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Über Sinn und Unsinn staatlichen Strafens

Zum kriminalpolitischen Programm der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen 1976

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 88-93

Die Ersetzung des überkom­menen Strafrechts durch ein Maßnah­men­recht, das den Bedürf­nissen der Gesell­schaft und des Täters gerecht wird, wird von der Wissen­schaft seit Jahrzehnten für notwendig gehalten. Als erste partei­po­li­ti­sche Organi­sa­tion hat die Arbeits­ge­mein­schaft sozial­de­mo­kra­ti­scher Juristen 1976 den Entwurf eines krimi­nal­po­li­ti­schen Programms vorgelegt, der dieser Forderung entspricht. Die für diese Sache engagierten Juristen Werner Holtfort und Bernd Klees erläutern dieses Programm.

„Wir müssen befürchten, daß die Angst, die im Volke vor der Kriminalität grassiert und ohne Bewußtsein sich in Emotionen aus mystischem Grauen äußert, daß diese Angst einen starken Druck dagegen ausübt, das Problem der Strafwürdigkeit nüchtern und rational zu durchdenken…
Unzählige Bürger ahnen nicht, daß Zahl und Schwere der Verbrechen vermindert, bitteres Leid verhindert und viel VoIksvermögen erhalten werden könnte, kämen wir endlich zu einer wissenschaftlich fundierten und politisch durchdachten Reform des Strafrechts und zugleich zu einem entsprechenden Strafvollzug und zu einer Änderung im Denken der Gesellschaft.”

Adolf Arndt, 1968

Die Entwicklung des Strafrechts ist eine leidvolle Geschichte völlig ergebnisloser Versuche, „Übeltaten” dadurch zu verhüten, daß man den Delinquenten einer mitunter unmenschlich grausamen Behandlung unterzog. Ihre Meilensteine waren Blutrache (Fehde), Friedlosigkeit, Verbannung, „spiegelnde” Strafen (Handabschlagen für Diebstahl, Zungenherausreißen für Meineid und dergleichen), Leibes- und Lebens-, endlich Freiheitsstrafe. Die Folgen waren oft nicht Abnahme, sondern Zunahme von Kriminalität, verbunden mit einer Verrohung niedriger Instinkte des Publikums. Waren die Zustände unhaltbar geworden, so schritt man zu Reformen (Ersetzung richterlicher Willkür durch Bindung des Richters an das Gesetz, Milderung zu grausamer Strafen). Der Zweck der Verbrechensbekämpfung aber wurde nicht erreicht.
Die Kritik moderner Wissenschaft formulierte 1931 Erich Fromm [1] mit den Worten, daß „die Strafjustiz eine sozialpsychologische Funktion hat, die mit dem Verbrechen und seiner Verhütung an sich garnichts mehr zu tun hat. Die Strafjustiz ist, wie wir sehen, auch im Bewußtsein mancher Kriminalpolitiker, eine erzieherische Institution, die auf die große Masse des Volkes wirken soll… Die Strafjustiz ist gleichsam der Stock an der Wand, der auch dem braven Kind zeigt, daß der Vater ein Vater und das Kind ein Kind ist. – Neben diesem erzieherischen Zweck hat die Strafe noch eine andere sozial-psychologische Funktion. Die Bestrafung des Täters stellt eine Befriedigung der aggressiven und sadistischen Triebe der Masse dar, die sie für die vielen ihr aufgezwungenen Versagungen entschädigt und die es speziell ermöglicht, die Aggression, die sich natürlicherweise gegen die herrschende und bedrückende Schicht richtet, auf den Verbrecher zu übertragen und ihr so eine Abfuhr zu schaffen.”
Fritz Bauer, einer der wenigen großen, weil durch ihre Menschlichkeit großen, deutschen Juristen unserer Zeit, hat sich – aufgrund nicht zuletzt seiner Erfahrung als Generalstaatsanwalt in Hessen – mit großem Ernst für die Abkehr von Schuld und Sühne im Kriminalrecht eingesetzt. Daß er dem allgemeinen Bewußtsein weit voraus war, zeigte sich auf der Bundestagung der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen (ASJ) 1954 in Hannover. Er forderte, das Jahrhunderte alte Schuldstrafrecht mit der zweigeteilten Folge von Strafe und Sicherheitsmaßregel durch ein „Maßnahmerecht” zu ersetzen. Schuld bliebe danach eine moralische Kategorie; der Staat aber habe einen auf gesellschaftliche Wirksamkeit gerichteten Maßnahmekatalog aufzustellen, der sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft und des Täters orientiere. Fritz Bauer fand damals keine Mehrheit, wenn auch unter sozial-liberalen Regierungen vereinzelt Elemente des Maßnahmerechts in die Gesetzgebung eindrangen.
Doch bleiben Fritz Bauers Ideen lebendig und verändern allmählich das Bewußtsein, zunächst das sozialdemokratischer Juristen. Dieser Prozeß war im Juli 1973 so weit, daß eine vom ASJ-Bundesvorstand gebildete Programmkommission den ersten Entwurf eines kriminalpolitischen Programms der ASJ vorlegen konnte [2]. Er schritt auch fort, als der Reformimpetus der sozial-liberalen Koalition sich verlor. Willy Brandt hatte am 3. Oktober 1969 vor der SPD-Bundestagsfraktion seinen berühmten Anspruch erhoben, „ein Bundeskanzler der inneren Reformen” zu sein. Helmut Schmidt schloß die damit eingeleitete Entwicklung 1974 vorläufig mit den Worten ab: „Nach der Energiekrise und angesichts der Weltwirtschaftskrise kann der Akzent nicht mehr auf Reformen oder gar moralischen Zukunftshoffnungen liegen. Klassische Funktion des Staates heißt zuerst: Stabilisierung des Erreichten“ [3]. Des ungeachtet verfolgte die ASJ den Grundgedanken Fritz Bauers weiter. Ihre inzwischen freilich umbesetzte Kommission [4] hatte 1975 die auf Beschluß des Bundesausschusses [5] überarbeitete zweite Fassung erstellt [6].
Am 23. und 24. April 1976 wurde vom Bundesausschuß der ASJ in Würzburg das dann aus Anlaß der Bundeskonferenz am 12./13. November 1976 in Frankfurt der Öffentlichkeit vorgestellte Programm verabschiedet [7].

