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Straf­vollzug im Wandel: Eindrücke, Probleme, Tendenzen

vorgängevorgänge 2910/1977Seite 38-52

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 38-52

Der Strafvollzug ist im Wandel und das am 1. Januar 1977 inkraftgesetzte neue Strafvollzugsgesetz markiert diese Entwicklung. Trotzdem hat es bisher nur zu halbherzigen und darum neue Probleme schaffenden Reformen ermuntert. Unser Strafvollzug befindet sich noch auf halbem Wege zwischen dem als inhuman erkannten Verwahrvollzug und einem sozialisieren-den Behandlungsvollzug. Der Autor dieses auf die Praxis bezogenen kritischen Beitrags ist Leiter des Grundsatzreferats im Strafvollzugsamt der hamburger Justizbehörde.

Begrenzte Verän­de­rungen

I.

Die Reformbewegung seit den späten 60er Jahren ist am Strafvollzug nicht spurlos vorübergegangen. Einige zum Teil bedeutsame Veränderungen sind zu verzeichnen: Die paramilitärische Regelhaftigkeit des Zusammenlebens in den Anstalten wurde weithin gelockert, die Personalausstattung verbessert, die Verbindung zur Außenwelt durch neue Ausgangs- und Urlaubsregelungen intensiviert, der offene Vollzug stärker betont. In nahezu allen Bundesländern wird mit behandlungsorientierten Anstalten experimentiert. Am 1. 1. 1977 trat das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) in Kraft, das diese Entwicklungen kodifiziert hat und – auf der Grundlage eines erstmals so klar in den Vordergrund gerückten Behandlungszieles – weitere Veränderungen ermöglicht.       Dennoch ist die Wirklichkeit des Strafvollzuges weiterhin deprimierend. Der Nachholbedarf war und ist zu groß, als daß die auch in den Jahren größerer Reformwilligkeit und guter Konjunktur nur zögernd fließenden Mittel bereits Entscheidendes hätten ändern können. Zudem hat die Sparpolitik der Bundesländer den weiteren Ausbau zunächst abrupt gestoppt und den Vollzug in einer zwiespältig-unentschiedenen Lage zurückgelassen:

Libera­li­sie­rung des Gefäng­ni­sall­tags

1. Die überwiegende Zahl der Veränderungen kann — neben einem Ausbau der Rechtsstellung der Gefangenen – als Liberalisierungen des Gefängnisalltags bezeichnet werden. Auch in Anstalten mit hohem Sicherheitsgrad wird – wenn auch noch nicht überall – zunehmend die Ausstattung der Zellen mit Regalen, Blumentöpfen, Büchern, Bildern, Akten, Gardinen, Vogelkäfigen und Vorhängen zugelassen. Immer mehr Anstalteil verzichten auf den Einschluß nach Arbeitsende und haben sich auf ein offenes Haus bis 18 oder 19 Uhr eingerichtet. Zunehmend wird in Häusern mit Einzelunterkünften für die Nacht der sogenannte Umschluß praktiziert, d.h. zwei oder drei Gefangene erhalten die Möglichkeit, die Nacht gemeinsam zu verbringen. Hier und da wird bereits in einem beschränkten Umfang Privatkleidung zugelassen. Wo immer dies möglich ist, werden Gemeinschaftsräume für Fernsehen, Basteln, Interessen- und Gesprächsgruppen geschaffen. Kaum eine Anstalt ist ohne Stationssprecher und Insassenvertretung. Zahlreiche Gefangenenzeitungen entstehen, gehen ein und entstehen neu. Ausführungen, Ausgang mit und ohne Begleitung, Urlaub aus unterschiedlichen Anlässen und Regelurlaube zur Aufrechterhaltung der Bindungen nach draußen und zur Vorbereitung der Entlassung werden gewährt. Der Briefverkehr und Telefonate mit Angehörigen werden erleichtert, Besuchsmöglichkeiten ausgeweitet und die Zusammenarbeit mit freiwilligen Helfern und Helfergruppen intensiviert.

Halbherzige Reformen – neue Konflikte

Diese und andere Maßnahmen haben den Vollzug humaner gemacht; sie haben aber auch eine Kehrseite: Die Unübersichtlichkeit der Zellen erschwert ihre Revision, die Gefährdung der Mitarbeiter, z.B. durch Gewalthandlungen und der Insassen, z.B. durch Rauschmittelkonsum, kann zu-nehmen. Die Offenheit nach innen kann negative subkulturelle Entwicklungen, die zur Unterdrückung der weniger Robusten führen, fördern. Die Vermehrung der Besuche, Briefe, Telefonate, des Paketempfangs, der Ausführungen und Urlaube, die Vielzahl der Betreuer bindet die Arbeitskraft der Bediensteten zusätzlich in einem erheblichen Maße.
Alles in allem nimmt mit der Öffnung der Anstalten die Zahl der Interaktionen zu und damit die Zahl der möglichen Konflikte. Das wäre — weil Voraussetzung für Verhaltensänderungen — positiv, wenn das entsprechende Personal bereitstünde, um mit den Insassen zu arbeiten. Weil das aber nicht hinreichend der Fall ist, entsteht der Eindruck des Unfertigen: Der erste Schritt, Liberalisierung und Humanisierung – sicher mehr oder weniger entschlossen — wird getan, der zweite Schritt, Strukturierung des offenen Milieus auf das Behandlungsziel hin, unterbleibt, weil er zu teuer ist. In erster Linie wäre mehr und fachlich gut gerüstetes Personal erforderlich. Darüber hinaus müßte, da an Neubauten wohl nur im Ausnahmefall zu denken ist, die panoptische und panakustische Gebäudesubstanz der alten Gefängnisse und Zuchthäuser durch Umbaumaßnahmen in dezentralisierte, voneinander abschließbare Untereinheiten — bis hin zu Wohngruppen — gegliedert werden. Solange das nicht entschlossen geschieht, bleibt der Vollzug in krisenanfälliger Unentschiedenheit. Auf den alten Strukturen sitzen liberalisierte Verkehrsformen auf; welche Kommunikationsinhalte sich durchsetzen, ist von den Anstalten kaum stärker steuerbar als in den Zeiten des Verwahrvollzuges. Die Gefährdung des immerhin Erreichten wird durch einen zweiten Sachverhalt erhöht:

