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Gnade, Gnadenrecht , Gnaden­praxis

vorgängevorgänge 2910/1977Seite 94-100

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 94-100

Das Gnadenrecht ist ein zwiespäl­tiges Institut in unserem Rechts­sys­tem. Wo immer noch von „Schuld” und „Sühne” gesprochen wird, liegt natürlich „Gnade” nicht weit. Zwar ist die heutige Gnaden­praxis durch Vorschriften vielfältig kanalisiert, eine rechts­s­taat­liche Regelung des Straf­er­lasses aber gibt es bis heute nicht. Karl-Heinz Krumm schildert die positiven und negativen Seiten der gegen­wär­tigen Handhabung von Gnade.

Auf einer Tagung in Hamburg hat Anfang dieses Jahres Bundesjustizminister Hans Jochen Vogel erklärt, wer da meine, im Namen des Rechtsstaates müsse die Gnade abgeschafft werden, wolle den gnadenlosen Rechtsstaat. Strafrecht aber, sagte der Minister, sei ohne Gnade schwer vorstellbar. Vogel bezog sich damit auf die engagierte Diskussion in der Bundesrepublik über die Praxis des Begnadigungsrechts, das der Gießener Strafrechtslehrer Otto Triffterer bürokratisch, kompliziert und höchst unterschiedlich nennt, und vor allem liberale Politiker wie der justizpolitische Sprecher im Düsseldorfer Landtag, Fritz Vogt, und der frühere hessische Richterbunds-Vorsitzende Otto Pulch als Relikt von Gottesgnadentum kritisieren.

Was ist Gnade?

Was also ist Gnade wirklich, was soll, was darf sie sein? Die leidenschaftliche Auseinandersetzung darüber ist so alt wie der Gnadengedanke selbst, weil Recht nicht ohne Gnade sein kann, Gnade aber kein Recht ist. Die Girondisten schrieben deshalb 1793 voller Mißtrauen in ihren Verfassungsentwurf, das Recht, Gnade zu gewähren, wäre nichts anderes, als das Recht, das Gesetz zu brechen; in einer freien Herrschaftsform aber müsse das Gesetz für alle gleich sein.
Auch später haben viele namhafte Persönlichkeiten aus Philosophie und Rechtstheorie Gnade strikt abgelehnt, weil sie – wie Beccaria oder Wilhelm von Humboldt – an die Vollkommenheit des Rechts glaubten, oder weil sie – wie etwa Kant oder Feuerbach – der Gnadenmacht des absoluten Herrschers mißtrauten. Eine versöhnliche Position hingegen, die bis heute gilt, formulierte der sozialdemokratische Rechtspolitiker der Weimarer Zeit, Gustav Radbruch, der Gnade das gesetzlose Wunder innerhalb der juristischen Welt nannte. Gnade, meinte Radbruch, mache die kühle Düsternis der Rechtswelt erst sichtbar und sei ein Symbol, daß es in der Welt Werte gebe, die aus tieferen Quellen gespeist werden. Gleichwohl sind die Zweifel geblieben, gibt es unverändert viele Stimmen, die zumindest eine Verrechtlichung der Gnade befürworten, freilich ohne sagen zu können, nach welchen Kriterien eine solche Verrechtlichung erfolgen könnte. Zwar ist jene idealistische Einstellung, die allein aus Gründen der Gleichheit vor dem Recht nicht für Gnade eintreten läßt, längst realistischen Einsichten gewichen. Die gegenwärtigen Zweifel gründen sich mehr auf historische Bezüge, weil Gnade früher stets als eine von Gott abgeleitete Macht verstanden wurde, konsequenterweise also nur den Herrschern zustand, sodaß oft mehr Willkür und Mißbrauch die Gnade bestimmten als die Bemühung, Einsicht und Verständnis sprechen zu lassen.