Müller-Dietz bemerkte in seiner Stellungnahme zum zweiten Entwurf: „Aber es gehört nicht nur allein Sachkenntnis, sondern wohl auch Mut dazu, ein solches Konzept zu entwickeln, das so gar nicht mehr in die ökonomisch wie sozial-psychologisch veränderte Landschaft der späten 70er Jahre zu passen scheint. Reformvorstellungen dieser Provenienz haben etwas rührend Unzeitgemäßes an sich“ [8]. In der Tat erscheint das öffentliche Bewußtsein, auch das in der SPD, noch lange nicht reif für diese Reformgedanken. Hatte er doch selbst in der ASJ ungefähr 20 Jahre gebraucht, um Fuß zu fassen! Der Rechtspolitische Ausschuß beim Parteivorstand der SPD nahm das kriminalpolitische Programm der ASJ nach langer Debatte und
unter starken Bedenken namentlich des Bundesjustizministers Hans-Jochen Vogel am 5. November 1976 lediglich als „Diskussionsgrundlage zur Kenntnis… Sie enthält eine Reihe wertvoller Anregungen, die in der SPD auf ihre Verwirklichungswürdigkeit und -möglichkeit hin erörtert und überprüft werden wird. Daher wird insbesondere auch erwogen werden müssen, wie diese Anregungen mit der kriminalpolitischen Grundauffassung der SPD harmonisieren, die sich in der jüngsten Gesetzgebung niedergeschlagen hat und nach der das Strafrecht wesentlich auf der Verantwortlichkeit des Menschen und damit neben dem Besserungsprinzip auch auf dem Schuldprinzip beruht” (12 gegen 5 Stimmen).
Aus dieser recht distanzierten Beurteilung wird deutlich, daß das Programm mit seinem Ansatz einer Veränderung von Sozialstrukturen auch innerhalb der SPD in zäher und geduldiger Arbeit starken Widerstand bekämpfen muß [9], obwohl es im wesentlichen auf der Linie liegt, die im Ausland nicht zuletzt durch Marc Ancels „neue Sozialverteidigung” als richtig anerkannt worden ist.
Es versteht sich, daß der Widerstand derjenigen noch viel größer sein wird, die ihre Privilegien in Gefahr sehen, und deren Demokratieverständnis sich nicht selten nur im Windschatten kapitalistischer Strukturen bewegen kann. Die von ihrem Repräsentanten [10] und Zeitungen [11] bezogenen Abwehrstellungen sind die altbekannten: Verteidigung des „lieben Alten” gegen als systemumstürzend diffamierte Neuerungen.
Obschon die Zeit für die Durchsetzung dieses kriminalpolitischen Programms also noch nicht reif sein dürfte, erscheint es gleichwohl als ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Theoriefeindlichkeit und Denkverzicht dienen zwar der Erhaltung bestehender Strukturen und Interessen. Sie bergen aber unabsehbare Gefahren für die Zukunft der Menschheit in sich. Es kommt nicht nur darauf an, am Ruder zu bleiben und die Technik des Steuerns zu beherrschen: wer kein Ziel hat, ist ziellos! Den Bedürfnissen der großen Mehrheit unserer Bevölkerung nach demokratischen Veränderungen in Richtung auf eine menschlichere, lebenwertere, gerechtere und solidarische Ordnung wird Rechnung getragen werden müssen. Das kriminalpolitische Programm ist ein wichtiger Versuch, für einen wesentlichen Teilbereich den Zustand der Theorielosigkeit oder auch den als solche getarnten konservativen Pragmatismus zu verlassen und Perspektiven aufzuzeigen, an denen man Kriminalpolitik für die Zukunft zumindest messen lassen muß. Daher erscheint es geboten, seine Thesen im folgenden darzustellen und, soweit zu ihrem Verständnis erforderlich, wenigstens kurz zu kommentieren [12].