Psycho­lo­gi­sche Probleme der Bediens­teten

2. Wer im Umgang mit Gefangenen — dies gilt in entsprechender Abwandlung auch für andere Arbeitsfelder — eingefahrene Kommunikationsgleise verläßt und versucht, eine helfende Beziehung herzustellen, wird in einen Strudel von Problemen hineingezogen. Unter der Decke routinierter Abläufe liegen Verzweiflung, Ausweg- und Hilflosigkeit, Überdruß, Aggressivität und Selbstverachtung so dicht, daß schon ein geringes Maß an Zuwendung die Kruste aus Konventionen aufbrechen läßt. Nahezu gesetzmäßig entsteht daraus nicht nur — in rein quantitativer Betrachtung — zunehmend mehr Arbeit, sondern — wesentlicher noch — die betreffenden Bediensteten sehen sich einer starken psychischen Belastung ausgesetzt. Solange sie von ihrer Zahl und Ausbildung her garnicht in der Lage sein können, dies auch nur für die Mehrzahl der Einzelfälle zu meistern, kann Routine, die Verwaltung der Gefangenen und ihrer Probleme, auch als ein Akt des Selbstschutzes begriffen werden.

Auch die Gefangenen sind kritischer geworden

Es ist nicht weiter verwunderlich, daß das von den Gefangenen nicht akzeptiert wird. Im Gegenteil. Sie sind, nicht anders als viele Gruppen in der Gesellschaft auch, kritischer geworden. Sie haben gelernt, was in allen Medien diskutiert wird: daß Gefängnisse totale Institutionen sind, die die Lebensuntüchtigkeit ihrer Insassen vergrößern. Sie haben miterlebt, wie die Forderungen von Wissenschaftlern und Praktikern im Strafvollzugsgesetz ihren Niederschlag in für sie unmittelbar bedeutsamen Bestimmungen zu finden schienen. Und sie sehen nun, daß viele Hoffnungen sich nicht erfüllt haben. Zwar wirkt sich das Gesetz auf den Alltag in den Institutionen in vielen Einzelheiten aus ganz voran mit der Urlaubsregelung, die freilich in ähnlicher Form von mehreren Bundesländern bereits vor dem 1. 1. 1977 praktiziert worden war; entscheidende Veränderungen, die einen qualitativ anderen Vollzug bewirkt hätten, sind das aber (noch) nicht. Bei den Insassen führt die Enttäuschung nicht überall nur zur Resignation oder zu der Bereitschaft, das Erreichte zögernd anzuerkennen, sie provoziert auch Kritik und Unruhe. Die Gefangenen haben durch die Diskussion über den Strafvollzug in der Öffentlichkeit, durch die hier und da existenten Beispiele eines anderen Vollzuges und durch die Praxis engagierter Mitarbeiter zumindest eine Ahnung davon bekommen, daß Vieles anders, hilfreicher und lebensnäher sein könnte.
Wer die Reform trotz zunehmender Schwierigkeiten weiterhin will, muß nun auch die Ungeduld der Gefangenen einkalkulieren; er darf sich nicht wundern, daß sie mehr wollen als den kleinen Finger, der ihnen hinge-streckt wurde. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob Aussage („ich will resozialisiert werden“) und Motivation in jedem Falle übereinstimmen, oder ob alle Forderungen oder auch nur ihr Umfang berechtigt sind, oder ob die richtigen Forderungen an die richtige Adresse gerichtet werden. Für das Verständnis der Situation ist zunächst allein die unverstellte, von moralischen Wertungen freie Wahrnehmung der Tatsache wichtig, daß auch die von den Gefangenen erlebte Diskrepanz zwischen dem als notwendig Angekündigten und dem in der Praxis Eingelösten die Krisenanfälligkeit des Vollzuges erhöht.

Verun­si­che­rung der Mitarbeiter

3. Eine weitere Quelle der Unsicherheit ist die Verunsicherung der Mitarbeiter. Die prekäre Rolle des Aufsichtsdienstes an der Nahtstelle zwischen Mitarbeitern und Insassen wurde oft beschrieben. Zu den traditionellen Konflikten sind allmählich andere getreten: Vor dem Hintergrund einer verbesserten Ausbildung mit erheblichen Stundenanteilen für Psychologie, Pädagogik und Soziologie fühlen sich die Beamten in ihrer späteren Praxis durch die offenkundige FestIegung auf die traditionelle Rolle unterfordert. Zugleich klagen sie darüber, daß sie mit den Problemen, vor die sie der liberalisierte Vollzug stellt, alleingelassen und damit überfordert werden.
Der Widerspruch ist auflösbar. Zunächst weitere Konflikte: Die Entscheidungsspielräume der Beamten sind gering, entsprechend wenden sich die Gefangenen unmittelbar an kompetentere Gesprächspartner. Das gilt um so mehr, je offener eine Anstalt nach innen ist, d.h. je leichter es für die Gefangenen ist, an einen höhergestellten Mitarbeiter heranzukommen. Dabei werden die Beamten nicht nur schlicht übergangen — was für sich schon schmerzlich genug ist — die Gefangenen zeigen überdies oft deutlich, herablassend und aggressiv, wie gering sie ihre Bedeutung einschätzen. Weithin ungelöst ist auch das Problem des kontinuierlichen Einsatzes der Aufsichtsbediensteten in der Betreuungsarbeit. Der häufige Wechsel der Stationen, das Pendeln zwischen Stationsdienst und anderen Diensten und der unvermeidliche Schichtdienst verhindern den Aufbau tragfähiger beruflicher Beziehungen. Verhindert wird dadurch auch, daß der Beamte — obwohl er es vielfach besser weiß — in Konfliktsituationen anders als formal-administrativ reagiert: Es sind nicht „seine” Gefangenen, die er agieren sieht, sondern die der Station XY; er kennt sie nicht, jedenfalls nicht genug. Verhindert wird weiter, daß die Beamten sich für „ihre” Station, die es ja nicht gibt, engagieren und langfristig und planvoll handeln. Paradoxerweise werden die Beamten durch diese Art des Einsatzes letztlich auch in einem Bereich korrumpiert, der in vielen Anstalten nachwievor als der ihre angesehen wird und der ihnen in anderen Anstalten als letzter Halt geblieben ist: die Aufrechterhaltung der Sicherheit und der formalen Ordnung. Wer setzt sich schon konsequent durch und füllt seine Stunden mit Ärger, wenn er nicht auch die Früchte seines Handelns ernten kann und wenn er zusätzlich befürchten muß, daß sich die andere Schicht oder der Kollege, der morgen an seiner Stelle steht, schon längst mit den Gefangenen arrangiert hat!?