Umstrittene Begnadigung von Lebens­läng­li­chen

Förmlich hat sich am traditionellen Gnadenprinzip auch heute nicht allzuviel geändert. Nach den Verfassungen ist für den Bund der Bundespräsident und in den Bundesländern der Ministerpräsident der Gnadenherr, mit Ausnahme des Saarlandes und der drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen, wo Landesregierung beziehungsweise der Senat für Gnadenakte zuständig sind.
In der Praxis freilich läßt sich das Gnadenprinzip unserer Tage längst nicht mehr mit den Gunsterweisen absoluter Herrscher vergleichen. Die Regierungschefs der Länder haben den weitaus größten Teil ihres Begnadigungsrechts an ihre Oberstaatsanwälte und Justizminister delegiert. Nur bei Verurteilten mit lebenslanger Freiheitsstrafe, bei Tätern mit Staatsschutzdelikten oder mit Straftaten, die die Öffentlichkeit besonders erregten, behalten sich die Regierungschefs mit Blick auf ihre politische Verantwortung die Entscheidung persönlich vor.
Genau an diesem Punkt entzündet sich auch die stärkste Kritik. Denn gerade die Begnadigung von Lebenslänglichen erfolgt oft nach politisch-psychologischen Kriterien. Bundesjustizminister Vogel sagte, nicht allein die Frage, ob der Verurteilte noch ein Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft darstelle, dürfe die Entscheidung bestimmen; geprüft werden müsse auch, ob die Verteidigung der Rechtsordnung eine Freilassung erlaube. Tatsächlich aber schauen die verantwortlichen Gnadenherrn oft mehr auf die öffentliche Meinung, fürchten sie sich vor den Emotionen der Bürger, die zugleich ihre Wähler sind, und so stellen denn die Kritiker des Gnadenrechts nicht ohne Ironie fest, daß vor entscheidenden Wahltagen noch nirgendwo ein Lebenslänglicher begnadigt wurde.

Die Gnaden­praxis im juris­ti­schen Alltag

Die Diskussion über die lebenslange Freiheitsstrafe, die bislang ja allein durch Gnade korrigiert werden kann, verzerrt indes die nüchterne Betrachtung und Beurteilung des Gnadenrechts unserer Tage, das sich im wesentlichen in der Stille des juristischen Alltags vollzieht, ohne besonderes Aufsehen zu erregen. Grundlage eines komplizierten Instrumentariums sind detailliert gegliederte Gnadenordnungen, die sehr förmlich und genau die Prozedur beschreiben. Danach dürfen in den meisten Bundesländern die Leitenden Oberstaatsanwälte Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren erlassen, freilich. nur, wenn zuvor die verurteilenden Gerichte, der Leiter der Vollzugsanstalt, Bewährungshelfer oder das Jugendamt zugestimmt haben. Lehnt nur eine dieser Stellen einen Gnadenerweis ab, muß auch die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung verweigern. Doch gibt es beispielsweise in Hessen gegen einen solchen ablehnenden Bescheid immerhin seit einiger Zeit die Möglichkeit der Beschwerde beim Justizminister. Wie wichtig diese Möglichkeit für viele Betroffenen ist, läßt sich auch aus den hessischen Zahlen ablesen: Während die Zahl der Gnadengesuche bei den Staatsanwaltschaften im Jahre 1975 auf 2094 stieg, mußte das Justizministerium immerhin noch 333 Fälle bearbeiten.
Die förmliche Gnadenprozedur ist also überall sorgsam geregelt, läßt keine Lücken für die Justizbürokratie und beansprucht schon deshalb oft viel Zeit. Offen aber bleibt die heikle Frage, welche Gründe und Erwägungen für einen Gnadenerweis erforderlich sind. Zwischen dem Recht und der Gnade liegt der Lauf der Zeit. Was einst also als gerechtes Urteil erschien, kann einige Jahre später anders angesehen werden. Vielleicht, weil das materielle Recht, die Lebensverhältnisse und Anschauungen sich geändert haben, vielleicht, weil der Verurteilte und seine Persönlichkeit sich zum Positiven hin entwickelten.
Der Gnade kommt also vor allem eine Anpassungsfunktion zu. Sie ist auch eine Sache des Gewissens, des Gemüts und des Herzens. Gnade als die menschliche und moralische Komponente des Rechts schließt Verzeihen und Vergeben, Vergessen und Milde ein. Die Juristen von heute freilich sprechen meist etwas nüchterner von einer Aufhebung oder Milderung von Rechtsnachteilen mit Hilfe der Gnade.