Thesen des Kriminalpolitischen Programms der ASJ (1976)

Abschnitt 1: Krimi­na­lität

These 1: Kriminalität ist in ihrer Entwicklung, ihren Formen und ihrer Verteidigung abhängig von der Struktur der jeweiligen Gesellschaft.
These 2: Veränderung der Gesellschaft im Sinne des demokratischen Sozialismus soll dazu beitragen, Kriminalität zu verhüten.

Diese — zentralen — Thesen gehen vom gesellschaftlichen Charakter und Ursprung von Kriminalität aus. Individuelle Eigenarten biologischer, konstitutioneller, genetischer, geistiger und psychischer Art sind nur in Wechselbeziehung zur jeweiligen Gesellschaft und den von ihr geprägten Wertvorstellungen erheblich.
Da Kriminalität auch vom Klassenverhältnis und der daraus resultierenden ungleichen Zuordnung von Besitz und Macht bestimmt, wenn nicht gar erzeugt wird, kann sie nur durch Umgestaltung der Gesellschaft nach den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung wirksam verhindert werden.
In einer Gesellschaft, die nicht nur hochwertige Güter und Dienstleistungen, sondern in gnadenloser Mechanik auch menschlichen „Ausschuß” produziert, haben „Tugenden” und „Untugenden” häufig dieselben Entstehungsgründe. Dabei sind unzählige Verhaltensweisen nicht an sich „kriminell”, Kriminalität wird ihnen vielmehr aufgrund herrschaftsmäßiger gesellschaftlicher Bewertung erst zugeschrieben. Im „Kampf ums Recht” (Rudolf von Jhering) nämlich um Einführung, Anwendung oder Abschaffung von Strafgesetzen entscheidet sich nach dem jeweiligen Machtverhältnis, was als „kriminelles Verhalten” gelten soll. Empirische Untersuchungen zeigen, daß dabei die Angehörigen der sozialen Unterschicht der Definitionsgewalt voll unterworfen und ihre Verhaltensweisen entsprechend kriminalisiert werden, während die weitaus schädlichere whitecollar-Kriminalität nicht selten als „Kavaliersdelikt” durchgeht. Zum Beispiel werden Eigentumsverletzungen (etwa auch Ladendiebstähle) vom Gesetzbuch mit Strafe belegt, willkürliche Kündigungen oder Vernichtungen von Arbeitsplätzen mit weitaus höherer Sozialschädlichkeit hingegen nicht [13].

