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Der Fall Familie: Recht und Unrecht einer bürger­li­chen Institution

vorgängevorgänge 2910/1977Seite 125-26

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 125-26

Diether Huhn: Der Fall Familie. Recht und Unrecht einer bürgerlichen Institution, Reihe: Demokratie und Rechtsstaat. Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied, 1977, 224 S, 19,80 DM.

Der Untertitel dieses Buches „Recht und Unrecht einer bürgerlichen Institution” gibt die Quintessenz der Arbeit überzeugend wieder. Der „Fall Familie” wird unter dem Etikett einer „bürgerlichen Institution” janusköpfig vorgestellt, nicht nur als Fall, sondern als sozialpsychologisches (und daraus: juristisches) Problem.
Diether Huhn, Professor an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege und Vorsitzender eines Landgerichts in Berlin, kennt es theoretisch wie praktisch. Aus seiner doppelten Funktion ist er in der Lage, erstens die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis in der Familienpolitik seit der Verabschiedung des BGB Anfang dieses Jahrhunderts aufzudecken, zweitens die in der Theorie selbst nachweisbaren Divergenzen aufzuzeigen, soweit diese Theorie als von Ideologien besetzte und absolut gesetzte Wertung der Familie verstanden wird.
Von diesem gewissermaßen primären Widerspruch wird natürlich die Familienrechtspraxis in Mitleidenschaft gezogen, die Praxis also der freien Gerichtsbarkeit in Familien- und Vormundschaftssachen. Ihre von der Norm, also der Familienrechtsnormalität abgeleiteten Entscheidungen widersprechen nach Huhns Erfahrungen der Lebensgerechtigkeit des individuellen Konfliktfalls. Der Richter Huhn gesteht darum den von ihnen Betroffenen zu, daß sie den Eindruck haben müssen, es handle sich um bürokratische Willkür des allmächtigen Staatsapparats. Dabei spart er nicht mit beißender Kritik an der Mittelschicht-Arroganz vieler Juristen, denen er besonders vorwirft, sie verzichteten auf soziologische und psychologische Erkenntnisse bei ihrer Urteilsfindung und suchten nicht den gerade bei den emotionsgeladenen familiären Konflikten dringend gebotenen Dialog zwischen den Kontrahenten. Dieser könne die vitale Komplexität der zu beurteilenden Einzelfälle entziffern helfen und damit über vorgegebene formal-juristische Einengungen hinweg neue Ermessenspielräume eröffnen, die der gelebten Realität angemessener wären.
Diether Huhn stellt im Vorwort seines Buches fest, daß alles, was er zum „Fall Familie” anführt, aus der ;,kritischen Grundposition des Geistes gegen fertige Konzepte“ komme. Er versteht sein Buch als eine „Aufforderung zum alternativen Denken”. Darum attackiert er vehement die „fertigen” Konzeptionen vom „sittlichen Wesen” der staatlich legalisierten Ehe und deren quantifizierende Potenzierung zur überkommene Werte perpetuierenden Familie durch „ehelich geborene” Kinder.
Das heißt (unter anderem): Huhn stellt Ehe und Familie als der Menschheitsgeschichte existentiell vorgelagerte, institutionalisierte Ursprungsphänomene radikal in Frage; sowohl also die abendländisch monogame Ehe als „Errungenschaft” menschlicher Gesittung — etwa zur Selbstverwirklichung der Geschlechter durch gegenseitiges Geben und Nehmen —, als auch die Familie als unersetzlichen, bestmöglichen Sozialisationsträger für die „Nachkommenschaft”.
Er bezweifelt damit nicht zuletzt die Stringenz der Beweisführung der Autoritäten der deutschen Familiensoziologie (von René König an…), die der Familie humanisierende Kulturleistungen zuschreiben. Wie Huhn meint, verdient die erst im 19. Jahrhundert entdeckte und staatlich favorisierte Institution Familie weder Hymnen noch Schmähgesänge. Ganz offenkundig aber sei ihre Bremsfunktion bei gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen. Die Familie zementiere die Schichtenunterschiede, indem sie sie unbefragt „vererbe”. Bei Angehörigen der Unterschichten wirke sich das fast zwangsläufig und unbewußt als sich ständig wiederholendes Klassen-Unrecht aus. Nicht weniger inhuman vervielfältige sich gesellschaftlich das in der Familie gezüchtete Aggressionspotential. Huhn exemplifiziert die These mit Beispielen aus dem Vietnam-Krieg; die „Green Berets” kamen in der Regel aus „intakten” Normalfamilien.
Diether Huhns Plädoyers zum Fall Ehe und Familie argumentieren nicht systematisch und nicht chronologisch. Scheinbar trägt er sie von sprunghaft wechselnden Standorten vor. Ihre sezierende Optik aber behält die Geschichte seit der Antike im Auge; besonders den Niederschlag, den sie seit Kant und Fichte verspätet im Bürgerlichen Gesetzbuch fanden, und der bis heute nachwirkt in der Realität der Lebensverhältnisse.
Eine bemerkenswerte „Aufforderung zu alternativem Denken” ist wohl Huhns viele gewiß irritierende Interpretation des Artikels 6 des Grundgesetzes. Huhn stellt fest: Die Institution Ehe und Familie ist nicht nur als staatlich legalisierte schutzwürdig. Nach seiner Auffassung enthält der Artikel 6 GG die noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeit, zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts oder gleichen Geschlechts mit ihren Kindern gesellschaftlichen Schutz und gesellschaftliche Fürsorge angedeihen zu lassen.
Die Prämisse: Ehe ist gleich Zweiergemeinschaft auf Lebenszeit, mit der die Mitte dieses Jahres inkrafttretende „Eherechtsreform” lapidar eingeleitet wird, kann sich keineswegs, so sagt Diether Huhn, andere Gemeinschaftsformen ausschließend, auf die Verfassung berufen. Sie vielmehr läßt die Definition von „Ehe” völlig offen. Der Einleitungssatz zu dem neuen „Ehegesetz” ist damit nichts anderes als eine ritualisierte Sprechblase ohne Bezug zu den bei uns gelebten und möglichen Ehewirklichkeiten.
Huhns Buch über den Fall Familie wendet sich an „Juristen, an solche, die es werden wollen und solche, die es nicht werden wollen”. Es sei allen diesen und denen, die „nur” mit Ehe und Familie zu tun haben, zum Nachdenken nachdrücklich empfohlen.

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