„Vielfältig wie das Leben selbst…”

Im Alltag ist mit solchen liebenswerten Formeln wenig anzufangen. In den Gnadenordnungen der meisten Bundesländer steht als Motivation für Gnadenakte lediglich die pauschale Formel zu lesen, Gnade sei zu gewähren, wenn ansonsten „schwere, nicht zumutbare und außerhalb des Strafzwecks liegende Nachteile” entstehen würden. Nach der hessischen Gnadenordnung wiederum kommt ein Gnadenerweis in Betracht, wenn nach der Straftat „neue Umstände” eingetreten sind.
Die Schwierigkeiten, diesen reichlich verschwommenen Begriff zu präzisieren, umreißt der hessische Staatssekretär Horst Werner mit dem recht pauschalen Satz, daß Gnadenfälle so vielfältig seien wie das Leben selbst. Eine veränderte Rechtsprechung, neue schwerwiegende Umstände in den Lebensverhältnissen des Täters, andere Intentionen des Gesetzgebers — dies alles sind Stichpunkte, die von den zuständigen Gnadeninstanzen genannt werden, doch läßt sich allzuviel Weisheit daraus kaum schöpfen.
Schließlich liegt jeder Gnadenfall anders, und schließlich gibt es sehr enge Grenzen. Denn der Gnadenherr darf weder die Absichten des Gesetzgebers unterlaufen, noch kann er ständig dem Spruch eines Gerichts in den Arm fallen. Ein Gnadengesuch hat nur dann eine Chance, wenn der Rechtsweg ausgeschlossen ist. Der Hinweis, man sei unschuldig, es liege ein krasses Fehlurteil vor, wird schon deshalb niemals ein Gnadengesuch erfolgversprechend begründen können. Die Gnadenbehörden haben grundsätzlich den von einem Gericht festgestellten Sachverhalt als erwiesen zu unterstellen. Sie können und sie dürfen nicht den Prozeß noch einmal aufrollen, sind nicht, wie vielfach mißverstanden, eine juristische Oberinstanz.

Korri­gie­rende Gnade

Dennoch sprechen die Experten häufig von korrigierender Gnade, und sie meinen damit vor allem Urteile, die allein durch Gnade korrigiert werden können, nachdem sich Rechtsprechung oder Gesetzgebung geändert haben. Als Beispiel mag die Übung des Hessischen Oberlandesgerichts vor vielen Jahren gelten, das grundsätzlich jeden wegen Trunkenheit am Steuer Verurteilten in die Strafanstalt schickte. Als der Bundesgerichtshof diese Rigorosität endlich korrigierte, als später auch der Gesetzgeber mit Entschiedenheit kundtat, daß kurzfristige Freiheitsstrafen möglichst nicht zu vollstrecken sind, weil in so kurzer Zeit eine Einwirkung auf den Täter nicht möglich ist, wurden viele Trunkenheitsurteile auf dem Gnadenweg der neuen Rechtsrealität angeglichen. Ähnlich verfuhren die Gnadenbehörden bei früheren Urteilen gegen Verletzung des § 175, also homosexuelle Handlungen, oder gegen den § 218. Das Instrument der Gnade ist ohnehin sehr viel bescheidener geworden, nachdem eine moderne Rechtspolitik weite und entscheidende Bereiche davon zu Rechtsnormen bestimmte. Dazu zählt die Bestimmung, daß die Gerichte eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zur Bewährung aussetzen können, dazu zählt auch die vom Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit, den Verurteilten nach zwei Dritteln verbüßter Strafzeit auf freien Fuß zu setzen und die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen.
Was übrigbleibt für den Gnadenalltag, sind in erster Linie Wechselfälle des Lebens. Da gibt es den Verurteilten, der sich um seine minderjährigen Kinder kümmern muß, weil plötzlich die Ehefrau stirbt. Da muß sich die Gnadenbehörde mit der Mutter von fünf Kindern beschäftigen, die immer wieder aus einem neurotisch-sexuellen Zwang heraus Ladendiebstähle begeht, aber stets begnadigt wird, weil niemand verantworten mag, daß die Kinder in ein Heim kommen.
Fälle, in denen auch heute noch die Gnadenbehörde diskret richterliche Fehldeutungen aus-räumt, sind hingegen selten, aber es gibt sie noch. So verurteilte ein Richter einen jungen Mann wegen Fahrens ohne Führerschein zunächst zu Geldstrafen und später zu einer Freiheitsstrafe und verhängte als zusätzliche Auflage eine stets längere Frist, in der der Jüngling keinen Führerschein er-werben durfte. Die Gnadenbehörde aber entschloß sich zur umgekehrten Methode. Um die Ursache strafbaren Tuns zu beseitigen, setzte sie die Strafe zur Bewährung aus und machte dem Delinquenten zur Pflicht, innerhalb eines Jahres die Fahrprüfung abzulegen. Als noch heikler erwies sich das Gnadengesuch eines Mannes, der von einem Strafgericht wegen Vergewaltigung verurteilt worden war, während eine Zivilkammer, die den Fall noch einmal besonders sorgfältig prüfte, voller Zweifel an den Aussagen des Opfers Schadenersatz ablehnte. Auch hier verhinderte ein Gnadenerweis die Vollstreckung eines möglichen Fehlurteils.