Abschnitt 2: Grundsätze der Krimi­nal­po­litik

These 3: Kriminalpolitik ist Teil umfassender gesellschaftlicher Strategien zur Verhütung und Kontrolle kriminellen Verhaltens. Kriminalrechtliche Maßnahmen haben dort einzusetzen, wo andere Mittel gesellschaftlichen und staatlichen Handelns unwirksam bleiben.
These 4: Kriminalpolitik darf nicht auf die Vergeltung von Schuld abzielen, sie hat den Einzelnen und die Gesellschaft vor sozialschädlichen Verhaltensweisen zu schützen.
These 5: Kriminalpolitik soll auf den Täter und das Bewußtsein der Gesellschaft einwirken. Die einzelne Maßnahme gegenüber dem Täter darf nicht nach ihrer Wirkung auf die Öffentlichkeit bemessen werden.
These 6: Kriminalpolitik muß ihre Grenze an den Grundsätzen des Rechtsstaates finden.
These 7: Kriminalpolitik hat soziale Unterschiede ausgleichend zu berücksichtigen. Ihre Auswirkungen dürfen nicht einseitig sozial Schwache treffen und Vorrechte sozial Mächtiger begünstigen.
These 8: Kriminalpolitik bedarf ständiger wissenschaftlicher Überprüfung.

These 3 legt den Grundsatz der Subsidiarität der Kriminalpolitik gegenüber aktiv gestaltender und strukturverändernder Sozialpolitik fest. Damit werden zugleich Verantwortungsbereiche umgrenzt. Die Zunahme von „Kriminalität” und von Rufen nach „law und order” zeigen erhebliche Schwächen und Versäumnisse in der Sozialpolitik an.
These 4 wendet sich von einem der herkömmlichen Axiome des Strafrechts, der „Schuldvergeltung”, ab und formt dessen „Zweispurigkeit” (Strafen und Maßnahmen der Besserung und Sicherung) in ein — jedenfalls vom Anspruch her — reines Maßnahmerecht um. Diesem mißt These 5 in Satz 1 eine das Bewußtsein auch der Gesellschaft prägende Wirkung zu. Darin steckt ein Gedanke von Generalprävention. Satz 2 verdeutlicht aber, daß der Täter nur wegen der von ihm selbst ausgehen-den Sozialgefahr Maßnahmen zu erdulden hat; er darf nicht zum Objekt einer Abschreckung anderer Menschen gemacht werden, auf deren Verhalten er ja auch keinen Einfluß hat.
These 6 enthält zwar eine Selbstverständlichkeit, ist aber ein nützliches Bollwerk gegen Mißverständnisse und böswillige Angriffe derart, es werde nicht länger auf eine in einer Übeltat zutage tretende Gefährlichkeit des Täters, sondern auf seine von Taten abstrahierte Gefährlichkeit abgestellt, oder die gesetzliche Bestimmtheit der Straftat und ihrer Folgen (Art 103 Abs 2 GG) solle aufgegeben werden. Die bisherige Funktion der Schuld, staatliche Sanktion zu begrenzen, will das Kriminalpolitische Programm in ebenso wirksamer wie verfassungskonformer Weise durch die an der Wertordnung des Grundgesetzes orientierten Begrenzungsfunktion der Sozialgefährlichkeit ersetzen [14], [15].
Das wird durch die Thesen 11 und 17 noch konkretisiert.
These 7 geht von der Erkenntnis aus, daß das geltende Strafrecht die Macht der sozial und ökonomisch herrschenden Minderheiten festigt und darüberhinaus sogar noch im öffentlichen Bewußtsein legitimiert. Ein dem Sozialstaatsprinzip unserer Verfassung verpflichtetes Kriminalrecht hat hingegen die Aufgaben, materiellrechtIich die Gleichbehandlung herzustellen und zum anderen gerade den Schutz solcher Opfer zu garantieren, die wegen ihrer sozialen Schwäche außerstande sind, sich selbst zu schützen.
Schließlich legt These 8 entsprechend dem Anspruch des Maßnahmerechts fest, daß die Wirksamkeit des Programms wie der eingeleiteten oder einzuleitenden Maßnahmen ständig wissenschaftlich überprüft werden muß (vergl. auch § 166 Strafvollzugsgesetz).

