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Editorial: Strafe und Straf­vollzug

vorgängevorgänge 2910/1977Seite 27-28

aus: vorgänge Nr.29 (Heft 5/1977), S. 27-28

Wer in diesen Wochen und Monaten über das staatliche Monopol des Strafens, des Strafzumessens und des Strafvollziehens reden will, wird in erster Linie über die desolate Rolle des Strafverteidigers reden müssen, der, weil er seinen Mandanten zu entlasten versucht, in den Geruch geraten ist, er wolle „den Staat” „in die Pfanne hauen”, was immer das bedeute… „Der Staat” zählt inzwischen offenbar mehr als ein einzelner Mensch, und der neu bestimmte BGH-Präsident namens Pfeiffer erklärte zu seiner Einführung, er sehe Möglichkeiten, die Verfahren zu verkürzen und Revisionen zu erschweren, indem „den Verteidigern“ nicht so viele Möglichkeiten zur „Verfahrensverzögerung” geboten würden.
Der unveräußerlichen Rolle des Strafverteidigers im Strafprozeß gerecht zu erden fällt gewiß immer schwerer, nachdem ein Gesetz über „Kontaktsperre” binnen 3 Tagen im Bundestag durchgesetzt und den (nur 21) Abweichlern mangelnde Fraktionsdisziplin unterstellt werden konnte und nachdem auch (wieder einmal, diesmal wahrscheinlich mit größerem Erfolg) ein Gesetzentwurf über die Abhörung von Verteidigergesprächen neu debattiert wird. Ich bin mir darüber im klaren, daß die mit 4 Morden gekoppelte Entführung von Hanns-Martin Schleyer den Rechtsstaat vor eine ungeheuere Belastungsprobe stellt, das heißt vorallem also: das parlamentarische System. Es muß indertat — ich rekurriere auf mein aktuelles Editorial des letzten Heftes — inzwischen mehr Muskeln als Gehirn zeigen, aber — das ist ihm vorzuwerfen — es folgt diesem Zwang allzu bereitwillig. Die Kernfrage — die Werner Holtfort in diesem Heft hartnäckig n i c h t vermeidet —, was eigentlich von einem rechtsstaatlichen Verfahren übrigbleibt, wenn es — wie Justizminister Vogel sich das so einfach vorstellt — nurmehr in das Wohlwollen der Staatsinstanzen, nicht aber mehr in die Auseinandersetzung der Prozeßparteien gestellt ist, bleibt nicht etwa unbeantwortet, sie muß verneinend beantwortet werden. Der Staat, seine Anwälte und seine Richter, vielleicht gerade weil sie meinen, sie hätten doch Verständnis für alle möglichen Norm-Abweichungen, verstehen, ohne daß ihnen Paroli geboten wird, offensichtlich überhaupt nichts.
„Überhaupt nichts“, das heißt: „der Staat”, u n s e r Rechtsstaat, mag Strafgesetz, Strafprozeßordnung und Strafvollzugsgesetz noch so sehr reformieren (inzwischen nimmt er die Reformen mehrundmehr zurück), er versäumte offenkundig, a u c h darüber zu reflektieren, ob nicht der ganze unbefragte Mechanismus des Strafendürfens und Strafenkönnens das Perpetuum mobile des Straffälligwerdens nur inganghält.
Der Rechtslehrer Heinz Müller-Dietz fragt in diesem Heft nach den Bedingungen und vielleicht schlimmen Folgen des Schuldstrafrechts (die vielleicht nur dadurch gemindert sind, daß die Richter, weil „Schuld” das Prinzip ist, den staatlichen Eingriff begrenzt halten müssen). Staatliches, gesellschaftliches Unschuldbewußtsein, die Basis der „Recht“sprechung, vernichtend fällt allerdings die Analyse des Psychoanalytikers Hans Christian Dechêne aus. Was er über das unerschütterliche Schuldprinzip, über die Rolle der Rechtsprecher und Rechtsanwender, über die desozialisierende Funktion des Strafvollzugs zu sagen hat, das sollte dem Leser dieses Heftes, meine ich, den Ariadnefaden durch das Labyrinth der sträflich selbstbewußten strafenden Gesellschaft liefern.
Das Thema Strafe und Strafvollzug war den Vorgängen, seit es sie gibt, ein zentrales Thema. Über Strafvollzug gab es 1968 ein Themaheft, als Helga Einsele der Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union verliehen wurde. Daß nicht nur das Vollziehen von Strafen, sondern das Strafen und das Messen von Strafen überhaupt problematisch ist, wurde immer auch (zum Beispiel in Aufsätze von Helmut Ostermeyer, Theo Rasehorn, Volker Frielinghaus und anderen und in dem Themaheft 1/1973 Klassenjustiz heute) mitgedacht, aber noch nicht so zentral wie in diesem Heft. Wenn praxisorientierte Autoren dieses Heftes wie Gerhard Rehn und Manfred Schulte-Altedorneburg mit fast schon mehr als Stoizismus die Strafvollzugsreform verteidigen, dann darf und kann nicht vergessen werden, daß Strafvollzug, wie er ist und wie er sein möchte, nur möglich ist unter dem Diktat des im ganzen unerschütterten Strafrechtsprechens und Strafzumessens selbstgerechter Staatsanwälte und Richter. Das ist hier das Thema selbst wenn die Humanistische Union ihren Fritz-Bauer-Preis in diesem Jahr erneut einem Strafvollzieher, Hans Dietrich Stark, Leiter der Strafanstalt Santa Fu in Hamburg, zugesprochen hat. So einer kann ja (dazu als Staatsdiener) nur wiedergutzumachen versuchen, was durch „Rechtsprechung” angerichtet wird. Ich gehe davon aus, daß Leser der Vorgänge sensibel genug sind, a) da Problem zu sehen und zu verstehen; b) nicht der Vg-Redaktion irgendwelche Sympathisantentum zu unterstellen, das sich aus der Sache selbst ergibt.
In einer Zeit gar, in der zwar dummköpfige, aber durchaus demokratisch legitimierte Leute die Aufhebung des Artikel 112 GG: „Die Todesstrafe ist abgeschafft” fordern, in der die gleichen Leute zwar einerseits dazu auffordern, man müsse Verständnis „für die Gefühle der Deutschen” (Helmut Kohl) im Fall de Geiselmörders Kappler, der aus der Haft entführt wurde, haben, andererseits aber verlangen, gegenüber politisch motivierten Terroristen müsse „lebenlänglich” gleich lebenslänglich sein, sei gegebenenfalls schon im ersten Fall Sicherungsverwahrung zu verhängen, müsse eine Revision möglichst (durch Verkürzung des „Instanzenzugs”) ausgeschaltet werden, könne das Recht auf freie Advokatur und überhaupt rechtliches Gehör bedenkenlos reduziert wer den — in einer solchen Zeit wird der Rechtsstaat leider nicht mehr durch parlametallische Mehrheiten verteidigt, seien sie noch so gutwillig. Er wir verteidigt dadurch, daß zum Beispiel Publizisten nicht mehr sagen „Sowohl als auch”, sondern „Darüber hinaus nicht!” — und sei ihre „Basis” auch nur ein Minderheit von 21 im Deutschen Bundestag.

GH

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