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Ein vergeudetes Jahr

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 5-8

„Der vollkommene Weltmann”, hat Schopenhauer einmal gesagt, „wäre der, welcher nie in Unschlüssigkeit stockte und nie in Übereilung geriete.” Das Urteil ließe sich unschwer auf Politiker anwenden. Legt man diesen Maßstab an die jüngsten Leistungen der Politiker in der Bundesrepublik, so muß man feststellen, daß sie alle — unbeschadet ihrer Parteizugehörigkeit — von Vollkommenheit sehr weit entfernt sind. Nirgends wird das deutlicher als an der Art und Weise, wie hierzulande ein Jahr, das für eine konstruktive, phantasievolle Politik hätte genutzt werden können, vergeudet worden ist. Es mag manchem verfrüht erscheinen, schon jetzt ein solches Urteil über das Jahr 1977 zu fällen — vor 1980 das einzige Jahr ohne Wahlen; aber das Rennen ist tatsächlich schon gelaufen. Die Versäumnisse sind nicht mehr einzuholen.
Es läge vielleicht nahe, nicht auf das Kalenderjahr 1977 abzustellen, sondern auf die ersten zwölf Monate nach der letzten Bundestagswahl; aber den Rest des Jahres 1976 durfte man den vom Wahlkampf erschöpften Parteien und Politikern als Frist zum Atemholen und zur Erneuerung ihrer Kräfte zugestehen. Dann aber wäre es ihrer aller Aufgabe gewesen, die Gunst der Stunde oder viel-mehr des Jahres zu nutzen. Sie haben es nicht getan.
Was hätte denn in diesem Jahr 1977, in der Windstille zwischen den Wahlkämpfen, geschehen können? Vielmehr: was hätte getan werden müssen? Es mag nützlich sein, sich das, was versäumt wurde, auch nachträglich zu vergegenwärtigen — selbst auf die Gefahr hin, daß man ein Utopist gescholten wird. Da aber die Pragmatiker, die selbstbewußten Macher angesichts der Praxis so kläglich versagt haben, darf denen, die Politik für eine Herausforderung von Phantasie und Ideenreichtum halten, wenigstens die Kritik nicht versagt werden.