Abschnitt 3: Krimi­nal­tat­be­stände

These 9: Kriminalgesetzgebung hat sich auf das Verbot solcher Verhaltensweisen zu beschränken, welche die unerläßliche Voraussetzung des sozialen Zusammenlebens in Frage stellen.
These 10: Kriminalgesetzgebung hat Bagatellangriffe aus dem Bereich der Kriminalität auszugliedern. Private Kriminaljustiz in jeder Form wird abgelehnt.
These 11: Kriminalgesetzgebung hat verbotenes Verhalten bestimmt zu umschreiben und zugleich Art und Höchstmaß der gegen den Täter zulässigen Maßnahmen entsprechend der typischen Sozialschädlichkeit der Tat zu bestimmen.

These 9 will einmal das „Auskämmen” solcher Strafvorschriften ermöglichen, die gesellschaftlich unerhebliche oder allenfalls moralwidrige Verhaltensweisen verbieten. Andererseits will sie kriminalrechtlichen Schutz auch der Rechtsgüter der sozial schwachen Schichten herbeiführen (z.B. gegen die praktisch häufig auftretenden und auch gefährlichen Angriffe auf die Arbeitskraft und deren Ausbeutung unter Ausnutzung von Unerfahrenheit oder Not). Ferner muß es darum gehen, Angriffe auf Leib und Leben und die Zerstörung der lebensnotwendigen Umwelt durch äußerlich
angepaßtes Verhalten kriminalrechtlich zu unter-binden, wenn andere Schutzmaßnahmen nicht helfen (Umwelt- und Konsumentenschutz). Minima non curat praetor = Um Kleinigkeiten soll sich kein Richter kümmern. Bei These 10 geht es darum, abweichendes Verhalten ohne oder von nur geringwertiger Sozialgefahr zu entkriminalisieren.
These 11 bezweckt Aufhebung der „Zweispurigkeit” des geltenden Strafrechts. Erste Schritte wurden freilich in diese Richtung schon getan, indem zwar das Erkenntnisverfahren noch zwischen Strafe und Maßregel unterscheidet, jedoch beide Sanktionsarten in der Vollstreckung austauschbar sind („vikariieren“).
Freiheitsentziehung zur Sicherung der Gesellschaft vor dem Täter soll nur zulässig sein, wenn von ihm konkrete Gefahren schwerster Rechtsverletzungen drohen. Freiheitsentziehung zum Zwecke seiner Besserung soll an die Voraussetzung geknüpft werden, daß erhebliche Taten seine besondere Gefährlichkeit anzeigen. Im Bereich der mittIeren und kleineren Kriminalität soll bei Ersttätern die Freiheitsentziehung wegfallen. Die lebenslange Freiheitsstrafe soll — soweit sie nicht aus Gründen der Sicherung unabweisbar ist —, abgeschafft werden. Auf weitere Sicht ist dies auch für die länger dauernde Freiheitsentziehung (ab 5 Jahre) vorgesehen.
Im Bereich des Jugendkriminalrechts ist schon kurzfristig ein Übergang zu einem reinen Maßnahmerecht anzustreben. Dieses sollte zweckmäßigerweise in ein allgemeines Jugendhilferecht eingebettet sein.

Abschnitt 4: Krimi­na­li­täts­ver­fol­gung

These 12: Verfolgung kriminellen Verhaltens hat unter Ausschluß rein privater Interessen der Verhütung von Kriminalität und damit dem Schutz der Allgemeinheit zu dienen.
These 13: Verfolgung kriminellen Verhaltens hat sich auf besonders sozialschädliche Taten und gefährliche Täter zu konzentrieren. Das Verfahren zur Feststellung von Tat und Täter ist zu beschleunigen.
These 14: Verfolgung kriminellen Verhaltens ist so zu gestalten, daß die Rechte des Beschuldigten nicht beeinträchtigt werden; die Stellung des sozial schwachen Beschuldigten im Verfahren ist zu stärken.
These 15: Die Maßnahmen zur Einwirkung auf den Täter sind in einem gesonderten Verfahrens-abschnitt unter Heranziehung von Sachverständigen zu bemessen.

