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Der Fall Kappler und die Gefahr des Rechts­ra­di­ka­lismus

vorgängevorgänge 2910/1977Seite 11-14

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 11-14

Die Verbringung Kapplers aus Rom in die Bundesrepublik ist möglicherweise bereits halb vergessen, wenn dieser Aufsatz gelesen wird. Dennoch ist es wichtig, sich mit seinen grundsätzlichen politischen Aspekten zu beschäftigen.

1.
Die Forderung, Kappler auszuliefern, sollte abgelehnt werden, und zwar ohne Sorge, deswegen Beifall von der falschen Seite zu bekommen. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist barbarisch. Sie ist aus rechtlichen und medizinischen, aus psychologischen wie sozialen Gründen abzulehnen und sollte abgeschafft werden, genau, wie man auch die Todesstrafe aus ähnlichen Gründen abgeschafft hat. Kappler wurde 1945 im Alter von 38 Jahren verhaftet, 1948 verurteilt und hat seitdem ununterbrochen im Gefängnis oder unter Bewachung im Krankenhaus gelebt. Er ist heute 70 Jahre alt. Ihn erneut rechtlich zu verfolgen oder ihn auszuliefern, muß aus grundsätzlichen Erwägungen ausgeschlossen sein. Dabei spielt das Mitleid mit einem schwerkranken Menschen nur zusätzlich mit. Kappler hatte 1944 kein Mitleid gezeigt.
Wer aber grundsätzlich gegen die lebenslange Einschließung ist, der muß diesen Standpunkt auch im Extremfall vertreten. Der Schutz vor Persönlichkeitszerstörung durch Haft sollte jedem Menschen zukommen, ohne Rücksicht auf politische Meinungen. Opportunistische Regungen, z.B. Rücksicht auf emotionale Massenstimmungen, sind besonders energisch zurückzuweisen.

Die Befreiungsaktion zugunsten Kapplers kann jedoch nur verurteilt werden und sollte öffentlich von der Bundesregierung verurteilt werden. Auch hierbei spielen Zweckmäßigkeitserwägungen zunächst keine Rolle, denn Gefangenenbefreiung ist sowohl in Italien wie in der Bundesrepublik strafbar. Die Entführer haben das Gesetz gebrochen und müssen die Konsequenzen tragen. Es muß also zu Konsequenzen kommen. Das kann man nicht aus Mitleidsgründen ausschließen. Auch die Tatsache, daß der Mensch Kappler möglicherweise Begnadigung verdient, jedoch nicht erhalten hat, rechtfertigt nicht, das Gesetz zu verletzen. Gnade ist kein Rechtsanspruch – daher ja unter anderem die Forderung, die lebenslange Freiheitsstrafe abzuschaffen – und grundsätzlich muß ein Verhalten, seine eigene Auffassung unter Bruch der Gesetze durchzusetzen, strafrechtliche Folgen haben. Das gilt besonders dann, wenn es sich bei den Tätern, wofür hier vieles spricht, um eine verschworene Gruppe ehemaliger SS-Anhänger handelt, die einen Kameraden aus den „Klauen der Siegerjustiz” befreien wollte. Wer das Recht in die eigene Hand nimmt, vertritt den Standpunkt, daß der Zweck die Mittel heiligt. Das ist die Gesinnung aIler Verschwörer, Attentäter und Terroristen.