Einsicht, Reue, Gnade

Aber solche Fälle bleiben selten, schon deshalb, weil sich die Gnadenbehörden nicht als Oberinstanz betrachten dürfen. Häufiger hingegen, so berichten die Referenten der Justizminister, haben sie sich mit Fällen zu befassen, in denen die Gerichte Strafen verhängten, im Urteil aber bereits feststellten, daß in diesem Falle „nur die Gnadenbehörde helfen kann”. Einen solchen Satz pflegen einsichtsvolle Gerichte meist dann in ihr Urteil aufzunehmen, wenn sie selbst nach den Umständen der Tat oder etwa, weil der Täter ein besonders eindrucksvolles Maß an Einsicht zeigte, eine geringere Strafe aussprechen möchten, als der Gesetzgeber vorgeschrieben hat.
Überhaupt kann ehrliche Reue, kann die Bereitschaft, angerichtetes Unrecht wiedergutzumachen, den Gnadenherrn in vielen Fällen schon beeindrucken. So setzte sich in Darmstadt auch der Staatsanwalt für den Haupttäter einer Diebesbande ein, weil eben dieser Haupttäter intensiv zur Aufklärung der zahlreichen Delikte beigetragen hatte. Und so wurde auch ein Mann, der wegen eines Überfalls auf einen Geldtransport verurteilt worden war, nach einigen Jahren Haftverbüßung begnadigt, weil er nun einsichtsvoll das Versteck der Beute preisgegeben hatte.
Die meisten Gnadenentscheidungen aber sind wenig spektakulär. In der Regel erläßt die Gnadenbehörde nämlich eine Reststrafe oder befreit den Verurteilten von der Verbüßung einer kurzen Freiheitsstrafe. Ein einsichtiger Grund liegt oft in der langen Zeit, die zwischen Straftat und Strafantritt verstrichen ist, eine Zeit, in der sich der Verurteilte bewährte, mit dem Gesetz nicht mehr in Konflikt geriet. Eine positive Entscheidung wird auch oft dadurch bewirkt, daß sich ein Straftäter aus seinem früheren kriminellen Milieu löst und feste Bindungen eingeht, also heiratet. Ein solcher Schritt bleibt bei den Gnadenbehörden meist nicht ohne Eindruck.

