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Wehrt euch, leistet Widerstand!

Die Rechtslage beim Kernkraftwerkbau

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 16-18

Der Kampf gegen die Kernkraftwerke (KKW) internationalisiert sich. Gleichwohl ist ein Blick auf die nationale Rechtslage erforderlich. Sie ist nicht nur für laufende Verfahren wichtig, sondern ihre klare Erkenntnis bestimmt das Rechts- und Unrechtsbewußtsein aller Beteiligten auch bei zukünftigen Aktionen. Daß der Staat, nachdem er eingegriffen hat, wie selbstverständlich das Recht für sich beansprucht, kann kein Präjudiz sein, denn spätestens seit dem Naziregime wissen wir endgültig, daß auch der Staat im Unrecht sein kann. Zwar wird kein Staat das jemals zugeben, im Gegenteil, je mehr er sich dem Unrecht nähert, umso lauter und aufdringlicher wird er sich Rechtsstaat nennen. Aber selbst das lauteste Geschrei um den Rechtsstaat kann eine Prüfung der Rechtsgrundlagen nicht ersetzen.

Der Tatbestand

Ich zähle nur diejenigen Folgen des KKW-Baus auf, die unbestritten oder unbestreitbar sind. Jedes KKW ist ein nicht rückgängig zu machender Eingriff in die Landschaft. Das KKW hat eine Lebensdauer von einigen Jahrzehnten. Danach bleibt es als radioaktive Ruine stehen, die nicht abgebrochen werden kann und scharf bewacht werden muß. In Niederaichbach besitzen wir bereits eine solche Ruine.
Die Wiederaufbereitung (WA) verbrauchter Brennstoffe ist technisch noch nicht gelöst. Die Anlage in La Hague in der Normandie hat noch nie über längere Zeit störungsfrei gearbeitet: ihre Kapazität reicht für die in Frankreich und Deutschland geplanten Anlagen nicht aus. Bei der WA fällt in größeren Mengen Plutonium an, aus dem Atombomben hergestellt werden können.
Im Fall eines schweren Unfalls muß mit dem Unbewohnbarwerden ganzer Landstriche durch atomare Verseuchung – Beispiel die Katastrophe von Tscheljabinsk in Sibirien 1957, bei der abgelagerter Atommüll explodierte – und dem Tod von Zehntausenden von Menschen gerechnet werden. Für die großen Mengen radioaktiven Abfalls, die auch bei störungsfreien Betrieb anfallen, ist das Lagerungsproblem ungelöst. Dieser Abfall behält – wie die Ruinen – seine Strahlungskraft über Tausende von Jahren. Die Erdbebensicherheit der Salzstöcke ist nicht nachgewiesen. Auch hier ist scharfe Bewachung erforderlich.
Scharf bewacht werden müssen schließlich alle Transporte von Brenn- und Abfallstoffen, die weite Entfernungen zu überbrücken haben – beispielsweise nach La Hague und zurück. Auch bei Transporten ist mit Unfällen zu rechnen.