Die Befreiungsaktion ist außerhalb der Bundesrepublik als ein Zeichen für die Revitalisierung neonazistischer Tendenzen aufgefaßt worden. Ob mit Recht, mag dahingestellt bleiben. Verwunderlich ist es jedoch nicht. Bild am Sonntag vom 21.8. z.B. berichtete, daß es sich bei den Tätern um ehemalige Mitglieder der SS handele. Einer von ihnen sei ein Österreicher, der im Krieg in Rom als Mitglied des SS-Sicherheitsdienstes tätig gewesen sei. Ein Herr Marloh, Gründer eines Komitees „Freiheit für Kappler”, gab einem italienischen Wochenblatt ein Interview, in dem er berichtete, das Komitee sei 1955, also schon sieben Jahre nach Kapplers Verurteilung gegründet worden. Man habe bereits 1973 Kappler aus der Festung Gaeta befreien wollen – alles sei geplant gewesen, aber man habe dann den Plan fallen lassen. Das Komitee erfreue sich der Unterstützung von Offizieren, Industriellen und Behörden. Auch habe das Komitee mit jedem deutschen Bundeskanzler gesprochen und Sympathie bei diesen gefunden. Dementiert wurde daraufhin lediglich, daß Marloh persönlich mit Bundeskanzler Schmidt über die Befreiung Kappiers gesprochen habe.
Mit Ausnahme einer dürren Erklärung, Bundesbehörden wären an der Befreiungsaktion nicht beteiligt gewesen und hätten vorher nichts gewußt, hat die Bundesregierung, hat auch der Bundeskanzler zu allem nur geschwiegen. Wer aber konsequent schweigt, wer sich zum Gesetzesbruch nicht äußert, kann sich nicht beschweren, wenn man ihm Sympathie mit den Gesetzesbrechern zuschreibt. Daß noch schlimmerer Verdacht aufgekommen ist, signalisiert darüber hinaus ein latentes und dauerndes Mißtrauen inbezug auf die Immunität der Bundesrepublik gegen neonazistische Bazillen.
Dieses Mißtrauen wurzelt darin, daß die Bundesrepublik seit ihrer Gründung, und zwar angeregt und ermutigt durch starke Kräfte der Besatzungsmächte, sich nicht von den Kräften des Nationalsozialismus gelöst hat. Die Ideologie und die Verbrechen der Hitlerzeit hat man allerdings wieder und wieder verdammt. Man war jedoch stets bestrebt, den Strich zwischen sich und dem Dritten Reich an der falschen Stelle zu ziehen: nämlich zeitlich statt persönlich. Man erinnere, wie damals jeder Vorwurf gegen Personen des öffentlichen Lebens wegen ihres Verhaltens im Dritten Reich als eine „zweite Entnazifizierung” bezeichnet wurde, die „wir ablehnen”. Man erinnere sich an den Kampf um die Verjährung von Naziverbrechen. Man denke an die immer wiederholte Forderung, doch „endlich einen Strich zur Vergangenheit” zu ziehen, und dies bereits am Anfang der fünfziger Jahre! Man denke auch an die Erfindung des „Rechts auf den politischen Irrtum”, mit dem man alles rechtfertigen konnte, was man während der Herrschaft des Nationalsozialismus getan, mit-gemacht, verteidigt hatte.
Der Strich zur Vergangenheit, die tatsächliche Distanzierung vom Hitlertum konnte nicht so, sondern nur durch einen Strich zu den Personen deutlich gemacht werden, die mit dem Hitlerreich verbunden gewesen waren, und in dieser Beziehung geschah zu wenig. Man hat Adenauer den Kommentator der Rassengesetze als Staatssekretär zugebilligt, man hat ihn widerstandslos in einer Atmosphäre belassen, in der er sogar einen Mann wie Oberländer zum Minister machte, den er allerdings bald entlassen mußte. Wir haben einen Bundeskanzler Kiesinger erlebt, der sich zwar als im Dritten Reich ganz unbedeutend hinstellte, dessen Tätigkeit aber immerhin damals so bedeutend war, daß man ihn nicht zum Kriegsdienst eingezogen hatte. Andere personelle Fehlleistungen, wie z.B. die Ernennung von Fränkel zum Generalbundesanwalt, zeigen nur, daß man kein Distanzierungsbedürfnis hatte. Wer das Pech des Nationalsozialismus angefaßt hatte, war keineswegs besudelt, sondern galt durchaus als würdig, die Bundesrepublik zu vertreten, einerlei, ob als Politiker, als hoher Beamter oder als Richter. Dies alles ist die Wurzel des Mißtrauens – nichts anderes!