Wenn der Wahlkampf und der Ausgang der Bundestagswahl vom 3. Oktober 1976 etwas gelehrt hatten, so war es dieses: daß die totale Konfrontation sich nicht auszahlt. Die Folgerung hätte für alle Beteiligten sein müssen, sich um den Abbau der Konfrontation zu bemühen. Stattdessen blieb man bei der gegenseitigen Beschimpfung. Die Unionsparteien bezichtigten die Koalition des politischen, finanziellen und moralischen Bankerotts, während die Sozial-Liberalen der Opposition vorwarfen, sie sei in ihrem derzeitigen Zustand nicht regierungsfähig. Beide Vorwürfe entbehrten nicht völlig der Substanz, erzielten jedoch, weil sie maßlos übertrieben wurden, keinen nennenswerten Effekt.
Abbau der Konfrontation hätte nicht notwendigerweise die Wiederholung einer großen Koalition bedeutet, die von Bonner Gerüchteköchen seit Monaten immer wieder einmal angekündigt wird. Sie ist zwar nicht so unwahrscheinlich, wie Politiker der beiden großen Parteien jeweils beim Wiederauftauchen dieses Gerüchtes behaupten. Wahrscheinlich ist sie vorläufig trotzdem nicht, und erstrebenswert findet sie bisher kaum ein einziger verantwortlicher Politiker. Die Erinnerung an die Unfruchtbarkeit der späten sechziger Jahre ist doch noch nicht ganz erloschen.
Eine Neuauflage der großen Koalition wäre aber keineswegs die einzige Alternative zum Abbau der totalen Konfrontation. Vielmehr hätte das von Wahlkämpfen verschonte Jahr 1977 dazu genutzt werden können, eine Anzahl von politischen Problemen oder Sektoren zu bestimmen, die grundsätzlich aus dem Parteienstreit auszuschließen und als Gemeinschaftsaufgaben aller politischen Kräfte anzusehen wären. Nicht eine Große Koalition oder gar Allparteienregierung, wohl aber eine „Arbeitsgemeinschaft” aller im Bundestag vertretenen Parteien hätte etabliert werden können, ehe das Herannahen neuer Wahlkämpfe die Verwirklichung eines solchen gewiß nicht einfachen Vorhabens aussichtslos machen muß.
Für eine solche „Arbeitsgemeinschaft der Bundestagsfraktionen” bieten sich vornehmlich drei Bereiche an. Am leichtesten müßte sie selbst heute noch im Bereich der Deutschland- und Außenpolitik herzustellen sein. Nachdem auch die Unionsparteien die Ostverträge einschließlich des deutsch-deutschen Grundlagenvertrages als politische Tatsachen anerkannt haben, ist in der Deutschlandpolitik ohnehin nur noch ein Streit um Nuancen möglich. Wenn einige Unionspolitiker dergleichen zu Grundsatzfragen emporstilisieren möchten, so finden sie selbst in den eigenen Reihen immer weniger Beifall; in der Außenpolitik aber gibt es echte Gegensätze ohnehin nicht mehr. Die Schwierigkeiten, mit denen die jetzige Bundesregierung in der Europapolitik, in den Vereinten Nationen, gegenüber dem eigenwilligen Jimmy Carter oder hinsichtlich Afrikas zu ringen hat, würden nicht geringer, wenn in Bonn ein
Regierungswechsel einträte. Eine gemeinsame Deutschland- und Außenpolitik scheitert vorläufig nur an der Totalität der Konfrontation. Schwieriger, aber nicht grundsätzlich aussichtslos wäre die Ausdehnung einer politischen „Arbeitsgemeinschaft” auf das weite und wichtige Feld der Energiepolitik. Dafür spricht die Tatsache, daß die energiepolitischen Fronten schon heute quer durch alle Parteien verlaufen. In der Tat gibt es ja weder sozialdemokratische noch christdemokratische Kernenergie, und die Entscheidung darüber, wie die durch bloße Verweigerung nicht mehr aus der Welt zu schaffenden Probleme von Kernkraftwerken, Entsorgungsanlagen und Umweltschutz gelöst werden können, läßt sich nicht in konservativen oder liberalen Lehrbüchern ermitteln. Es wäre vielmehr verhängnisvoll, wenn diesbezügliche Entscheidungen unter dem Druck der totalen Konfrontation stumpfsinnig nach Parteilinien getroffen würden. Könnten sich die Parteien dahin verständigen, daß die Energiepolitik bis auf weiteres nicht mehr kontrovers, sondern konsultativ behandelt werden soll, so wären die Aussichten dafür, daß eine einigermaßen vernünftige Regelung vereinbart und beschlossen wird, erheblich größer als bei Fortdauer des jetzigen Zustandes.
Nicht anders steht es bei der Arbeitslosigkeit. Würde auch diesbezüglich auf eine parteipolitische Auseinandersetzung verzichtet, so wüchse die Wahrscheinlichkeit, daß aufgrund einer gemeinsam vorzunehmenden Analyse der Weg zu gemeinsam zu treffenden Entscheidungen frei würde. Es ist ja offensichtlich unsinnig, daß heute die Oppositionsparteien der Regierungskoalition vorwerfen, die Arbeitslosigkeit hierzulande sei das Ergebnis ihrer Mißwirtschaft oder verfehlten Politik. Der Streit über die Ursachen der Arbeitslosigkeit — ob sie überwiegend konjunktureller oder struktureller Natur sind — geht wiederum quer durch die Parteien. Deshalb ist es so schwierig, zu einer von einer breiten Mehrheit getragenen Arbeitsmarktpolitik zu gelangen. Es läßt sich heute mit Sicherheit voraussagen, daß Unternehmer und Gewerkschaften in naher Zukunft über gemeinsame Maßnahmen zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit beraten werden. Es ist nicht einzusehen, warum die Parteien solche Bemühungen nicht durch gemeinsame Beratungen unterstützen sollen.
Wenn aber eine solche begrenzte „Arbeitsgemeinschaft” aller Parteien zustandegekommen wäre, dann hätte sie neben der Entwicklung einer gemeinsamen Politik in den genannten Bereichen noch eine weitere Entscheidung treffen müssen, ohne die eine solche Arbeitsgemeinschaft keine Dauer haben könnte. Es hätte dann in diesem von Wahlkämpfen verschonten Jahr dafür gesorgt werden müssen, daß innerhalb einer Legislaturperiode des Bundestages nur einmal Landtagswahlen stattfinden und damit mehr Freiraum für ernste politische Arbeit geschaffen wird. Um es im Klartext zu sagen: Die Parteien waren zu Anfang dieses Jahres aufgerufen, sich untereinander und mit den von ihnen getragenen Länderregierungen dahin zu einigen, daß künftig alle Landtagswahlen an einem und demselben Tag in der Mitte der Bonner Legislaturperiode stattfinden. Das ist ohne die Mitwirkung aller Beteiligten nicht zu erreichen. Geschieht das jedoch nicht, so ist die Beruhigung des politischen Lebens in der Bundesrepublik nicht möglich. Solche Beruhigung ist aber die Grundvoraussetzung dafür, daß die totale Konfrontation abgebaut wird. Man kann auch sagen: solche Beruhigung ist die Voraussetzung dafür, daß die parlamentarische Demokratie in unserm Lande lebensfähig bleibt.