Gnaden­be­hörden meiden Risiko

Ein Risiko gehen die Gnadenbehörden allerdings nur in seltenen Fällen ein. Gnadenentscheidungen erfolgen ohnehin bei den Ministerpräsidenten und Justizministern nach kollektiver Beratung, bei der, zumindest in schweren Fällen, die öffentlichen Auswirkungen eines Gnadenakts schon berücksichtigt werden. Zumindest in Hessen, so bekennt Staatssekretär Horst Werner, entscheidet das Justizministerium, wenn in der Beratung einzelne Bedenken gegen eine Begnadigung angemeldet werden, stets in dubio pro Urteil: der Antragsteller muß also auch weiterhin seine Strafe verbüßen.
Uneingeschränkt erlassen werden Freiheitsstrafen ohnehin nur in seltenen Fällen. Üblicherweise setzen die Gnadenbehörden kleine Strafreste oder kurze Freiheitsstrafen zur Bewährung aus und erteilen dem Begnadigten vielfältige Auflagen. Eine solche Auflage kann die Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sein, das Verbot etwa, sich in einer bestimmten Gegend niederzulassen oder in einem bestimmten Beruf, etwa als Vertreter, zu arbeiten. Die Auflage kann aber auch sehr individuelle Akzente erhalten. So mußte sich ein Mann, der seine Freundin häufig verprügelt hatte und deshalb verurteilt wurde, verpflichten, die Wohnung dieser Freundin nicht mehr zu betreten. Üblich als Folge einer Begnadigung, durch die ein Teil der Freiheitsstrafe erlassen wird, ist im all-gemeinen auch, den Begnadigten die Zahlung einer Geldbuße, meist an eine gemeinnützige Einrichtung, aufzuerlegen. Mit dieser Maßnahme, so sagen die Gnadenherren, möchte man dem Gleichheitsprinzip Rechnung tragen, weil der Freigelassene über normale Einkünfte verfügt, die er als Häftling nicht erhalten hätte. Die Zahlung einer Buße ist also Ausgleich für die Wohltat der Begnadigung und Erinnerung an das frühere Unrechtstun zugleich. 

Wirtschafts­ver­bre­cher und Sozialfälle

Bei einer Kategorie von Straftätern sind die meisten Gnadenherren hingegen sehr mißtrauisch. „Wirtschaftsverbrecher”, sagte der Hesse Horst Werner, „schöpfen in der Regel alle Rechtsmittel aus” und stellen dann grundsätzlich Gnadenanträge mit der fast stereotypen Begründung, zwischen Straftat und der möglichen Verbüßung einer Freiheitsstrafe läge eine unzumutbar lange Zeit, in der sich der Verurteilte längst gebessert habe. Mehr Verständnis hingegen entwickeln in den letzten Jahren der abflachenden Wirtschaftskonjunktur viele Gnadenreferenten für das Argument mancher Antragsteller, sie würden durch die Verbüßung der Freiheitsstrafe ihren Arbeitsplatz verlieren. In solchen Fällen wird schon einmal die Strafe zur Bewährung ausgesetzt oder man gibt zum Beispiel Maurern Strafaufschub bis zum Winter, wo es für Bauarbeiter ohnehin kaum Arbeit gibt.
Am unkompliziertesten ist die Gnadenprozedur bei Verurteilten wegen Verletzung der Unterhaltspflicht. Da diese Täter nur deshalb verurteilt wurden, weil sie keinen Unterhalt bezahlten, aber erst recht keine finanziellen Verpflichtungen erfüllen können, wenn sie in der Haftanstalt sitzen, werden sie in der Regel mit einem Gnadenerweis rechnen dürfen, wenn sie diesen Verpflichtungen gegenüber ihren Angehörigen endlich nachkommen.