Die Rechts­grund­lagen

Eingriffe also in die natürliche Landschaft, Gefährdung des Lebens von Zehntausenden und der Bewohnbarkeit von Landstrichen – und das in dem dicht besiedelten Mitteleuropa! –, Belastung ungeborener Menschengeschlechter mit strahlenden Ruinen und Abfällen – man stelle sich vor, die  ägyptischen Pyramiden seien radioaktiv (was würden wir von den Ägyptern sagen, wenn sie damit eine „Energielücke” von 30 Jahren hätten schließen wollen?) –, Start ins Blaue ungesicherte WA-Verfahren und hohe Transportrisiken: Wo finden sich die Rechtsgrundlagen für solche schweren und irreparablen Eingriffe?
Es werden zwei Rechtspositionen angeführt, die, sich ergänzen: das Eigentum und die öffentlich-rechtliche Genehmigung (örG). Das Eigentum ist  ein anerkanntes Recht, nach dem bürgerlichen Recht ist es frei, nach dem Grundgesetz (GG) ist es sozial gebunden: es verpflichtet und sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen (Art 14 Abs 2 GG). Sobald das Allgemeinwohl nicht mehr als Floskel, sondern ernst genommen wird, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Nutzung eines Grundstücks zur Errichtung von KKW und WA-Anlagen (WAA) nicht zulässig ist: sie verstößt gegen die Sollvorschrift der Verfassung, denn eine schwerere Gefährdung des Allgemeinwohls ist kaum denkbar. Enteignungen sind (Art 14 Abs 3 GG) nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig: Grundstücke dürfen also nicht im einseitigen Interesse der Elektrokonzerne für KKW oder WAA enteignet werden.
Die örG ergänzt die aus dem Eigentum abgeleitete Nutzungsbefugnis. Sie ist als staatliche Kontrolle des Eigentums aufzufassen, sie bescheinigt gewissermaßen die Unbedenklichkeit der genehmigten Nutzung. Sie hat ihre Rechtsgrundlage im Atomgesetz. Dieses überträgt sie der Exekutive, sie kann durch einen einfachen Verwaltungsakt genehmigen. Dagegen hat bereits das Oberverwaltungsgericht Münster Bedenken angemeldet. Die Richter meinen, daß so folgenschwere Eingriffe, die für Generationen unablösbare Hypotheken schaffen, dem Gesetzgeber vorbehalten sein müssen, damit politische Gesichtspunkte politisch erörtert werden. Dies ist ein gewichtiger Vorstoß, allerdings scheint er nicht auszureichen. Die herkömmliche Unterscheidung von Gesetzgebung und Verwaltung versagt vor den neuen Phänomenen. Als Einzelmaßnahmen sind Genehmigungen nach dem traditionellen Schema eher der Verwaltung als der Gesetzgebung zuzurechnen.
Auch ist bei der heutigen parlamentarischen Praxis die erschöpfende politische Diskussion nicht ein-mal im Parlament gewährleistet. Die Frage geht also nicht dahin: Ist die Exekutive, sondern ist das staatliche System überhaupt zu den Eingriffen berechtigt? Zur Beantwortung dieser Frage bietet das GG so gut wie keine Hilfen an. Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden (Art 20 Abs 3 GG). Daraus ein direktes Verbot von KKW und WAA herzuleiten, fällt schwer. Zwar kann man argumentieren, daß mit der Lebenssicherheit zugleich die verfassungsmäßige Ordnung bedroht wird, aber das ist kein Faktum, das an sich damit gemeint ist. Der Parlamentarische Rat hat diese Frage nicht vorhersehen können, das GG nimmt deshalb nicht dazu Stellung. Wenn es das täte, wäre allerdings nicht zweifelhaft, wie es sich entscheiden würde.
Wir müssen also noch weiter zurückgreifen als auf die Verfassung. Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstmord. Also hat es auch die Gesellschaft? Ich glaube, hier wird klar, daß es nicht-normierte Grenzen der staatlichen Gewalt gibt. Selbstmord ist ein persönlicher Entschluß, die staatliche Gewalt handelt aber stellvertretend. Selbstmord durch Dritte ist Mord. Wenn die KKW nur diejenigen gefährden würden, die die Genehmigung beantragen oder aussprechen, so wäre dagegen nichts einzuwenden — sie würden im Rahmen ihrer menschlichen Selbstbestimmung handeln. Da die Leidtragenden aber andere sind, handelt es sich um Verletzung Dritter. Dafür gibt es keine Rechtfertigung, und die staatliche Gewalt kann sie sich auch nicht selbst ausstellen. Hinzukommt die Gefährdung der ungeborenen Generationen. Die Erhaltung der Lebensgrundlage für sie ist nur deshalb nirgends zur rechtlichen Pflicht erklärt, weil die Zerstörung eine erst seit kurzem real werdende Aussicht ist.

Die Gegenrechte

Gegenrechte gegen den KKW-Bau können sich ihrerseits aus dem Eigentum ergeben. Die Eigentümer benachbarter und gefährdeter Grundstücke haben nach den nachbarrechtlichen Regelungen Unterlassungsansprüche gegen unzulässige Immissionen. Dieser Rechtsbehelf ist auf seine Wirksamkeit zu prüfen.
Will man rechtspolitisch oder moralisch argumentieren, so läßt sich an das oft umstrittene Recht auf Heimat denken. Es meint wohl auch Recht auf Erhaltung der Heimat in ihrer lebenswerten Gestalt.
Positive Gegenrechte ergeben sich aus den Grundrechten des GG. Allen voran verbietet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art 2 Abs 2 GG) nicht nur unkalkulierbare, sondern auch kalkulierte Risiken. Ein Risiko für Leben und Unversehrtheit Unbeteiligter darf nicht einkalkuliert werden, es muß ausgeschlossen sein. Alles andere ist verfassungswidrig. Das hat das Verwaltungsgericht Freiburg erfreulich deutlich ausgesprochen. Kalkulierte Gefahren werden irgend-wann wirklich, meistens schneller als kalkuliert, denn alles, was schief gehen kann, geht einmal schief, und auch die Jumbo-Jets von Teneriffa hätten nach der Statistik erst in 30000 Jahren zusammenstoßen dürfen und nicht schon am 27. März.