These 12 wendet sich unter anderem gegen Rechtsinstitute wie Strafantrag, Neben- und Privatklage, weil sie der Durchsetzung privater Interessen mit Mitteln des Strafrechts dienen. Eine Ausnahme soll nur für den als zusätzliche Vorbedingung staatlichen Einschreitens zu begreifenden Fall des Strafantrages gelten, wenn die Strafverfolgung im sozialen Nahraum zwischen Täter und Verletzten störend eingreifen würde [16]. Gleichwohl soll das Klageerzwingungsverfahren beibehalten werden, das der Verletzte unter bestimmten Umständen betreiben kann. Darüberhinaus soll geprüft werden, ob nicht z.B. in Fällen des Umwelt-und Verbraucherschutzes auch Verbänden eine Klagebefugnis eingeräumt werden sollte.
These 13 schränkt die bisherige Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden ein, wegen aller mit Strafe bedrohter Handlungen ohne weiteres einzuschreiten. Dadurch wäre eine Schwerpunktbildung in der Kriminalitätsverfolgung ermöglicht, die durch ein Kontrollsystem zu ergänzen ist.
These 15 schließlich sieht die Zweiteilung des Verfahrens vor. Es soll zwecks Verschonung vielleicht Unschuldiger die Maßnahmeempfänglichkeit und das Resozialisierungsbedürfnis eines Beschuldigten erst geprüft werden, nachdem festgestellt wurde, daß er auch der Täter ist („Schuldinterlokut“) [17]. In diesem Verfahrensabschnitt sollen verstärkt Sachverständige herangezogen werden [18].

Abschnitt 5: Einwirkung auf den Täter

These 16: Maßnahmen zur Einwirkung auf den Täter sollen ihn veranlassen und ihm ermöglichen, ein Leben ohne kriminelles Verhalten zu führen.
These 17: Maßnahmen zur Einwirkung auf den Täter dürfen nicht außer Verhältnis zu seiner durch die Tat indizierten Gefährlichkeit stehen.
These 18: Zur Einwirkung auf den Täter ist ein breiteres System von Maßnahmen ohne Freiheitsentziehung zu entwickeln.
These 19: Maßnahmen mit Freiheitsentziehung dürfen nur dann angeordnet werden, wenn sie zur Erreichung der Sanktionsziele unerläßlich sind; sie sind zu beenden, sobald der Übergang zu einer Maßnahme ohne Freiheitsentziehung verantwortet werden kann.
These 20: Maßnahmen mit Freiheitsentziehung sind im Hinblick auf das Ziel der Besserung und Sicherung differenzierend und individualisierend auszugestalten; die Belastungen durch die Freiheitsentziehung dürfen nicht weiter gehen, als es zur Erreichung des Ziels der Maßnahme erforderlich ist [19].

Vorschläge zur Weiter­ent­wick­lung des Krimi­nal­po­li­ti­schen Programms

Diese 20 Thesen ergeben noch kein vollständiges Kriminalpolitisches Programm. Manche Gebiete sind — was durch die Vielzahl der abzudeckenden Probleme verständlich wird — etwas unterbelichtet oder gar ausgeblendet worden. Wir wollen uns auf Stichworte beschränken.
Der zweite Entwurf machte noch Empfehlungen zum Umweltkriminalrecht und Wirtschaftskriminalrecht sowie Vorschläge zur Organisation von Verfolgungsbehörden und zum Vollzug von freiheitsentziehenden Maßnahmen. Diese wichtigen Komplexe fehlen nunmehr(20).
Auch sollten folgende Bereiche mit in das Kriminalpolitische Programm eingefügt werden:

  • Stellungnahme zur Verteidigerüberwachung und Einschränkung von Beschuldigten- und Verteidigerrechten;
  • Stellung des Anwalts im Verfahren (Anwalt als „Rechtshelfer sozialer Gegenmacht“)(21);
  • Kritik der Verlagerung von strafprozessualen Zuständigkeiten auf die Polizei im Rahmen des „Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder vom
     11. Juni 1976″ [22];
  • Verpflichtung zur (Wieder-)Einstellung von Tätern in Betrieben und Behörden (Vorbild: Schwerbehindertengesetz);
  • Regelung eines tragfähigen Schuldausgleichs” und der „Prozeßkostenfrage” (Beschränkung; Darlehnsgewährung).