Die öffentliche Meinung

Manches Gnadengesuch wird, ohne daß sich die Verantwortlichen förmlich dazu bekennen, mit besorgtem Blick auf die öffentliche Meinung und den befürchteten Volkszorn abschlägig beschieden. Tatsächlich aber hat die bundesdeutsche Gnadenpraxis, sieht man von einigen spektakulären Fällen ab, kaum Grund, über emotionalen Druck aus der Bevölkerung zu jammern. öffentliche Proteste über Begnadigungen kommen nämlich so gut wie niemals vor, es sei denn, daß aus parteipolitischen Erwägungen ein solcher Protest künstlich provoziert wird, wie es vor kurzem in Hamburg geschah, als Justizsenator Klug wegen eines Gnadenaktes in die politische Schußlinie geriet.
Ansonsten aber können die Gnadenreferenten eher angenehme Resonanzen registrieren. Oft setzen sich nämlich die Einwohner einer Gemeinde oder die Mitglieder eines Vereins für einen Verurteilten und seine Begnadigung ein. Oft kommt auch ein Arbeitgeber, ein Abgeordneter oder ein anderer prominenter Bürger, um ein Gnadengesuch zu befürworten. Eine solche „Fürsprache mit Garantie” bleibt meist nicht ohne Eindruck, zumal auch sonst die bundesdeutschen Gnadenherrn kaum Grund zu Resignation haben: nur zwölf Prozent ihrer Gnadenentscheidungen mußten in den letzten Jahren widerrufen werden. Die Gerichte im Bundesgebiet hatten bei 49 Prozent ausgesetzter Strafen die Bewährungsfrist aufzuheben.
Ein Beweis also für die besonders sorgfältige Prüfung von Gnadenanträgen? Gewiß auch das, aber diese sorgfältige Prüfung geschieht in erster Linie wohl, um das Risiko für den Gnadenherrn selbst zu mindern, weil jede Begnadigung ein Stück Risiko einschließt. Die statistisch begründbare Tatsache freilich, daß die bundesdeutschen Gnadenreferenten bei geringfügigen Strafen durchaus großzügig verfahren, während sie bei den eigentlichen Problemfällen, den Lebenslänglichen, nur sehr zurückhaltend Gnade walten lassen, scheint zu bestätigen, daß die Gnadeninstanzen nicht nur die künftige Entwicklung des Antragstellers prüfen, sondern auch die Probleme, die mit einer Begnadigung für diese Instanzen selbst verbunden sein können.

Warum gibt es kein Recht auf Gnade?

Schon deshalb wird die Diskussion über das Begnadigungsrecht weitergehen. Schon deshalb wird auch künftig besorgt und immer wieder die Frage gestellt werden, warum es nur das Recht gibt, Gnade zu gewähren, nicht aber auch das Recht, Gnade zu beanspruchen. Gnade bewegt sich, nimmt man es genau, im rechtsfreien Raum, kennt trotz aller Gnadenordnungen und internen Regeln keine nachprüfbaren Normen und transparenten Kriterien. Sie braucht auch im Falle einer Ablehnung nicht begründet werden. Dieses Prinzip so argumentieren viele Kritiker, sei eigentlich mit demokratischen Spielregeln unvereinbar, denn schließlich gewähre der Regierungschef Gnade im Namen des Volkes; das Volk aber werde durch die Parlamente repräsentiert.
Gnade, so schreibt Johann-Georg Schätzler, Ministerialrat im Bonner Justizministerium, in seinem kürzlich erschienenen „Handbuch des Gnadenrechts”, erfordere stets moralische Anstrengung. In welchem Rahmen freilich diese Anstrengung erfolgen muß, bleibt trotz aller positiven Erfahrungen ein Problem, das die Fachwelt, aber nicht nur sie, beschäftigt. Schrifttum und Rechtsprechung haben vielfach den Gnadenakt als einen Verwaltungsakt bezeichnet, der, so meinte denn auch der Hessische Staatsgerichtshof, in gewisser Weise nachprüfbar sei.
Diese Auffassung indes ist heftig umstritten, weil die Befürworter des gegenwärtigen Gnadenprinzips einwenden, Gnade sei eben nicht Verwaltung. Die verwaltungsrechtlichen Kategorien seien auf die Gnade nicht anwendbar. Vielmehr stütze sich die Gnade auf Verfassungsvorschriften, die nur er-mächtigen, nicht aber Einzelne oder Gruppen berechtigen.

Prüfung auf Willkür und Gerech­tig­keit?