Überholte Organi­sa­tion des Aufsichts­dienstes

Die Organisation des Aufsichtsdienstes ist überholt. Die wesentlichste Bezugsgruppe eines Beamten ist nachwievor die Großgruppe aller Aufsichtsbediensteten. Diese Orientierung war von der Sache her „richtig”, solange die paramilitärische Ordnung des Gefängnisses auf die sichere Verwahrung seiner Insassen gerichtet war, für den Aufsichtsbeamten jedenfalls andere Aufgaben noch kaum gesehen wurden. Die Durchsetzung des Behandlungszieles verlangt eine andere Organisation. Anzustreben sind — auf der Grundlage auch baulich voneinander getrennter, überschaubarer Wohngruppen — dezentralisierte Verantwortungs- und Entscheidungsbereiche und die wohngruppenbezogene Zusammenwirkung verschiedener Berufsgruppen in Teams. Bezugsgruppe aller Berufsgruppen ist in einem solchen Vollzug in erster Linie die Gruppe der Kollegen im engsten Arbeitsbereich. Dieser heute (oder auch morgen) allein sachadäquate Bezug löst die Orientierung der Aufsichtsbediensteten an ihrer Großgruppe, die der Sozialpädagogen an den Sozialabteilungen und die der Psychologen an den psychologischen Abteilungen ab. Zugleich wird die Spezialisierung im Aufsichtsdienst um eine wichtige Rolle erweitert: um die des regelmäßig anwesenden, qualifizierten Stations- oder Wohngruppenbeamten.

Angst vor dem Unbekannten

Nun geht es den Mitarbeitern nicht anders als den Gefangenen: Sie erleben die Diskrepanz zwischen dem für die Zukunft Verheißenen und der kläglichen Realität des Alltags. Dabei sehen sich die Aufsichtsbediensteten vor einem doppelten Dilemma: In der Hoffnung auf die noch undeutlich sichtbaren Strukturen eines möglichen künftigen Vollzuges mischt sich die Angst vor dem Unbekannten. Die berufliche Sozialisation der Beamten hat überwiegend im Vollzug von gestern und vorgestern stattgefunden. Die Maßstäbe zur Bewertung des Heute werden dieser Vergangenheit entnommen und in der Großgruppe der Beamten immer wieder neu bestätigt. Liberalisierungen des Vollzuges werden auf der Ebene des unmittelbaren Umgangs mit Gefangenen oft lediglich als Unordnung erlebt. Notwendige Lernprozesse, die Bearbeitung der alltäglichen Konfliktsituationen, d.h. die Strukturierung des Wandels finden aus den bekannten Gründen kaum statt: Die baulichen Verhältnisse lassen die Bildung überschaubarer Abteilungen nicht zu, den Beamten werden ständig wechselnde Einsatzorte zugemutet und den Mitarbeitern des gehobenen und des höheren Dienstes fehlt es wegen einer permanenten Überlastung an der notwendigen Zeit. Manchmal fehlt auch die Einsicht in die Notwendigkeit einer systematischen Einbeziehung der Aufsichtsdienstbeamten in die eigene Arbeit. So läßt nicht nur die Furcht vor der unbekannten Zukunft die Aufsichtsdienstbeamten zögern; hinzu kommen die nicht immer ermutigenden Erfahrungen der Gegenwart.

Gefährdung des Erreichten

Die hier in Umrissen dargelegte schwierige Situation des Personals im Strafvollzug ist letztlich Ausdruck der unentschiedenen Gesamtlage. Mit einer Gefährdung des Erreichten und seiner Fortentwicklung durch größere Teile des Personals wird dann zu rechnen sein, wenn der Vollzug im Stadium der ungemein kräfteverschleißenden Liberalisierung stehen bleibt. Der für Reformen aufgeschlossene Teil der Mitarbeiter wird resignieren oder sich den auf Sicherung und Beharrung drängenden Persönlichkeitsanteilen öffnen, wenn die erforderlichen sächlichen und personalen Ressourcen weiterhin ausbleiben. Getragen von den eher konservativen Bediensteten werden die unverbesserlich reaktionären Kräfte Oberwasser gewinnen und den Ton angeben.
Aus der Öffentlichkeit heraus wird diese Tendenz durch zwei subjektiv konträre, objektiv sich aber ergänzende Entwicklungen gestützt: durch dogmatische Linksgruppen und ihre Mitläufer, soweit sie Einfluß auf den Strafvollzug zu erlangen suchen und durch reformfeindliche journalistische und politische Gruppierungen und die sie legitimierenden Wissenschaftler.

Die Einge­sperrten – Opfer und Täter

4. Der folgende Abschnitt ist noch mehr als die anderen subjektiv. Das Thema ist heikel. Nicht, weil es Abgrenzungsschwierigkeiten gibt, sondern weil die Versuchung zu bedenken ist, daß mit der Abgrenzung zugleich jede radikale Idee ins Abseits gestellt werden könnte.
Der Vollzug ist ein empfindliches Arbeitsfeld. Er spiegelt mehr als andere Bereiche gesellschaftliche Deformationen und Widersprüche wider. Es ist wohl richtig: Die Eingesperrten sind Opfer, in der Regel Opfer ihrer Milieus. Dies festzusteIlen und darauf eine Ideologie zu bauen, die sie ungeschoren läßt; nutzt ihnen freilich zuletzt. Die Eingesperrten sind auch Täter, hier und heute Handelnde. Sie schädigen sich selbst und ihre Umwelt mit falschen Lösungen für ihre Probleme. An diesem Sachverhalt müssen Hilfen ansetzen, die die Straffälligen als Subjekte ernst nehmen. Das hat allenfalls sehr vermittelt mit ökonomischen und politischen Prozessen gesamtgesellschaftlicher Art zu tun. Man wird davon ausgehen müssen, daß in allen heute existierenden Gesellschaftsordnungen diejenigen, die aufgrund ungünstiger Entwicklungsbedingungen und Schädigungen anderer Art Anpassungsschwierigkeiten haben, unter anderen auch zu sozialschädlichen Lösungen greifen. Auf der Ebene des unmittelbaren Umgangs mit Gefangenen werden somit – auf der Grundlage eines humanen Imperativs – stets sozialpsychologische und psychologische Kategorien und Lösungswege im Vordergrund stehen.

