Die Neutronenbombe: Sicherheitspolitik als Sicherheitsrisiko
aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 3 – 5
Die Entrüstung von Egon Bahr über die Neutronenbombe als Symbol der Perversion des Denkens ist verständlich, aber trifft seine Kritik den Kern der Sache? Wir meinen, nur zum Teil. Denn die Frage, ob die Menschheit verrückt geworden sei, stellt sich angesichts von neuen, immer phantastischer anmutenden Waffensystemen seit vielen Jahren. Nicht nur der Friedensforschung. Lassen sich die Ausmaße der verfügbaren Zerstörungsmittel heute überhaupt noch verständlich machen?
Allein das amerikanische Nuklearpotential, über das verläßliche Informationen vorliegen, wird auf 8000 Megatonnen TNT (Trinitrotoluol = Maß für herkömmlichen Sprengstoff) geschätzt. Das kommt einer Sprengkraft von etwa 600000 Hiroshima-Bomben gleich und entspricht etwa der 4000fachen Sprengkraft, welche die USA im Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland und Japan einsetzten (damals 2 Megatonnen TNT). Wer vermag sich wirklich noch vorzustellen, was es heißt, daß die auf beiden Seiten in Europa gelagerten taktischen Nuklearwaffen der geballten Sprengkraft von 50000 bis 70000 Hiroshima-Bomben gleichkommen? Worin liegt der Sinn des gewaltigen Nuklearpotentials, wenn z.B. die USA mit nur 2 bis 3 Prozent ihrer strategischen Nuklearsprengköpfe die großen Städte in der Sowjetunion auf einen Schlag atomar zerstören und verseuchen können? Oder wenn die ungefähr 600 Mittelstreckenraketen der Sowjetunion auch nur ein Bruchteil des gesamten östlichen Arsenals für die Vernichtung der städtischen Bevölkerung in Westeuropa ausreichen?
Seit langem sind angesichts dieser Größenordnungen die Militärplaner auf der Suche nach den Zielen für ihre Übertötungskapazitäten (overkill). Die Übersättigung an Zerstörungsmitteln hat aber keineswegs zur Verlangsamung von Rüstungsanstrengungen geführt, und die Entspannungspolitik und die Rüstungskontrollverhandlungen in den vergangenen Jahren haben bisher nicht nachhaltig in die internationale Rüstungsdynamik eingreifen können.
Die Neutronenbombe ist nur ein Beispiel für die charakteristischen Entwicklungstrends der Sicherheitspolitik und Rüstungsanstrengungen der vergangenen zwanzig Jahre. Galt ursprünglich im Anschluß an die leidvollen Erfahrungen der Atombomben-Explosion über Hiroshima und Nagasaki das atomare Potential im Falle eines großen Krieges als Gefährdung der menschlichen Zivilisation, so haben sich Militärstrategen und Rüstungstechnologen seit langem darum bemüht, militärische, auch nukleare Machtmittel wieder praktisch verfügbar, d.h. im Falle von Krisen und Kriegshandlungen zu einem Instrument der Politik zu machen. Schon seit den frühen sechziger Jahren wird darüber ernsthaft diskutiert, wie für den Fall eines Versagens der Abschreckung der Krieg auf allen Ebenen, einschließlich der taktisch-nuklearen und der taktisch-strategischen, wie ehedem ein konventioneller Krieg zu führen sei. Seit langem ist die Militärstrategie auf der Suche nach flexiblen politischen Optionen für den Einsatz aller, also auch der nuklearen Waffenpotentiale. An die Stelle der Vorstellung von einem explosionsartigen Atomkrieg, der in einem großen Schlagabtausch der Gegner bestünde, traten verschiedenartige