Gnade, schrieb vor kurzem der hessische Ministerpräsident Holger Börner an die Ludwigsburger Gefangenenzeitschrift „Ausgeklammert”, habe immer Ausnahmecharakter. Allgemeine Regeln könnten deshalb nicht aufgestellt werden. Diese Ansicht wird auch von den Kritikern des Begnadigungsrechts akzeptiert. Denn die Kritik richtet sich in erster Linie gegen die nicht gegebene Möglichkeit, Gnadenentscheidungen nachzuprüfen. Zwar ist der Gnadenexperte Schätzler der Meinung, die Ablehnung eines Gnadenerweises bedeute, daß von dem Begnadigungsrecht kein Gebrauch gemacht wurde. Der ablehnende Bescheid erzeuge keine Rechtswirkungen, es bleibe also bei dem, was das Urteil sage und wolle. Die Ablehnung, meint Schätzler, greift nicht in Rechte des Einzelnen ein, ist deshalb kein Rechtsakt, sondern rechtlich nichts anderes als die Antwort auf eine Petition.
Vier von acht Richtern eines Senats des Bundesverfassungsgerichts, das sich 1969 mit dieser Frage zu befassen hatte, meinten im Gegensatz dazu, es müsse eine Prüfung auf Willkür und Gerechtigkeit möglich sein. Allerdings sind in der gegenwärtigen Diskussion wenig präzise Gedanken erkennbar, wie eine solche Prüfung juristisch und verfassungsrechtlich einwandfrei konstruiert sein sollte. Die Gleichheit vor dem Gesetz, sagen jene, die einen Rechtsweg für Gnade für unzulässig halten, müsse durch die Rechtsentscheidung selbst verwirklicht werden. Das Verlangen aber, Gnade an Recht und Gesetz zu binden, führe in einen unauflösbaren Widerspruch. Der Versuch nämlich, so heißt es, eine Gnadenentscheidung am Maßstab der Gerechtigkeit gerichtlich überprüfen zu wollen, muß notwendigerweise auch die Prüfung einschließen, ob das Strafurteil selbst gerecht ist. Damit aber würde – und nur wenig läßt sich gegen dieses Argument einwenden – die Gnade ihrer Funktion und ihres Wertes entkleidet, würde aus der Gnade ein Superrechtsmittel gemacht. Ebenso unstrittig ist sicherlich die Feststellung, daß eine Judikative, die sich das Recht nehme, dem Gnadenträger Anweisungen zu erteilen oder ihn zu verpflichten, das Begnadigungsrecht selbst aufheben und damit gegen die Verfassung verstoßen würde.

Gnaden­praxis bleibt kontrovers

So bleibt denn die heikle Frage weiterhin strittig, welche Art von Sicherung gegen abgelehnte Gnadengesuche notwendig, geeignet und rechtlich zulässig ist. Eine sichere Antwort darauf gibt es bisher nicht. In Nordrhein-Westfalen haben die Fraktionen des Landtags deshalb einen Ausschuß gebildet, um diese Frage mit Entschiedenheit zu prüfen. Überlegungen, vor allem aus den Reihen der Sozialdemokraten, das Begnadigungsrecht einem Landtagsausschuß zu übertragen, wurden inzwischen nicht mehr weiterverfolgt. Wie schon vorher in anderen Bundesländern hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß das Gnadenrecht in der Hand eines solchen politischen Gremiums nicht nur noch bürokratischer und damit komplizierter werden würde, sondern auch wohl noch unterschiedlicher, spontaner und weniger transparent, weil die Gefahr parteipolitischer Einflüsse bei Gnadenakten nicht auszuschließen ist.
Freilich dreht sich die öffentliche Diskussion über die Fragwürdigkeit unserer Gnadenpraxis fast aus-schließlich um diese Praxis bei der lebenslangen Freiheitsstrafe, schon deshalb, weil bei der lebenslangen Freiheitsstrafe die Gnade das einzige Korrektiv ist, solange der Gesetzgeber nicht ihre Abschaffung beschließt oder die gerichtliche Prüfung dieser Urteile nach einer bestimmten Frist anordnet. Diese Forderung, die die Kritiker als Minimalforderung verstanden wissen wollen, stößt allerdings bei den Praktikern auf tiefe Skepsis. Immerhin hat sich der Gesetzgeber vor einigen Jahren mit der Schaffung von Vollstreckungskammern bei den Gerichten auch einige Fortschritte erhofft. Zumindest in einigen Bundesländern aber zeigt die Erfahrung mit diesen Vollstreckungskammern, daß nun weniger Strafgefangene nach Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Strafe entlassen werden als vorher.
Die Hoffnung, daß die Gerichte es schon richten werden, steht also auf schwachen Füßen. Und übrig bliebe schließlich, auch bei einer solchen gerichtlichen Prüfungsfunktion bei lebenslangen Freiheitsstrafen, die Frage, wer den umfänglichen nüchternen Gnadenalltag bewältigen soll. Der Vorwurf, das Gnadenrecht in der Gesamtheit sei ein Überbleibsel aus dem Obrigkeitsstaat, gewissermaßen ein Stück in die Gegenwart gerettetes Mittelalter, wird ohnehin kaum durch den Gnadenalltag gestützt.