Gesell­schaft­li­cher Perspek­tiven und sozial­psy­cho­lo­gi­sche Therapie

Mit diesen Aussagen sollen kriminalitätsfördernde soziale Strukturen und unmenschliche Verfolgungs- und Sanktionssysteme nicht relativiert und in Schutz genommen werden. Im Gegenteil: Die wertgebundene, den „subjektiven Faktor” einbeziehende Zusammenführung einer gesellschaftlichen Perspektive und Orientierung und einer sozialpsychologisch fundierten Handwerklichkeit ermöglicht überhaupt erst den ständigen Versuch, Recht und Unrecht zu benennen und das eigene Handeln daran zu messen. Ein solcher Zugang zur sozialen Wirklichkeit wird allerdings stets unvollkommen und kompromißhaft sein, weil er darauf verzichten kann, die eigenen Unzulänglichkeiten in andere zu projizieren und sich die Welt vorschnell in Freund-Feind-Klischees überschaubar zu machen.
Zugleich erlaubt diese Sichtweise, auf Unrecht auch dann hinzuweisen, wenn andere einen barbarischen Sachverhalt mit Worten in einen Akt höheren Rechts verwandeln. So ist das staatlich sanktionierte Töten eines Menschen Unrecht, gleichgültig in wessen Volkes oder welcher Klasse Namen es geschieht.

Kurzschlüssig-eindeutiges Weltbild
Der Strafvollzug hat sich seit jeher mit einem kurzschlüssig-eindeutigen Weltbild — hier die Guten, dort die Bösen — eingerichtet. Er ist schon aus diesem Grund ein schwieriges Feld für Reformen. Aus dem gleichen Grunde ist er offenbar ein attraktives Feld für dogmatische Gruppen, die ebenfalls auf Eindeutigkeit angewiesen zu sein scheinen. Sie kehren lediglich die Definitionen um: Die Guten oder doch potentiell Guten sind nun — von ihnen selbst abgesehen — die Eingesperrten, die Bösen sind die, die sie bewachen, böse ist auch der Staat, der die Wächter bestellt und bezahlt. Wo dieses Schwarz-Weiß-Gemälde eindeutig sichtbar ist, ist die Grenzziehung leicht: Dem Vollzug müssen Gruppen ferngehalten werden, die die Gefangenen, um welcher hehren Ziele immer, zu Schachfiguren in Strategie- und Taktikkonzepten reduzieren und dem Personal mit Menschenverachtung begegnen.
Die Grenzziehung ist um so mehr erforderlich, als sich die Feindschaft dieser Gruppen nicht zuletzt gegen die richtet, die überkommene Strukturen abzubauen versuchen, um der Komplexität der Wirklichkeit zur Geltung zu verhelfen. Allerdings steckt in dem Wort „Abgrenzung” auch ein doppeltes Problem: Der Hinweis auf unmenschliche Verhältnisse wird nicht falsch, weil er von einer zweifelhaften Motivation getragen wird. Er muß ernst genommen werden, auch wenn die Schwarz-Weiß-Denker von der anderen Seite dann ihrerseits mit Verdächtigungen zur Hand sind.
Schwieriger ist das Problem der zahlreichen gutgläubigen Mitläufer zu lösen. „Abgrenzung” kann hier die Mitwirkung an einem Definitionsprozeß bewirken, der einen Betroffenen überhaupt erst endgültig auf die Rolle des Außenseiters festlegt.

Dogmatische Gruppen gefährden den Straf­vollzug

Für den Strafvollzug bedeutet das Wirken dogmatischer Gruppen eine Gefährdung in unmittelbarer und in mittelbarer Hinsicht. Unmittelbare Gefährdungen bestehen, wo konspirative Verbindungen zwischen draußen und drinnen hergestellt werden. Weniger sichtbar, aber sehr viel verhängnisvoller sind die mittelbaren Wirkungen. Der Vollzug gerät in die Gefahr, die bescheidene Öffnung nach außen wieder zurückzunehmen und sich zur Abwehr der Gefährdung erneut einzuigeln. Dabei arbeiten — gewollt oder nicht – einmal mehr die Extreme Hand in Hand auf ein Ziel hin: auf die Einengung des schon zu groß gewordenen Horizonts.
Reformen können auch dann beeinträchtigt werden, wenn einzelne fest angestellte oder ehrenamtliche Mitarbeiter wegen ihrer zu weit gesteckten und radikal motivierten Ziele scheitern, den Kontakt zum übrigen Personal verlieren und — abermals in unbewußter, aber wirkungsvoller Zusammenarbeit – von Reaktionären als Verkörperer eines neuen Vollzugs hochstilisiert und in verzerrender Koppelung mitsamt jeder Bemühung um Wandel der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

Rückläufige Tendenzen

5. Seit 1974/1975 erscheinen in der deutschen Presse Artikel mit Überschriften wie: „Im Strafvollzug kündigt sich wieder schärferer Wind an“ [1], ,,,Liberale Irrlichter` – einseitiges Resozialisierungsdenken und Kriminalität“ [2], „Scheitert die Strafvollzugsreform?“ [3], „Reformkorrekturen im Strafvollzug“ [4]. Unter der Schlagzeile „Die Reformen in der Zelle werden zur Illusion” schreibt Die Welt am 27. 8. 1975: „Das Pendel schlägt zurück. Die Vorstellung, ein humanisierter Strafvollzug mit einer Resozialisierung der Häftlinge müsse einen Rückgang der Kriminalität zur Folge haben, stößt auf immer stärkere Zweifel.” Die Zeitung beruft sich vor allem auf die Diskussion in den USA, die – auf einer breiten, mittlerweile freilich verebbten „law and order“-Bewegung basierend[5] – in erster Linie durch steigende Kriminalitätsziffern und durch verschiedene Veröffentlichungen von Wissenschaftlern hervorgerufen worden war. Kenn-zeichnend für die Diskussion ist eine Presseüberschrift wie: „Big Change in Prison. Punish — Not Reform“ [6].