Doktrinen über den abgestuften Gebrauch der Gewalt. Auch die Doktrin flexibler Antwort (flexible response) ist ihnen zuzurechnen. Diese grundlegende Revision der Militärstrategie wurde durch die Modernisierung bestehender und die Erfindung neuartiger Waffentechnologien ermöglicht. Auf der nuklear-strategischen und taktisch-nuklearen Ebene, aber auch im konventionellen Bereich lassen sich heute gleichartige Trends technologischer Entwicklung beobachten. Angestrebt werden eine größere Treffsicherheit von Waffensystemen, Sprengköpfe mit unterschiedlicher Zerstörungskraft und Wirkungshinweise, eine hohe Lenkpräzision der Trägersysteme, eine hohe logistische Mobilität der Waffensysteme technologische Eigenschaften, die Kriegsbilder ermöglichen sollen, in denen nach Art und Zerstörungswirkung breit aufgefächerte Waffensysteme nach
Maßgabe politischer Entscheidungen selektiv und gezielt einsetzbar sein sollen. Die in jüngster Zeit diskutierten cruise missiles (Marschkörper), miniaturisierte taktische Nuklearwaffen (mininukes), eine neue Generation von präzisionsgelenkten konventionellen Waffensystemen, neue Errungenschaften im sogenannten elektronischen Schlachtfeld und nicht zuletzt die jetzt diskutierte Neutronenbombe sind, neben vielen anderen aktuellen Planungen und Beschaffungsprogrammen, Ausdruck dieses durchgängigen sicherheitspolitischen und militärtechnologischen Trends. Letztlich dokumentieren sie alle den krampfhaften Versuch, die Logik des konventionellen Krieges vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte, nunmehr unter dem Vorzeichen von wechselseitiger Abschreckungspolitik, in die heutige politische Wirklichkeit zu übernehmen. Anders ist insbesondere die Konventionalisierung nuklearer Kriegsbilder (z.B. Schlesinger-Doktrin) nicht zu begreifen.
Die Neutronenbombe muß in diesem Zusammenhang gesehen werden. Sie ist nicht menschlicher oder unmenschlicher als alle übrigen Produkte der Rüstungsanstrengungen der vergangenen Jahrzehnte. Daß mit ihrer Hilfe Menschen zu Schaden kommen, während Sachwerte möglichst unversehrt überleben sollen, ist nur eine zynische Variante der zahlreichen bestehenden oder in Planung befindlichen Kombinationen von möglichen Zerstörungswirkungen durch jeweils unterschiedliche Ausmaße an Druckwellen, Hitze und radioaktiver Strahlung.
Am Beispiel der Neutronenbombe kommt auch nochmals die Widersprüchlichkeit der überkommenen Sicherheitspolitik zum Ausdruck. Sicherheit soll garantiert werden durch glaubhafte Abschreckung. Der in der öffentlichen Diskussion wieder aufgekommene Streit darüber, ob selektiv einsetzbares Kriegsmaterial insbesondere im taktisch-nuklearen Bereich die Glaubwürdigkeit von Abschreckung erhöhe oder ob solches Gerät gerade die Abschreckungswirkung untergrabe, indem nämlich der Einsatz derartiger Waffen in politisch und militärisch zugespitzten Krisen wahrscheinlicher wird, ist unentscheidbar. Wie ernsthafte Studien seit vielen Jahren belegt haben, bewegt sich die Sicherheitspolitik des Westens gerade hier in Zentraleuropa in diesem aus der Doktrin flexibler Antwort resultierenden grundlegenden Dilemma. Die Neutronenbombe akzentuiert heute nur noch einmal die innerhalb der überkommenen Abschreckungsstrategie für unser Land nicht auflösbare Widersprüchlichkeit.