2.
Die Gefahren des Rechtsradikalismus zu bagatellisieren, ist sachlich und politisch verkehrt. Diesen Fehler macht auch jetzt die Bundesregierung. Falsch ist es einmal, weil die Gefährlichkeit einer politischen Gruppe nicht nur zahlenmäßig bewertet werden kann. Hundert militante Extremisten sind etwas ganz anderes als hundert oder tausend beliebige Parteimitglieder. Gerade bei Kreisen, die sich nicht auf Mehrheiten berufen wollen, die ihre Ziele nicht auf parlamentarischem Wege zu erreichen suchen, ist deren Mitgliederzahl zweit- oder drittrangig.
Weiter kann man auch bezweifeln, ob die Beamten des Bundesinnenministeriums, die stets auf die zahlenmäßige Geringfügigkeit des Rechtsradikalismus hinweisen, die richtigen Kriterien besitzen, um Rechtsradikale überhaupt zu erkennen. Was ist denn eigentlich als rechtsextrem anzusehen? Es ist höchst bezeichnend, daß in all den Jahren nach dem sogenannten Ministerpräsidenten-Erlaß nur ganz wenige „Verfassungsfeinde” von rechts entdeckt worden sind. Dabei gibt es genug Kreise, Gruppen und Vereine gerade junger Menschen von rechtsradikaler Prägung. Man denke nur an den wieder aufgekommenen Antisemitismus an manchen höheren Schulen. Sollte wirklich kaum jemand aus diesen Gruppen beabsichtigt haben, in den öffentlichen Dienst zu kommen?
Schließlich stimmt es doch recht skeptisch, wenn es der Polizei fast nie gelingt, diejenigen zu fassen, die jüdische Friedhöfe demolieren, Hakenkreuze und antisemitische Schlagworte an Wände schmieren. Das deutet doch darauf hin, daß die Observation derartiger Kreise mangelhaft ist. Die gängige Erklärung der Polizei, bei den Friedhofsschändungen handele es sich um die Taten von Kindern, ist ein zusätzliches Zeichen für die verkehrte Einstellung. Wann hat denn die Polizei jemals einen Beweis für diese kindische Behauptung geliefert?
Es ist stets gefährlich, eine unbequeme Tendenz zu unterschätzen. Die Nationalsozialisten schickten 1928 ein Dutzend Abgeordnete in den Reichstag, bei einer für die SPD siegreichen Wahl. Zwei Jahre später, 1930, waren daraus mehr als 100 Abgeordnete geworden. Und das war mehrere Jahre vor dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise. Ein etwas besseres Gedächtnis wäre offiziellen Stellen der Bundesrepublik zu wünschen.

3.
Aufklärung ist kein Ersatz für Politik. Die Frankfurter Rundschau vom 29. August meldete unter Bezugnahme auf dpa:

„Die Reaktion auf die Kappler-Entführung soll nach Bonner Meinung nicht isoliert betrachtet werden. Sie sei Teil, Ergänzung und vielleicht Höhepunkt einer bereits seit Jahren zu beobachtenden Manifestation antideutschen Unmuts in der ausländischen linken und linksliberalen Presse, aber auch in durchaus konservativen Organen … Begründete Kritik aus dem Ausland nehmen wir ernst, hieß es in Bonn. Unbegründete oder gehässige Polemik werden wir mit Gelassenheit ertragen. Die Bundesregierung versuche, durch geduldige und kontinuierliche Aufklärungsarbeit Vorurteile abzubauen.”

Dies ist ein Musterbeispiel unrichtigen Reagierens. Besorgnisse über eine NS-Restauration, auch wenn sie mit harten und scharfen Vorwürfen oder gehässiger Polemik geäußert werden, sind keine Bekundungen von Deutschfeindlichkeit oder „antideutschen Unmuts”, sondern beruhen auf antinazistischen Einstellungen und Ängsten. Warum zieht man sich diesen Schuh an? Die Bundesrepublik hat doch gleichfalls antinazistische Sorgen und Einstellungen. Es wäre besser, die Warnungen ernst zu nehmen. „Begründete Kritik” ist die Kritik, die uns nicht weh tut. „Vorurteile” sind Meinungen, die uns nicht passen. Dabei ist bekanntlich gerade die Medizin heilsam, die einem nicht schmeckt!
Und worüber will Bonn aufklären? Daß die Wähler Extremparteien nicht unterstützen, stimmt. Macht das kleine Gruppen ungefährlich? Wir geraten doch über jede Untat terroristischer Verbrecher in Verzweiflung, verurteilen jede Bagatellisierung und erheben rasende Vorwürfe über mangelnde Distanzierung und einen „Sumpf” von Sympathisanten! Das zeigt doch wohl, daß diese von einigen hundert Fanatikern ausgehende Gefahr ernstgenommen wird.
Bonn hat rechtsradikalen Gefahren gegenüber nichts Entsprechendes aufzuweisen. Wann immer man auch von nazistischen Taten in der Bundesrepublik gehört hat — selten hat man etwas über Konsequenzen vernommen. Der Mann, der Heinemann ermorden wollte, war „irre”. Ähnliches wurde von anderen aggressiven Tätern behauptet. Als in Berlin ein Sowjetsoldat erschossen wurde, konnte man keine Verbindung zwischen dem Täter und anderen feststellen. Aber der Täter konnte entfliehen, wenngleich er später wieder gefaßt wurde. Vor wenigen Wochen aber kam ans Licht, daß er dennoch Mitwisser bei seiner Planung gehabt hatte. Was geschieht eigentlich gegen „Gruppierungen von Neonazis”, von denen ein Bonner Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 23. 6. 77 (also vor Kappler und vor Brandts Brief an Schmidt) berichtete, daß diese „im Besitz von Waffen und Sprengstoff Attentatspläne schmieden”? Da heißt es unter anderem von vielen Gruppen, daß ihnen „allen gemeinsam ist, daß sie auch die Anwendung von Gewalt bejahen, um das politische Ziel zu erreichen, das da, grob gesagt, lautet: Wiederaufrichtung des national-sozialistischen Staats in ursprünglicher oder abgewandelter Form. Immer wieder werden bei Festnahmen Waffen gefunden, mehrfach auch Bomben”.
Nur hört man hier nichts von ausgedehnten Ermittlungen, nichts von Verhaftungen, nichts von Verurteilungen zu jahrelangen Freiheitsstrafen. Warum nicht? Wie will Bonn angesichts solcher Ungereimtheiten „aufklären”?
Dazu kommt die persönliche und wirtschaftliche Verfilzung zwischen Politikern der Opposition und ehemaligen Nazi-„Gewinnlern“, die unwidersprochen in Büchern geschildert wird (z.B. „Strauß, Kohl und Co”, Kiepenheuer & Witsch, 1976). Bei einem derartigen Mangel an Distanz zwischen Politikern einerseits und Persönlichkeiten mit brauner Vergangenheit andererseits wird die „geduldige Aufklärungsarbeit” noch sehr lange „kontinuierlich” betrieben werden müssen. Erfolge wird man nicht erwarten können.

