier wie dort auf die Allgemeinheit zurück.

General­prä­ven­tion: zum Schutz der Allge­mein­heit

IX.

§ 46 Abs 1 des Strafgesetzbuches gibt indessen keine abschließende Antwort auf die Frage nach den Maßstäben der Strafzumessung. Die Überlegungen zur Funktion der Strafe im Rahmen unseres Strafrechts haben gezeigt, daß ihr nicht zuletzt die Rolle eines Abschreckungs- oder – freundlicher formuliert – Warnungsinstruments zugedacht ist: Die Bestrafung des einzelnen Täters dient als Beispiel dafür, daß die Rechtsgemeinschaft auf Straftaten mit der Zufügung eines Übels, der Strafe, reagiert, daß sie nicht bereit ist, die Begehung von Straftaten sanktionslos hinzunehmen. Dieser generalpräventive Aspekt fehlt in § 46 Abs 1 – es sei denn, man sieht ihn mittelbar dadurch als erfaßt an, daß Bestrafung nach Maßgabe der Schuld auf die Allgemeinheit abschreckend und warnend wirke. Jedoch hat der Gesetzgeber durch andere Regelungen zum Ausdruck gebracht, daß generalpräventive Gesichtspunkte — jedenfalls im Rahmen der Schuld — bei der Strafzumessung sehr wohl eine Rolle spielen dürfen (oder gar sollen).
Beispielhaft hierfür erscheinen die § § 47 und 56 Abs 3 des Strafgesetzbuches. Nach § 47 dürfen die weitgehend als schädlich, weil resozialierungsfeindlich, angesehenen Freiheitsstrafen unter sechs Monaten nur ausnahmsweise entweder aus individualpräventiven Gründen („zur Einwirkung auf den Täter“) oder unter generalpräventiven Gesichtspunkten („zur Verteidigung der Rechtsordnung“) verhängt werden. Hier fordert also das Gesetz ausdrücklich die Verhängung einer an sich unerwünschten, kurzen Freiheitsstrafe, wenn anders die rechtliche Gesinnung der Bevölkerung, ihr Vertrauen in den Bestand der Rechtsordnung erschüttert würde. Im Falle des § 56 Abs 3 geht es um einen vergleichbaren Sachverhalt. Grundsätzlich sollen Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr nicht vollstreckt werden, wenn die Begehung weiterer Straftaten vom Verurteilten nicht zu erwarten ist. Dahinter steht der Gedanke, möglichst vielen Tätern Freiheitsstrafen und deren schädliche Wirkungen zu ersparen, andererseits aber die ambulante Maßnahme der Strafaussetzung zur Bewährung in weitestgehendem Umfange als (Re-)Sozialisierungsmittel zu nutzen. Deshalb schreibt § 56 Abs 1 des Strafgesetzbuches vor, daß in Fällen günstiger Sozialprognose die Vollstreckung von Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr zur Bewährung auszusetzen ist. Nach § 56 Abs 3 sind Freiheitsstrafen von mindestens sechs Monaten jedoch trotz günstiger Sozialprognose zu vollstrecken, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung dies gebietet. Hier genießen also wiederum generalpräventive Gesichtspunkte den Vorrang vor individualpräventiven.
Als letztes Beispiel sei in diesem Zusammenhang die Regelung der Aussetzung des Strafrestes genannt. Nach § 57 reicht eine günstige Sozialprognose, also die Wahrscheinlichkeit künftiger strafgesetzmäßiger Lebensführung, für sich allein noch nicht aus, um einen Strafgefangenen vorzeitig zu entlassen. Grundsätzlich müssen wenigstens zwei Drittel der Strafe vollstreckt sein. Diese Regelung erscheint gleichfalls nur im Blick auf die Allgemeinheit verständlich: Sollen Strafen abschreckend und warnend wirken, die rechtliche Gesinnung der Bevölkerung stärken helfen, so müssen sie nicht nur verhängt, sondern auch — weitgehend — vollstreckt werden. Auch hier rekurriert man also auf die Generalprävention als Funktion von Strafandrohung und Bestrafung. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Strafrechtslehre, das Strafgesetzbuch und dessen praktische Handhabung die Befürchtung, Strafnormen und die durch sie zu schützenden Rechtsgüter würden nicht mehr ernstgenommen werden, wenn man eben auch nicht mit der Strafe selbst ernst mache.

Die Gefahr der Grenz­über­schrei­tung – das Prinzip der Verhält­nis­mä­ßig­keit

X.

Das rührt freilich an Grundfragen des Strafrechts, die mehr oder minder unmittelbar mit dem Selbstverständnis der Rechtsordnung in einem freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat sowie allgemein mit den Voraussetzungen und Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens auf der Grundlage von Humanität und Solidarität zusammenhängen. Es geht dabei nicht allein um das Problem, ob und inwieweit die skizzierten Vorstellungen vom Funktionieren des Strafmechanismus und der Wirksamkeit des Strafrechts namentlich in generalpräventiver Hinsicht der Realität standhalten oder eher spekulativen Entwürfen entspringen. Wenn die soziologische Annahme (oder Feststellung?) richtig ist, daß jede Gesellschaft auf sozial unerwünschtes oder gar schädliches Verhalten negativ (wenn auch nicht notwendig mit Strafe) reagiert, dann würde in der Tat das Wie, nämlich Art und Ausmaß der Reaktion, in den Vordergrund rücken. Damit stellt sich aber auch die Frage, in welchem Umfange der Einzelne (Täter) um der Allgemeinheit, der — vermuteten — generalpräventiven Wirksamkeit des Strafrechts willen Eingriffe in seine Rechte und Privatsphäre hinnehmen muß. Doch selbst unter individualpräventiven Gesichtspunkten können Grenzüberschreitungen drohen. Sowohl die Bemessung von Strafen als auch ihre Vollstreckung nach Maßgabe des (Re-) Sozialisierungsziels und/oder des Sicherungszwecks können gemessen am Anlaß (der Tat) unverhältnismäßig sein.
Daß staatliche Eingriffe in Rechte des Einzelnen aber unter welchem Vorzeichen und zu welchem Zweck auch immer nicht außer Verhältnis zu ihrem Anlaß stehen dürfen, hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont; wir haben es hier mit einer spezifischen Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips zu tun. Für die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung sagt dies § 62 des Strafgesetzbuches ausdrücklich: Sie kommt nicht in Betracht, wenn die Maßregel im Einzelfall „zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht”. Am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommt denn auch kein staatliches Reaktionensystem vorbei — mag es sich dabei um ein Strafrecht oder ein Maßnahmenrecht handeln (von dem Gustav Radbruch gesagt hat, es sei klüger als ein Strafrecht).
Vielleicht stellt in diesem verfassungsrechtlichen Blickwinkel die Funktion, den staatlichen Eingriff in erträglichen Grenzen zu halten, eine, wenn nicht die tragende Rechtfertigung des Schuldstrafrechts dar. Denn müssen sich Art und Maß der Strafe nach dem Schuldprinzip primär, wenn auch nicht ausschließlich, an der Größe der Schuld orientieren, verbietet es ferner schuldüberschreitende Strafen, dann trägt dieses Prinzip fraglos zur Begrenzung der staatlichen Strafgewalt bei. An der eingangs geschilderten Problematik des strafrechtlichen Schuldbegriffs und der strafrichterlichen Schuldfeststellung ändert das freilich nichts. Sie belastet das Strafrecht ebenso wie die Bestrafung des Täters mit grundsätzlicher Fragwürdigkeit.

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