Die Martinson-Studie
Eine besonders hohe Bedeutung erlangte ein Beitrag des amerikanischen Soziologen R. Martinson aus dem Frühjahr 1974 [7]. Martinson untersuchte im Rahmen einer Sekundäranalyse 231 in englischer Sprache erschienene, methodisch einigermaßen akzeptable empirische Studien über Resozialisationsprogramme im Strafvollzug. Erfaßt wurde der Zeitraum von 1945 bis 1967. Die ursprünglich untersuchten Probandengruppen, die Trainings- und Behandlungsprogramme und ihre Zielsetzungen und die Erhebungsmethoden waren außerordentlich unterschiedlich. Martinson interessierte sich — als Maßstab für Erfolg und Mißerfolg — lediglich für die Rückfallquote. Er kam zu dem Ergebnis, daß — mit wenigen und isolierten Ausnahmen — durch die Programme keine nennenswerten Auswirkungen auf die Rückfällgefährdung erzielt worden seien [8].
Diese Aussage und ihre Grundlagen werden lebhaft diskutiert. So wurde z.B. eine Umfrage unter den leitenden Beamten der Vollzugsverwaltungen der amerikanischen Bundesstaaten und des Bundes vorgenommen und veröffentlicht [9]. Danach wird von 63% der Befragten der Erfolg von Rehabilitationsprogrammen bejaht, 15% wollen vor einem endgültigen Urteil weitere Erfahrungen abwarten (N = 80; 4 Verweigerungen).Weiter wurde darauf hingewiesen, daß Martinson implizit von der Ausnahme aus-gehe, daß jedes Programm von vornherein auf die Verringerung der Rückfälligkeit angelegt worden sei und daß alle Programme für alle Gefangenen geeignet sein müßten, einen solchen Beitrag zu leisten[10]. Eine Schwäche der Martinsonschen Arbeit sei auch, daß er nur Forschungsprojekte bis 1967 untersucht habe. Die Reformbewegung habe aber erst danach begonnen [11]. Es wird auch darauf hingewiesen, daß Martinson selbst zu dem Ergebnis kommt, daß in über 40% der untersuchten Arbeiten positive Resultate zu verzeichnen seien, wenn auch in einigen Programmen nur für bestimmte Typen von Straffälligen oder unter bestimmten Umständen [12]. Martinson relativiert in der Regel positive Ergebnisse durch Hinweise auf methodische Schwächen, ein offenbar besonders engagiertes Personal [13] usw. Bei der insgesamt oft fragwürdigen Qualität der Untersuchungen gelten ähnliche Einschränkungen aber auch für Studien ohne signifikant positive oder gar negative Ergebnisse.

Bisher nur Ansätze zu einem „Behand­lungs“-Vollzug

Die Arbeiten von Martinson und anderen [14] werden jedoch nicht einfach nur zurückgewiesen. Dafür haben sie zuviel Substanz. Ein ernsthafter Prozeß der Auseinandersetzung mit einem viel zu anspruchsvollen Behandlungsbegriff ist in Gang gekommen. Realistischere Konzepte und bescheidenere Versprechungen gegenüber Politikern und der Öffentlichkeit werden verlangt [15]. Daraus ist auch für deutsche Verhältnisse viel zu lernen. Jedoch darf bei allem berechtigten Nachdenken über den Erfolg von Behandlungsprogrammen und über die Ziele des Vollzugs nicht außer acht bleiben, daß der Vollzug noch nicht so ist, daß man von einem „Behandlungs“-vollzug sprechen könnte. Es gibt Ansätze, mehr nicht. Somit ist jede Kritik, die unter Berufung auf häufig imaginäre Mißerfolgszahlen, auf hysterisch aufgebauschte Skandale im Vollzug und auf Pannen bei Ausführungen und Urlauben den „Behandlungs“-vollzug schlechthin treffen und Hebel zu seiner Beseitigung liefern will, zumindest zu pauschal, um in der Sache weiterhelfen zu können.
Kritisiert wird ein Vollzug, den es (noch) nicht gibt. Es ist ein Streit in einer Welt aus großen Worten. Die den Vollzug reformiert haben, sind daran nicht unschuldig: Allzu lange haben sie der Neigung nachgegeben, aus häufig kurzfristigen politischen Erwägungen heraus Humanisierungen und Liberalisierungen als Behandlungsmaßnahmen anzupreisen. Trotz ihrer Irrealität bleibt die Kritik am „Behandlungs“-vollzug nicht ohne Folgen: Sie trifft bescheidene Fortschritte und kann Weiterentwicklungen blockieren.
Der Vollzug ist somit nicht nur auf einem schwierigen Weg ohne Sicherheit über Ziele und Mittel; er steht zusätzlich unter Beschuß, weil er sich auf diesen Weg begeben hat und damit notwendigerweise zum Nachdenken zwingt und Schwierigkeiten bereitet.

II.
Es ist nicht meine Absicht, auf die offenen Fragen der vorangegangenen Abschnitte abschließende Antworten zu versuchen. Die Aufgabe wäre zu groß. Immerhin sind in Umrissen einige Feststellungen möglich:

Rückkehr zum Verwahr­vollzug keine Alternative

1. Die Rückkehr zum Verwahrvollzug ist keine Alternative zum gegenwärtigen Stand der Entwicklung. Dies aus verschiedenen Gründen. Es ist schwer vorstellbar, daß zusätzlich zum Zurückbleiben hinter berechtigten Hoffnungen ein Zurückgehen hinter den auch durch das StVollzG markierten Stand von den Betroffenen hingenommen würde. Trotz aller Ernüchterung nach Jahren des Reformeifers würde die Restauration der alten Gefängnisverhältnisse auch nicht in unsere gesellschaftliche Wirklichkeit passen. Freilich entwickeln sich „gesellschaftliche Wirklichkeiten” nicht in naturgesetzlicher Berechenbarkeit. Es kommt darauf an, was die gesellschaftlichen Subjekte in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen tun und lassen. Wie eine Gesellschaft sich organisiert und welche Verkehrsformen in ihr üblich sind, ist auch von dem Verhalten der Millionen Einzelnen abhängig. Zu einer passiv-strukturalistischen Sicht tritt die Betonung der Chance zum intentionalen Handeln.
Eine demokratische Ordnung gerät in Gefahr, wenn in ihr das Potential an menschenverachtender Aggressivität wächst. Wie weit eine Gesellschaft verroht ist, läßt sich auch an dem Zustand ihrer Gefängnisse und der Art ihres Umgangs mit Straffälligen ablesen. Verrohung kann hier nicht nur heißen, daß Gefangene in Nummern verwandelt und nach einer Periode der erzwungenen Anpassung voller Haß in die Gesellschaft entlassen werden. Mindestens so wichtig ist die charakterliche Deformation, die sich an einem Personal ereignen kann, dem Tag für Tag die Durchsetzung sinnleerer Zwänge obliegt.
Der humanisierte und liberalisierte Vollzug verringert den Haß zwischen den Gruppen in den Anstalten. Vielleicht ist auch die Hoffnung nicht unberechtigt, daß diese Erfahrung nach draußen übertragen wird. Darauf sollte aber nicht zu sehr gesetzt werden. Der Vollzug ist noch von den alten Strukturen geprägt, die neuen Entwicklungen sind — wie dargelegt — höchst krisenanfällig. Es kommt hinzu, daß Gefangene auf Grund ihrer Sozialisation eher die zerstörerischen Seiten menschlicher Interaktionen erfahren und gelernt haben und letztlich auch auf den Umgang untereinander anwenden. Die Chance dazu ist um so größer, je größer der Freiraum nach innen bei gleichzeitiger Abgrenzung nach außen ist und je weniger das Milieu im inneren durch personelle und sächliche Vorkehrungen strukturiert wird.

2. Erforderlich ist somit die Sicherung und die Fortentwicklung des Begonnenen. Der weitere Ausbau muß sich insbesondere an den folgenden Grundsätzen orientieren:

2.1. „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen” ( § 2 StVollzG). Dieses (Behandlungs-)Ziel ist nur zu erreichen, wenn den schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges entgegengewirkt und das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich an-geglichen wird ( § 3 Abs 2 u 3 StVollzG) und wenn der Vollzug dem Gefangenen aktiv hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern ( § 3 Abs 3 StVollzG).

Fehlge­lau­fene Sozia­li­sa­ti­ons­pro­zesses

2.2. Die Mehrzahl der Gefangenen ist – wie ihr Lebensweg zeigt – nicht in der Lage, den Anforderungen eines normgerechten Lebens in Freiheit nachzukommen. Fast regelmäßig lassen sich als äußere Merkmale dieses Scheiterns schwierige häusliche Verhältnisse oder Fremderziehung bei Pflegeeltern oder in Heimen während der Kindheit oder Jugend, keine oder abgebrochene Berufsausbildungen, häufige Arbeitsplatzwechsel, das Fehlen emotional befriedigender Beziehungen, Ehezerwürfnisse und Ehescheidungen sowie Alkoholgefährdung und Alkoholabhängigkeit nachweisen. Diese bei Gefangenen gegenüber der Normalbevölkerung überproportional häufig anzutreffenden Merkmale einer mißglückten Anpassung sind – wie die kriminellen Handlungen selbst auch – in der Regel Anzeichen für fehlgelaufene Sozialisationsprozesse. Je nachdem, ob – als permanente Struktur, nicht schon als vorübergehende Situation – eine überstrenge, eine verwöhnende oder eine inkonsistente Erziehung zugrundelag, ob innerhalb dieser Aufwuchsbedingungen das Kind abgelehnt oder angenommen worden war, ob sich beispielsweise die permanent überstrenge Erziehung eher in moralischem Druck und Liebesentzug oder in autoritärem Gehabe und in Kindesmißhandlungen äußerte usw, haben diese Merkmale für den Betroffenen eine andere Bedeutung. Entsprechend der unterschiedlichen Ausgangslage muß auch Behandlung jeweils anders ansetzen.

Organische Ursachen

Zusätzlich zu den weit überwiegenden psycho-sozialen Ursachen abweichenden Verhaltens können unterschiedliche, mehr oder weniger betei ligte organische Ursachen festgestellt werden. So können erbliche Belastungen und genetische Schädigungen einem Menschen die Anpassung an die geltenden Normen erschweren. Angeborene körperliche Defekte können zu psychischen und sozialen Störungen in früher Kindheit und Jugend führen. Auch nach verschiedenen Krankheiten, nach Alkohol-und Drogenmißbrauch und durch die Folgen schwerer Verletzungen kann sich ein abweichendes Verhalten entwickeln. Auch hier ist eine Behandlung nach den Bedürfnissen des Einzelfalles unerläßlich. „Behandlung” soll hier und im Folgenden als umfassender Begriff verwendet werden, der keineswegs allein spezielle therapeutische Ansätze, sondern ebenso gezielte Beratungs- und Betreuungsangebote, Methoden der Umweltgestaltung sowie der Aus- und Weiterbildung umfaßt.

Der Gefangene als Subjekt

2.3. Der herkömmliche Vollzug verstärkt die Defizite der Gefangenen durch ein Übermaß an Regelungen, die die Fähigkeit zum selbstverantwortlichen Handeln weiter beeinträchtigen, durch die Reduzierung der Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit wichtigen gesellschaftlichen Institutionen bzw. durch die Wirkungen ihrer anomal verzerrten, anstaltsbezogenen Organisation (z.B. Arbeit, Familie, Freizeit, Öffentlichkeit, Umgang mit Behörden) und durch die starke Beschränkung noch bestehender und die Erschwerung neuer Kontakte.
Von einem Behandlungsvollzug könnte letztlich erst dann geredet werden, wenn sowohl die subjektiven Voraussetzungen, d.h. die Einstellungen der Mitarbeiter, als auch die objektiven Bedingungen der Anstalten — insbesondere die Überschaubarkeit der Abteilungen, ein differenziertes Angebot schulischer, gewerblicher und im engeren Sinne therapeutischer Angebote und die Qualifikation der Mitarbeiter — es zulassen, den Gefangenen als Subjekt mit bestimmten Bedürfnissen, mit positiven und negativen Seiten wahrzunehmen und — darauf aufbauend — ihm entsprechend zu helfen.

