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Zeitfragen, Kommentare

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 1-2

Liebe Vorgänge-Leser,
das aktuelle Editorial des letzten Heftes war unter dem ganz frischen Eindruck der Ermordung Jürgen Pontos geschrieben worden. Dieses nun steht im Zeichen der Entführung Hanns-Martin Schleyers, deren Ausgang vier Wochen nach der Bluttat von Köln immer noch ungewiß ist. Der Verfasser des aktuellen Editorials wird, eine traurige Pflicht, zum Chronisten des eskalierenden Terrors, aber auch der gleichfalls eskalierenden Reaktionen auf den Terror.
Die permanente Bedrohung durch den Terrorismus ließe sich eher bestehen, würde auf sie mit mehr Besonnenheit reagiert; einer Besonnenheit, die angesichts der schon geschehenen und der noch möglichen Untaten wohl jedermann schwer fällt, ohne die aber auch eine effektive Bekämpfung der Terroristen nicht möglich ist. Gewiß muß der Schutz vor neuen Anschlägen und die Fahndung nach Tätern weiter intensiviert werden. Eilfertige Gesetzesmacherei-um-jeden-Preis aber wird leicht zum Selbstbetrug.
Wie immer der Fall Schleyer ausgehen mag, betroffen muß man feststellen: Wieviel haben die Terroristen nicht schon erreicht! Ist es ihnen doch gelungen, durch diesen dritten Terrorakt binnen weniger Monate – nach der Ermordung des Generalbundesanwalts Buback und des Bankiers Ponto – die Bundesrepublik in einen Zustand bislang beispielloser innerer Unsicherheit, ja Hysterie zu versetzen. Mit dem nur allzu begreiflichen allgemeinen Entsetzen über den Terrorismus und dem notwendigen Kampf gegen ihn verbindet sich eine perfide Scharfmacherei gegen angebliche „Sympathisanten” (siehe dazu den Kommentar von Joachim Perels und auch den hinten im Heft abgedruckten Brief der Humanistischen Union an den Bundespräsidenten). Der Antiterrorismus wird zum willkommenen Vorwand für eine Generalabrechnung mit liberalem, linkem, kritisch-demokratischem Denken. Argwohn, Verdacht und blinder Haß gegen alles Liberale und Linke, alles Reformerische und Nonkonformistische sind (insbesondere von der Springer-Presse, doch keineswegs nur von ihr allein!) lange genug gesät worden: die Saat geht nun auf. Das „gesunde Volksempfinden” offenbart sich, und man ahnt, was diesbezüglich bei neuen Terroranschlägen zu erwarten ist. Die Kontinuität deutschnationalen und faschistoiden Ungeistes in diesem Lande war nie so offensichtlich wie in diesen Wochen. Und nie war die vielstrapazierte Forderung nach der „Solidarität der Demokraten” eine frechere Täuschung als heute, wo die, denen sie am leichtesten über die Lippen geht, zur großen Jagd auf andersdenkende Demokraten blasen! Jede auch nur indirekte Verharmlosung des Terrorismus ist unangebracht. Die Zeit eines gewissen leichtfertigen intellektuellen Kokettierens mit bestimmten Formen von („Gegen“-)Gewalt sollte einfürallemal vorbei sein. Und die Welle ruchloser „Sympathisanten“- Hetze, die über die Bundesrepublik hinweggeht, sollte Niemanden von kritischer Selbstbefragung abhalten. Wenn denn freilich von „Sympathisanten” gesprochen werden soll — dann rede man endlich auch mit dem notwendigen Nachdruck von den notorischen deutschen Sympathisanten der Salazar und Franco, der Papadopoulos und Pinochet, der Vorster und Jan Smith, beziehungsweise ihrer (und anderer) menschenfeindlichen, antidemokratischen Gewaltregime!
Soviel kann, ja muß man heute, vier Wochen nach der Entführung von Hanns-Martin Schleyer, bereits sagen: Jeder weitere Terroranschlag wird die antiliberale Hysterie in der Bundesrepublik weiter steigern. Diese brutale und selbstgerechte Antiliberalität aber wird der Nährboden neuer, noch schlimmerer Gewalt sein. Wer jetzt das Feuer schürt, ist kein demokratischer Biedermann, sondern ein antidemokratischer Brandstifter. —
Daß das westliche Ausland über die Entwicklung in der Bundesrepublik beunruhigt ist, kann nicht verwundern und sollte von uns nicht einfach als „Mißdeutung” oder gar „Deutschenhetze” abgetan werden. Hans Robinsohn nimmt den Fall Kappler und die ausländischen Reaktionen auf ihn zum Anlaß, nach der Glaubwürdigkeit unserer sogenannten „Vergangenheitsbewältigung” zu fragen. Ein Kommentar der beiden Frankfurter Friedens- und Konfliktforscher Gert Krell und Dieter Senghaas beschäftigt sich mit dem amerikanischen Projekt einer Neutronenbombe. Es hat in der Bundesrepublik heftige Proteste hervorgerufen und ist von anderer Seite unangemessen verharmlost worden. Der Aufsatz von Krell und Senghaas dient zur Versachlichung der Diskussion über diese neueste Vernichtungswaffe. Helga Schuchardt hat den „Vorgängen” einen Beitrag zum Selbstverständnis der FDP als Reformpartei zur Verfügung gestellt, der uns im Hinblick auf die bevorstehenden Entscheidungen über die künftige Politik dieser Partei — und der sozialliberalen Koalition — besonders aktuell erscheint.
Heft 30, das letzte Heft des Jahrgangs 1977, wird das Schwerpunktthema „Wachstum im Widerstreit” haben.
(Anfang Oktober 1977)

Ihr Achim v. Borries

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