Die Wider­stands­rechte

Wenn die KKW-Bauer oder ihre staatlichen Genehmiger und Handlanger ihre Befugnisse überschreiten, indem sie ihr Eigentum über das Allgemeinwohl stellen, Lebensgrundlagen gefährden und belasten und todbringende Unfälle einkalkulieren, handeln sie rechtswidrig. Gegen rechtswidriges Handeln gibt es außer Rechtsbehelfen auch Selbsthilferechte.
An erster Stelle steht das Notwehrrecht. Es erlaubt diejenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden ( § 32 Strafgesetzbuch [StGB]). Wenn der Bau von KKW und WAA anders nicht verhindert werden kann, ist also Notwehr zulässig, vorausgesetzt, man sieht schon den Bau als gegenwärtigen Angriff an. Das wird bestritten werden, weil Bau und Betrieb mit Anfall von Atommüll und — möglicher — Katastrophe zeitlich auseinanderfallen. Es handelt sich aber wohl um eine zeitlich zwar ausgedehnte aber einheitliche Handlung. Der Bau ist notwendiger Bestandteil der rechtswidrigen Gefährdungshandlung ebenso wie das Ziehen einer Pistole der des Schießens. Dabei braucht der Schuß nicht abgewartet zu werden, weil die Verteidigung dann zu spät kommt.
Selbst wenn der Angriff nicht rechtswidrig ist, sind bei einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Eigentum Abwehrhandlungen nicht rechtswidrig, wenn die Gefahr nicht anders abgewehrt werden kann und das gefährdete Rechtsgut — also das Leben der Bevölkerung — das durch die Abwehrhandlung beeinträchtigte — also das Eigentum am KKW — wesentlich überwiegt ( § 34 StGB). Auch dieses Gesetzt paßt.
Wir haben also alle Rechte zur Gegenwehr. Wir brauchen weder wie Minister Maihofer einen über-gesetzlichen Notstand zu bemühen noch uns auf das allgemeine staatsbürgerliche Widerstandsrecht gegen Bestrebungen, die die verfassungsmäßige Ordnung beseitigen, zu berufen. Unsere Gesetze sind gar nicht so schlecht und lassen uns nicht im Stich. Sie müssen nur angewendet werden.

Das Gewalt­pro­blem

Die Widerstandsrechte berechtigen, wenn sie erforderlich ist, auch zur Gewaltanwendung. Dies ist ihr eigentlicher Kern. Sie heißen Mittel gut, die sonst verboten sind. Für ohnehin erlaubte Mittel — Demonstrationen und passiven Widerstand — braucht es keine Rechtfertigung. Die Widerstandsrechte gelten auch gegen die Staatsgewalt: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ist nur strafbar, wenn diese ihr Amt rechtmäßig ausüben; sie tun es nicht, wenn sie rechtswidrige Eingriffe absichern.
Das Gewaltproblem ist der neuralgische Punkt des Streits um die KKW. Noch sind die meisten seriösen KKW-Gegner um Gewaltlosigkeit bemüht. Sie fürchten die überlegene Polizeigewalt und die Abstempelung als Terroristen. Die Gegenseite sollte sich daran ein Beispiel nehmen. Sie sollte auf Nacht- und Nebelaktionen, Stacheldraht und einschüchternde Polizeieinsätze verzichten. Sie sollte Gerichtsurteile vorbehaltloser akzeptieren, als das bisher geschehen ist, nicht propagandistisch-erpresserisch auf schwebende Verfahren einwirken und vorläufige Bauverbote befolgen.
Beide Seiten müssen das Recht achten. Geschieht das nicht, so läßt sich schon heute vorhersagen, daß die Gewalt wieder einmal eskalieren wird. Bürgerkriegsähnliche Zustände haben dann die zu verantworten, die als erste zur Gewalt gegriffen haben und diese auf unzureichende Rechtstitel — sozialpflichtiges Eigentum oder übergesetzlichen Notstand — stützen. Selbst das Vertrauen in die Überlegenheit der staatlichen Gewalt kann sich angesichts der Stör- und Sabotageanfälligkeit der KKW und WAA als Bumerang erweisen.

Der historische Standort

Das Industriesystem geht an seiner Überproduktion zugrunde. Die Kernkrafttechnologie ist der letzte verzweifelte Ausweg des systemimmanenten Wachstumszwangs, sie ist die letzte Wachstums- und Exportbranche. Die Deutschen sind vom Großmachttraum umgestiegen auf den Nimbus der führenden Industrienation. Am Größenwahn hat sich dabei nichts geändert und auch nichts an der, Gleichgültigkeit gegen den Untergang. Mit dem Großmachttraum haben die Deutschen in zwei Weltkriegen die Hälfte ihres Landes verspielt. Mit dem Industriewahn schicken sie sich an, die verbliebene Hälfte unbewohnbar zu machen. Hitler, kannte keine Bedenken, die deutschen Städte zerbomben und das Land verwüsten zu lassen. Die Elektrokonzerne und ihre Verbündeten kennen keine Bedenken, das Land zu verunstalten und es Gefahren auszusetzen, gegen die der Bombenkrieg vielleicht ein Kinderspiel ist. Als sichtbare Abzeichen ihres Geistes errichten sie Stacheldrähte und Mauern. So wie Hitler von dem Endsieg faselte, erzählen sie ihre Lügen von der Energielücke und der Erhaltung von Arbeitsplätzen.
Der Widerstand gegen Hitler ist heute offiziös unbeliebt. Der 20. Juli ist nie ein Feiertag gewesen. Das ist gewiß kein Zufall. Doch es ist und bleibt das bessere Deutschland, das die Zukünftigen nicht vergißt und für sie den Widerstand gegen die eigene Regierung nicht scheut.

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