Das Sicher­heits­-­Pro­blem

2.4. Behandlung findet unter den Bedingungen des Freiheitsentzuges statt. Befreiungsversuche müssen verhindert werden, und zwar um so nachhaltiger, je geschlossener die Anstalt ist. Sicherheit beruht auf zweierlei: auf Bekanntschaft, auf der Chance somit, das Verhalten anderer einzuschätzen und vorhersehen zu können, und auf einem gewissermaßen über-individuellen, möglichst lückenlosen Sicherungssystem, symbolisiert in Mauern, Gittern und Schlössern. Die beiden Ansätze sind nur in Grenzen vereinbar. So können schematische Kontrollen und die Reaktionen der Gefangenen auf sie als Elemente der Realität Material therapeutischer Bemühungen sein. Je nach Lage des Einzelfalls wird jedoch ein nicht zu bewältigender Rest an Aggressionen gegen ein solchermaßen institutionalisiertes Mißtrauen bleiben, und zwar in um so höherem Maße, je nachhaltiger die Sicherungsmaßnahmen am schwächsten Glied orientiert sind und bedingungslos durchgesetzt werden. Es ist wohl sinnlos, diesen nicht zu bewältigenden Rest beschönigend oder harmonisierend auflösen zu wollen. Er hat dort, wo ein an den Interessen der Einzelnen orientierter Vollzug versucht wird, seine Legitimation in zweierlei: Zum einen ist Sicherung nach außen die Voraussetzung für die Behandlung derjenigen, die sich anders jeder verhaltensmodifizierenden Maßnahme entziehen würden, zum anderen ist Sicherung erforderlich, um die Gesellschaft in Einzelfällen vor sozialschädlichem Verhalten zu schützen.

Ausnahmen

2.5. Die bisher skizzierten Grundsätze und die anschließenden Folgerungen für die Vollzugsgestaltung gelten im Prinzip und – nach den vorliegenden Erkenntnissen – für die Mehrheit der an einem beliebigen Stichtag einsitzenden Gefangenen. Sie gelten nicht oder nur in modifizierter Form für die folgenden Gruppen:
— Für Gefangene mit kurzen Freiheitsstrafen. Bei ihnen wird bisher stets davon ausgegangen, daß sie überwiegend nicht behandlungsbedürftig sind. In der Regel bleibt es, häufig nach einem Verkehrsdelikt, bei einer einmaligen Berührung mit dem Strafvollzug. Selbst wenn eine partielle, auf Untergruppen bezogene Behandlungsbedürftigkeit zu konstatieren wäre, müßte dann eine meist fehlende Behandlungsbereitschaft in relativ kurzer Zeit angeregt werden. Auf der anderen Seite fehlen in Vollzugsanstalten für Gefangene mit kurzen Strafen bundesweit nahezu alle baulichen und personellen Voraussetzungen, um Erfahrungen mit Kurzzeitbehandlungsprogrammen zu sammeln.
– Für Gefangene mit längeren Strafen, die nicht behandlungsbedürftig oder (noch nicht, nicht mehr) behandlungsfähig sind. Diese Gruppe kann bei realistischer Betrachtung der Gesamtsituation nicht unberücksichtigt bleiben. Sie ist in sich heterogen, über ihre Größe läßt sich, da von Behandlungsunfähigkeit häufig erst nach einem oder wiederholten Behandlungsversuchen geredet werden kann, nichts abschließendes sagen. Sie ist vermutlich klein. Zu nennen sind hier ältere Gefangene, die in ihrem kriminellen Verhalten und den ihm zugrundeliegenden Persönlichkeitsstörungen erheblich verfestigt sind, einmalige Konflikttäter, aber auch Wirtschaftsstraftäter, NS-Täter und weithin sicher auch Gewalttäter im Gefolge des Baader-Meinhof-Komplexes. Für diese Täterkreise müssen ihnen jeweils entsprechende Betreuungsformen gefunden werden; ihre Zusammenlegung mit Gefangenen, für die spezielle Behandlungsprogramme entwickelt werden, sollte in einem künftigen Strafvollzug grundsätzlich vermieden werden.

Vollzugsgestaltung

3. Folgerungen für die Vollzugsgestaltung:

3.1. Möglichst realistische Lebensbedingungen: Auf die Förderung der Selbsttätigkeit, der Selbständigkeit und des Verantwortungsbewußtseins der Gefangenen ist großer Wert zu legen. Dabei sind nicht Appelle entscheidend, sondern die Übungsräume, die im Alltag der Institution eingeräumt werden. Die Schaffung realistischer Lebensbedingungen gelingt am ehesten im offenen Vollzug. Bei einer größeren Gruppe als bisher wird die Unterbringung im offenen Vollzug anzustreben sein (vgl § § 3, 10, 141, Abs 2 und 147 StVollzG). Bei anderen wird ein allmählicher Übergang aus festeren Abteilungen in Abteilungen mit zunehmenden Freiheitsräumen organisiert werden müssen ( § 11 StVollzG). Für die Planung folgt daraus, daß für die mit kriminellen Handlungen erheblich vorbelasteten, für den offenen Vollzug noch nicht geeigneten Gefangenen, ein in sich differenzierter Vollzug, der eine zunehmende Öffnung und damit die allmähliche Begegnung und Auseinandersetzung des Gefangenen mit den Anforderungen der Außenwelt zuläßt, geschaffen werden muß.
Möglichst realistische Lebensbedingungen sind auch nach innen herzu-stellen. Dazu gehört insbesondere, daß die Gefangenen ihre Angelegenheiten weitgehend selbst regeln sollten und daß – von seiten der Anstalt – für möglichst realistische Arbeits-, Freizeit- und Besuchsbedingungen gesorgt werden muß. Außerdem gehört hierzu das Recht auf den Rückzug in eine geschützte Privatsphäre. Voraussetzung dafür ist in erster Linie die Unterbringung in Einzelwohnräumen.