Sind in dieser Hinsicht die Argumente der Befürworter und Kritiker der Neutronenbombe (wie der taktischen Nuklearwaffen insgesamt) nicht zwingend auch weil solche Argumente notwendigerweise spekulativ bleiben müssen , so kann doch davon ausgegangen werden, daß die mit der Neutronenbombe verbundenen Vorstellungen über eine rational handhabbare Eskalation militärischer Auseinandersetzung in Zentraleuropa im Ansatz irreal sind. Die westlicherseits entwickelte Doktrin flexibler Antwort hat im Osten kein Pendant, und die in dieser Doktrin ausgedachten Spielregeln rationaler Kriegführung werden, wenn man sicherheitspolitischen Dokumenten des Warschauer Paktes und der Anlage seiner Manöver folgt, dort nicht akzeptiert. Doch selbst wenn diese Doktrin auch im Osten akzeptiert wäre und eine Symmetrie der Kriegsbilder unterstellt werden könnte, wären erhebliche Zweifel an der Praktikabilität des unterstellten Kriegsverlaufes anzumelden. Die vorherrschende Militärdoktrin flexibler Antwort, innerhalb derer auch die Neutronenbombe ihren Platz fände, mißachtet in möglicherweise selbstmörderischer Weise die elementarsten Einsichten von Psychologie und Entscheidungsforschung über das Verhalten von Individuen, Entscheidungsgremien und Kollektiven unter den Bedingungen von Bedrohtheitsvorstellungen, zeitlichem Druck, Unsicherheit, äußerster Gefahr und Todesangst. In dieser Doktrin wird die Fähigkeit zu abwägendem Urteil und nüchterner Interessenkalkulation unter Bedingungen unterstellt, in denen nach allen historischen Erfahrungen dieses Jahrhunderts und einschlägigen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen die Neigung zu Fehlwahrnehmungen und Fehlkalkulationen drastisch ansteigt. Die Neutronenbombe ist nicht weniger und nicht mehr als andere Waffensysteme Ausdruck eines fragwürdigen Rüstungsprozesses, der jahrelang kritiklos hingenommen wurde. Das Kriegsbild flexibler Antwort ist, wie auch die Simulation von Kriegsverläufen und Kriegsfolgen in Zentraleuropa dokumentiert, nicht weniger fragwürdig: Im Eventualfall wird zerstört, was eigentlich bewahrt werden soll; und eine Garantie, daß Abschreckung trotz aller angedrohten Vergeltung nicht fehlschlägt, gibt es nicht.
Es gibt keine militärtechnologische Alternative zur sicherlich mühseligen politischen Lösung der zentraleuropäischen Sicherheitsprobleme. Rüstungen zu entschärfen, wenn sie schon nicht abzuschaffen sind, ist eine Herausforderung an die praktische Politik, insbesondere an Entspannungs-
politik. Das Sicherheitsproblem läßt sich im Nuklearzeitalter nicht mehr durch die traditionelle nationalstaatlich gelenkte Aufrüstungspolitik lösen. Die Einführung neuer Waffentechnologien stellt einen ständigen Unsicherheitsfaktor dar. Eine solche Sicherheitspolitik wird dabei selbst zum Sicherheitsrisiko. Die Eindämmung internationaler Rüstungsanstrengungen setzt Entspannungspolitik voraus, deren Fortgang und Entwicklung nur durch eine kooperative Rüstungssteuerung gewährleistet werden kann. Eine Rüstungssteuerung aber, so zeigen die Erfahrungen der vergangenen Jahre, die sich auf die Ebene offizieller diplomatischer Verhandlungen beschränkt, wird ständig durch nationalstaatliche Rüstungspolitik und das Feilschen um das militärische Gleichgewicht unterlaufen. Die kollektive Bändigung
der internationalen Rüstungsdynamik ist ohne einen nationalen Verzicht auf neue Rüstungstechnologien kaum vorstellbar.
Wie in fast allen zivilen und militärischen Bereichen ist der Westen an erster Stelle die USA Vorreiter technologischer Entwicklungen. Dies gilt offensichtlich auch für die Neutronenbombe. Auf ihre endgültige Produktion zu verzichten, ist ein unerläßlicher Beitrag des Westens zur Entspannungspolitik. Ebenso unerläßlich ist eine bindende und überprüfbare Erklärung der Sowjetunion, ebenfalls auf diese Waffe, die sie in absehbarer Zeit sicherlich zu produzieren imstande wäre, zu verzichten. Ohne eine derartige Erklärung bliebe die gewissermaßen routinemäßige Kritik des Ostens an den jüngsten Rüstungsplanungen der USA vordergründig und heuchlerisch.