Letzte Frage: Wie will Bonn in seiner Aufklärungstätigkeit die merkwürdige Reaktion auf den Brief von Willy Brandt fort-erklären? Die primitivste Intelligenz hätte geboten, den Brief eines früheren Bundeskanzlers an den amtierenden Bundeskanzler ernstzunehmen. Willy Brandt ist kein x-beliebiger Politiker. Seine Gewohnheit, lange nachzudenken, bevor er sich entschließt, ein Urteil auszusprechen, ist bekannt. Er hat einen Weltruf. Was er sagt, wird weltweit vernommen.
Der Regierungssprecher hält jedoch, ohne irgend etwas Sachliches dafür anführen zu können, „den Vorwurf für nicht gerechtfertigt, die für die Verfolgung rechtsradikaler Aktivitäten zuständigen Behörden würden dafür nicht genug tun” (Welt, 20. 8. 1977).
Damit ist der Fall amtlich erledigt. Allerdings nicht für die angeblichen „Mittelparteien” CDU/CSU. Obwohl sie sich stets lauthals beschweren, wenn man ihnen Sympathie für Rechtsradikalismus zuschreibt, wird dort die Warnung vor eben diesem nicht ernst genommen. Warum verharmlosen gerade sie denn die kleinen sich zur Gewalt bekennenden rechtsradikalen Gruppen, die doch sonst anderen Bagatellisierung vorwerfen? Darüberhinaus wird Brandts Brief zum Anlaß genommen, ihn erneut anzupöbeln. Der CSU-Abgeordnete Hans Klein beschuldigt Brandt des „leichtfertigen Opportunismus”. Man vermutet eben bei seinen Gegnern leicht das, dessen man selber fähig ist. Ein anderer CDU-Abgeordneter, Willi Weiskirch, nennt Brandts Darlegung über den Rechtsradikalismus eine „törichte Äußerung”. In einer von der CDU verbreiteten Erklärung heißt es unter anderem, Brandt habe sich in einer sehr prekären Sache überaus fahrlässig verhalten. Die CSU-Landesleitung warf Brandt vor, „einer von der internationalen Linken neubelebten deutschfeindlichen Propaganda willkommene Munition geliefert” zu haben. Auch wird sein Verhalten als Opportunismus gedeutet, denn er müsse von der linksradikalen Gefahr ablenken und sich beim linken Flügel seiner Partei beliebt machen.
Es fällt auf, daß die Opposition Brandts Vorgehen als Schädigung der Bundesrepublik darstellt. Die Schädigung des deutschen Ansehens durch die Entführung Kapplers wird weder von dieser Seite noch von der Regierung vermerkt. Es ist ein alter Trick, sicherlich nicht von Goebbels erfunden, aber meisterhaft von ihm angewandt: nicht der Rechtsradikalismus, der ja selbst von der FAZ zur Kenntnis genommen wird, schädigt die Bundesrepublik, sondern nur derjenige, der vor ihm warnt. Angegriffen als Nestbeschmutzer wird der, der darauf hinweist, daß andere das Nest beschmutzt haben. Den ins Aufklärungsmanöver Ausrückenden kann man da nur wünschen: „Dann siegt mal schön!”

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