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Die antide­mo­kra­ti­schen Erzie­hungs­ziele

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 126-27

Heinrich Kupffer: Pädagogische Praxis und die Theorie. Zum Problem der Freiheit erzieherischen Handelns; Beltz Verlag, Weinheim 1977, 183 S, 15 DM.
Horst Rumpf: Unterricht und Identität. Perspektiven für ein humanes Lernen, Juventa Verlag, München 1976, 199 S, 14 DM.

„Schon der Begriff ,Erziehungsziel‘ enthält ein Element von Unfreiheit”, schreibt Kupffer; im „Hantieren” mit Erziehungszielen spiegeln sich „Mechanismen der Herrschaft und des Zwanges”,
sie sind „Ausdruck eines diktatorischen Systems”. Eine emanzipatorische Erziehung muß das „Ziel-Modell” der Erziehung infragestellen, das „teleologische Konzept”, das bisher nur allzu selbstverständlich mit Erziehung gleichgesetzt wird: Kinder und Jugendliche gelten als „erziehungsbedürftig”, man stellt Normen und Ziele für ihre Zukunft auf, die dann erfolgreich absolviert werden müssen. Die Schule, dieser „verlängerte Initiationsritus”, beschränkt sich auf Entscheidbares, Prüfbares, Bewertbares, das einzelne Individuum wird vergessen und im Stich gelassen.
Dabei hat Erziehung doch immer mit dem „konkreten Menschen” zu tun. Man sollte eigentlich annehmen, daß immer von ihm ausgegangen wird; Erziehung geschieht immer „in der Zeit”, immer in einer konkreten Situation, Erziehung ist immer „Ernstfall”. Gerade das, was als „ausgemacht gilt”, was bisher Erziehung selbstverständlich in Anspruch nahm, stellt Kupffer infrage, z.B. die Belehrung Unwissender durch Wissende, oder daß es in der Erziehung eine Hierarchie, ein Oben und ein Unten zu geben habe: der Erzieher steht nicht oberhalb, nicht außerhalb, er ist kein neutraler Beobachter, sondern steht in dauernder Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen. Sieht er diese als Untergebene oder als Partner? Im ersteren Fall erweist sich der sogenannte demokratische Erziehungsstil als bloßer Trick und entlarvt sich als autoritär und undemokratisch, handelt es sich dabei doch höchstens um die „Änderung des Gebarens”, nicht aber der Verhältnisse.
Scharf wendet sich Kupffer gegen die ebenfalls kaum hinterfragte Meinung, es gebe eine „richtige” und eine „falsche” Erziehung, eine erfolgreiche und eine mißlingende. Im „gewohnten Sprachgebrauch” wird „Verwahrlosung” als das „Gegenteil von gelungener Erziehung” behandelt. Aber das „Prinzip der Kriminalisierung” ist in aller Erziehung enthalten, deren Zentrum „nicht die Entfaltung individueller Möglichkeiten, sondern die erfolgreiche Bewältigung festgelegter Standards” ist. Kupffers These lautet, „daß sich in der Delinquenz nur das materialisiert, was in der Erziehung ohnehin latent wirksam ist”.

Von anderen Ausgangspunkten herkommend — nämlich schulischer Alltagspraxis und Curriculumtheorie — gelangt Horst Rumpf zu ähnlichen Schlußfolgerungen. Er bemängelt an unseren Schulen in erster Linie, daß sie die Schüler in eine „Lerner-Rolle” drängen unter Abstrahierung ihrer Lebenshintergründe, bisherigen Erfahrungen und derzeitigen Bedürfnisse, und daß sie dadurch und durch ein gnadenloses Konkurrenz- und Leistungssystem Angst, „substantielle Erschütterungen”, Entfremdung und schließlich Unterwürfigkeit er-zeugen. Gerade das erweise sich als wichtiges gesellschaftliches Problem: „Nichtigkeitsängste führen zu Überanpassungen, zur Auslieferung an die Kontrollen der Einrichtungen”; die „virulent werdenden Ängste, Affekte, Pathologien sind gesellschaftlich von mächtigen Interessenten verwertbar”. Aber für solche Zusammenhänge ist die Didaktik „merkwürdig unsensibel”, das betrifft sowohl „die lerntheoretische wie die orientiert Spielart” der Didaktik, die beide am „Monopol des zweckrationalen Unterrichtskonzepts” orientiert seien. Solange dieses Konzept als „unhinterfragbare Selbstverständlichkeit” angenommen wird, „droht Versteinerung und Dogmatisierung” einer Form von Unterricht, die alle nicht vorgeplanten Ereignisse und Aktivitäten „prinzipiell als Störfaktoren” auszusondern sucht: Unterricht wird dabei zur bloßen „Summe von gezielten Beeinflussungen, die einen Lernenden von Lernzustand A in den Lernzustand B versetzen”; die Unterrichtsereignisse werden „nach ihrem empirisch überprüfbaren Beitrag zur möglichst perfekten Beherrschung des angezielten Endverhaltens ausgewählt, verändert, geprüft. Der Unterricht wird zum zweckrational einzusetzenden Instrument der effizienten und ökonomischen Produktion eines präzis zu beschreibenden Endverhaltens.” Auf der Strecke bleibt der Schüler – in erster Linie der nicht total angepaßte, aber auch der langsame und der selbständig denkende –, dafür bringt Rumpf eine Menge von treffenden, teils erschütternden Beispielen.
Von der Erziehungswissenschaft erwartet Rumpf, daß sie „für identitätsbedeutsame Szenen empfindlich werde” und daß sie sich von den oben genannten Dogmen abkehre, vom Schulunterricht wünscht er „neue, subjektive Interaktionsentwürfe” zuungunsten der „fast monopolartigen Stellung der Weitergabe von Information” sowie eine Reduktion der „ichfremden Lernaktivitäten” auf ein unabdingbares Minimum, kurz: „einen Hauch von Brüderlichkeit”.
Bleibt der „mächtige gesellschaftliche Druck”! Vielleicht können diese beiden Bücher zum Abbau desselben beitragen.

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