Keine partei­po­li­ti­schen Beson­der­heiten

Längst haben sich alle Ministerpräsidenten und Justizminister einen Apparat von Fachleuten zugeIegt, die oft über Jahre hinweg viele Gnadengesuche bearbeiten und prüfen, zumindest also als sachverständig gelten müssen. Nach welchen Kriterien freilich begnadigt wird, welche Intuition und geistig-politische Grundhaltung die Beurteilung eines Gnadengesuchs bestimmen, bleibt – so oder so – offen. So bekennen beispielsweise auch die liberalen Hessen, daß es ein erkennbares Nord-Süd-Gefälle gibt. Die juristischen Instanzen eines mehr konservativ geprägten Nordhessen mit seiner katholischen Enklave Fulda befürworten weniger großzügig Gnadengesuche als die in diesen Fragen wesentlich aufgeschlosseneren juristischen Würdenträger im Frankfurter Raum. Gleichwohl sprechen die Justizminister der Bundesländer von einer durchaus einheitlichen Gnadenpraxis. Und in der Tat kann man selbst bei Begnadigung von Lebenslänglichen kaum von konservativen, liberalen oder sozialdemokratischen Besonderheiten sprechen. So verfügte beispielsweise unmittelbar nach seinem Amtsantritt der frühere rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl (CD U) die Begnadigung von einem halben Dutzend Lebenslänglicher, während im benachbarten Hessen der Justizminister erst nach einem schwerwiegenden Gerangel mit dem sozialdemokratischen Regierungschef Albert Osswald die Entlassung von sieben Lebenslänglichen durchsetzen konnte. Ähnliche Widersprüche, zumindest Widersprüche im Sinne eingefahrener Vorstellungen, werden aus den meisten anderen Bundesländern berichtet.

Wie kann Gnade trans­pa­renter, überschau­barer werden?

Gnade wird also auch weiterhin ein Stück nicht-reglementierter, aber auch nicht überprüfbarer Menschlichkeit sein. Gnade wird auch künftig erfüllte Hoffnung bedeuten können oder Enttäuschung, wird Risiko sein bei Entscheidungen und Angst vor Emotionen. Daß ein abgelehntes Gnadengesuch keinerlei Begründung bedarf, daß der Antragsteller nicht erfährt, warum man ihn der Gnade nicht für würdig hielt, bleibt als Ärgernis des Gnadenrechts bestehen. Die Gnade juristisch zu verwalten und zu ordnen, erscheint andererseits weder durchsetzbar noch möglich. Eine solche Feststellung schließt aber nicht aus, daß sich Gesetzgeber in Bund und Ländern nicht auch künftig mit der Frage beschäftigen, wie Gnade transparenter, überschaubarer und damit auch wirkungsvoller gestaltet werden kann, ohne ihren Ursprung zu verlieren.
Denn Gnade ist die menschliche, moralische Komponente unseres Rechts. Nur durch Gnade können Härten ausgeglichen, kann selbst in jenen Bereichen noch Menschlichkeit praktiziert werden, wo das Gesetz dies nicht mehr zuläßt.

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