Diffe­ren­zierte Unter­brin­gung

3.2. Differenzierung: Die Anstalten müssen so organisiert werden, daß die Unterbringung unterschiedlicher Gefangenengruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Behandlungserfordernissen möglich ist ( § 141 StVollzG). Eine solche Differenzierung ist nur dort durchführbar, wo in einer Einweisungsanstalt oder -abteilung qualifiziertes Personal für ein Einweisungsverfahren zur Verfügung steht, und wo in den Anstalten die Empfehlungen der Fachkräfte verwirklicht werden können. Bleibt die Frage, nach welchen Gesichtspunkten Anstalten differenziert werden sollten. Neben die üblichen Kriterien wie insbesondere Straflänge, Gefährlichkeit, Fluchtverdacht und berufliche Qualifikation für den Einsatz in Eigenbetrieben sollten zunehmend Kriterien wie Behandlungsbedürftigkeit und -fähigkeit sowie schulische und berufliche Ausbildungserfordernisse treten. Undurchführbar ist wohl – zumindest nach den heute vorliegenden Erkenntnissen – eine hier und da geforderte Differenzierung der Anstalten nach Persönlichkeitstypen. Hier sollten jedoch die Anstalten selbst, besonders die stärker behandlungsorientierten, innerhalb ihres Bereichs solche Kriterien berücksichtigen.
Mittelfristig wären, neben den Differenzierungsmöglichkeiten nach jung – alt, kurzstrafig – langstrafig und gefährlich – weniger gefährlich, Unterbringungs- und Behandlungsmöglichkeiten vor allem für stark behandlungsbedürftige Gefangene in sozialtherapeutischen Anstalten zu schaffen.

Überschau­bare Abteilungen oder Wohngruppen

3.3. Überschaubarkeit: Die Realisierung des Behandlungszieles setzt enge berufliche Beziehungen zwischen fachlich vorgebildeten Mitarbeitern und zwischen Mitarbeitern und Gefangenen voraus. Das ist nur in überschaubaren Abteilungen oder in Wohngruppen mit 25 bis 12 Gefangenen möglich. Die psycho-sozialen Prozesse, die in solchen Gruppen ingangkommen können, sind eine besonders wichtige Grundlage für Verhaltensänderungen bei den Insassen. Sie ermöglichen zudem ein Höchstmaß an Sicherheit durch auf Bekanntschaft beruhende soziale Kontrolle. Überdies reduzieren überschaubare Wohngruppen die Gefährdung der Insassen durch antisoziale, subkulturelle Normen, wie sie insbesondere in solchen Großgruppen von Gefangenen zu beobachten sind, die unter dem Druck engmaschiger Reglementierungen zu existieren gezwungen sind.

Kontakte zur Außenwelt

3.4. Verkehr mit der Außenwelt: Die Verringerung der negativen Folgen totaler Institutionen setzt weiter voraus, daß zwischen den Insassen in der Anstalt und den Bezugspersonen in der Außenwelt möglichst dichte und intensive Kontakte zugelassen werden (vgl § 1, Abs 1 u. § § 23 f f StVollzG). Die Intensivierung des Ausgangs-, Urlaubs- und Besuchsverkehrs sowie der frühzeitigen Vermittlung der Gefangenen in Außenarbeit verlangt auch, daß neue Anstalten in möglichst verkehrsgünstiger Lage errichtet werden. Vollzugsgettos sollten durch die Einbindung der Einrichtungen in besiedelte Gebiete vermieden werden.

Schulische und berufliche Ausbildung
3.5. Förderung der allgemeinen und beruflichen Fähigkeiten: Die Verwirklichung des Behandlungszieles verlangt zudem die Förderung der allgemeinen und beruflichen Fähigkeiten der Gefangenen. Bezogen auf die Errichtung und den Umbau von Anstalten ist daraus herzuleiten, daß für ausreichenden Raum für Behandlung, schulische und berufliche Ausbildung und für sinnvolle Arbeitsangebote gesorgt werden muß.

3.6. Mitarbeiter: Die genannten vollzugsgestalterischen Leitsätze wirken sich nur dann im Sinne einer Senkung der Rückfallzahlen aus, wenn die durch sie gegebenen Freiräume durch geschulte Mitarbeiter in ausreichen-der Zahl so strukturiert werden, daß die einzelnen Gefangenen zur Auseinandersetzung mit problematischen Verhaltensweisen gezwungen und zur Übernahme positiver Verhaltensalternativen ermutigt werden. So sollten insbesondere die überschaubaren Wohngruppen mit sozialpädagogisch befähigten Mitarbeitern des gehobenen Dienstes (insbesondere Sozialarbeiter) und des mittleren Dienstes besetzt werden. Zusätzlich müssen je nach Zweckbestimmung der einzelnen Anstalten und Abteilungen in ausreichendem Maße verschiedene Fachärzte, Psychologen, Pädagogen, Handwerksmeister und sonstige Dienste vertreten sein.

Anmerkungen

1 Der Tagesspiegel vom 10.10.1975
2 Rheinischer Merkur vom 3.10.1975
3 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.12.1974
4 Deutsche Richterzeitung 11/1975
5 Vgl Gunther Arzt: Der Ruf nach Recht und Ordnung, Tübingen 1976
6 U.S. News & World Report, August 1975
7 Robert Martinson: What works? — questions and answers about prison reform, in: The Public Interest, Spring 1974
8 Martinson: aa0, S 25
9 Michael S. Serrill: Is Rehabilitation Dead? in: Corrections Magazine, Mai/Juni 1975
10 Serrill: aaO, S6
11 Serrill: aaO, S 6
12 Daniel Glaser: Achieving Better Questions: A Half Century’s Progress in Correctional Research, in: Federal Probation, Vol 39,3/1975, S 4
13 Martinson: aaO, S 43
14 Vgl Norval Morris: The Future of Imprisonement, Chicago u London 1974; James Q. Wilson: Thinking About Crime, New York 1975
15 Vgl Norman A. Cazlson: The Federal Prison System: Forty-five Years of Change, in: Federal Probation, Vol 39,2/1975; George I. Diffenbaucher: Settling for „Humanization”: Evidence of Despair or of Facing „Reality“?, in: Federal Probation, Vol 40,1/1976; Claude T. Mangrum: Correction’s Taznished Halo, in: Federal Probation, Vo140,1/1976

Frau M. Meisling und Herr Dr. A. Weinert haben mir mit der kritischen Durchsicht dieser Arbeit sehr geholfen; für den Inhalt des Aufsatzes bin ich allein verantwortlich.

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