Das alles wäre möglich gewesen, wenn die Verantwortlichen in unsern Parteien – ob in der Regierung oder in der Opposition – nicht Nabelschau mit Politik verwechselt hätten. Anstatt ihr Verhalten am Gemeinwohl zu orientieren, fingen sie an, sich mit sich selbst zu beschäftigen – und haben damit bis heute nicht aufgehört.
Es lohnt nicht, an dieser Stelle die innerparteilichen Streitigkeiten in allen Phasen und Verästelungen nochmals nachzuzeichnen. Sie haben in den einzelnen Parteien unterschiedliche Ursachen gehabt. Bei den Unionsparteien lag die Ursache dessen, was sich mit dem Namen Kreuth zusammenfassen läßt, in der Überzeugung des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß, daß die Unionsparteien mit Helmut Kohl den falschen Kanzlerkandidaten auf den Schild gehoben hätten – eine Überzeugung, die sich seit dem 3. Oktober 1976 immer mehr Politikern der Unionsparteien mitgeteilt hat. Wie immer man über die Berechtigung dieses Urteils denken mag, so ist eines offenkundig und gewiß nicht allein Helmut Kohl anzulasten: die CDU bringt nicht die Kraft auf, dieses ihr wichtigstes Problem zu lösen. Sie stellt sich weder eindeutig hinter ihren Vorsitzenden noch kann sie ihn zum Rücktritt bewegen. Sachfragen werden nicht ausgetragen, weil sie alsbald von dem Personalkonflikt überlagert werden. In diesem Zustand aber erscheint die Union in der Tat nicht imstande zu sein, die Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Wenn die sozialdemokratische Führungsspitze – Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner – ebenfalls zerstritten ist, so hat das weniger persönliche als sachliche Gründe, wiewohl beide um so schwieriger auseinanderzuhalten sind, je länger der Konflikt andauert. In der Partei breitet sich Unbehagen aus, weil zumal an der Basis viele Genossen das Gefühl haben, daß ihre Partei zwar formell die Führung der Bundesregierung hat, daß deren Kurs und Politik aber in zunehmendem Maße vom kleineren Koalitionspartner bestimmt werden, und dort wieder eher vom rechten Flügel der Freien Demokraten. Vertieft wird dieses Unbehagen noch dadurch, daß der stellvertretende Parteivorsitzende Helmut Schmidt als Bundeskanzler auch ganz ohne Zutun der FDP eine Politik treiben würde, die keine sozialdemokratische Politik, auch im Sinne des Godesberger Programms, mehr ist. Herbert Wehner aber, inzwischen 71 Jahre alt, sieht die Möglichkeit, daß die SPD in der Regierungsverantwortung abgelöst und wieder auf die Oppositionsbank geschickt werden könnte – ein an sich normaler demokratischer Prozeß – wie ein Verhängnis auf sich zukommen. Man hat den Eindruck, als würde Wehner in einer solchen Entwicklung die Zerstörung seines politischen Lebenswerkes erblicken. Er, der in der Einigung der deutschen Arbeiterklasse – möglichst über die innerdeutsche Grenze hinweg – immer seine eigentliche Aufgabe gesehen hat, teilt heute das Schicksal derer, die sich selbst überlebt haben. Die Arbeiterklasse, wie Herbert Wehner sie vor fünfzig Jahren gekannt hat, gibt es nicht mehr. Willy Brandt hat das, wenn man seine letzten Äußerungen richtig interpretiert, inzwischen erkannt, ohne allerdings zu wissen oder mindestens auszusprechen, welche Konsequenzen daraus gezogen werden müssen. Es gibt in der heutigen SPD nicht wenige bemerkenswerte Denkansätze – wobei zumal an Erhard Eppler zu denken ist –, aber es gibt keinen Konsensus über das, was sozialdemokratische Politik hier und heute sein müßte.
Einen solchen Konsensus bezüglich der Politik der eigenen Partei gibt es freilich auch nicht bei den Freien Demokraten. Ihren Zustand könnte man derzeit am besten unter Anlehnung an Goethe mit dem bekannten Epigramm schildern: „Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitte.” Prophete rechts: das ist der Wirtschaftsflügel unter Führung von Hans Friderichs und Otto Lambsdorff. Prophete links: der sich auf Freiburg berufende linke Flügel, in dem nach dem politischen Selbstmord Werner Maihofers die beiden jungen Frauen Helga Schuchardt und Ingrid Matthäus den Ton angeben. Das Weltkind in der Mitten aber ist der Parteivorsitzende Hans Dietrich Genscher, dessen Allgegenwärtigkeit nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß der Kampf ums Überleben seiner Partei ihn daran hindert, langfristige Politik zu machen.

Es liegt auf der Hand, daß unsere Parteien in dieser Verfassung außerstande sind, sich jeweils am eigenen Schopf aus dem allen gemeinsamen Sumpf herauszuziehen. Das aber ist die Erklärung dafür, daß dieses Jahr 1977 nicht zu neuen politischen Ansätzen genutzt, sondern einfach vergeudet wurde. Die Folgen werden wir alle zu tragen haben.

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