Es mögen sich noch mehr zu bedenkende Probleme finden. Das ASJ-Programm muß jedenfalls zu Ende gedacht werden, weil es die Chance eines zugleich wirksameren wie humaneren Kriminalrechts bietet. Daß Leute es diffamieren, die allemal lieber zu den bösen, alten Zeiten zurückkehren, als einem neuen Gedanken (den sie stets für des Teufels halten) nachzuhängen, darf die Entwicklung zur Menschlichkeit nicht aufhalten. Es gilt jetzt, durch eine breite Diskussion die Wertvorstellungen in unserem Volk umzuorientieren, damit es methodisch vom Sündenbockbedürfnis zur Kriminalitätsverhütung, inhaltlich vom Vorrang der Eigentumsfetischierung zum Schutze unserer natürlichen Umwelt und Arbeitskraft komme.

Anmerkungen:

1 Vgl Erich Fromm, Worin besteht nur dieser „erzieherische Wert” der Strafjustiz „für die Gesamtanschauung des Volkes”; Nachdruck in Ignatz Kerscher, Sozialwissenschaftliche Kriminalitätstheorien, Weinheim und Basel 1977, S 169f.
2 Vgl Recht und Politik (RuP) 1973, S 93 ff; an den Beratungen haben mitgewirkt: Christian Dästner, Karl Ender, Horst Franzheim, Volker Frielinghaus, Karl-Heinz Gemmer, Kurt Gintzel, Karl-Heinz Kunert, Hans Meyer-Velde, Tilman Moser, Gottfried Nisslmüller, Klaus-Henning Rosen, Werner Roth (Stuttgart, Vorsitzender), Werner Roth (Wiesbaden), Fritz Sack.
3 Zitiert nach: Frankfurter Rundschau (FR) vom 23. September 1974,S3.
4 Christian Dästner, Johannes Feest, Hans Meyer-Velde, Christian Pfeifer, Klaus-Henning Rosen, Werner Roth, Erich Samson (Vorsitzender).
5 Vgl RuP 1974, S 53,108, 154, 188, 208.
6 RuP 1976, S 215 ff.
7 Abgedruckt in RuP 1976 S 252 bis 260.
8 In RuP 1976, S 11 ff (14).
9 Dazu nur FR v 15. November 1976, S 3: „SPD und Rechtspolitik”.
10 Vgl. FR v 16. November 1976, S 4: „Schuldstrafrecht beibehalten. — Gegen die Beseitigung des seit Jahrhunderten üblichen Schuldstrafrechts`, wie es die ,Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen` vorschlägt, haben sich die Justizminister der CDU/CSU regierten Bundesländer ausgesprochen. Zum Abschluß einer Sitzung über ,die Rechtspolitik in der achten Wahlperiode des Deutschen Bundestages‘ erklärten sie am Montag in einer Pressekonferenz in München, diese Vorschläge hätten ,Elemente einer volksdemokratischen Ordnung in sich . . .‘ „
11 Vgl nur etwa Die Welt v 16. November 1976: „Die Lehre vom Un-Menschenrecht — Holzweg in die Schöne Neue Welt. Die Abkehr von Schuld und Strafe” (abgedruckt in RuP 1976, S 269f); und die: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v 8. März 1977,
S 9: ??Ein manchmal ungeliebtes Kind der SPD. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen, was sie ist und bewirkt.” – (vgl hierzu Reichel, RuP 1977, S 124; Kummer, FAZ v 19. 3. 77); positiv: FR v 13. November 1976, S 4: „Sozialdemokratische Juristen fordern Abkehr vom Schuldstrafrecht”, und: FR v 15. November 1976, S 3: „SPD und Rechtspolitik” (abgedruckt in RuP 1976, S 268f).
12 Zu den (mit verabschiedeten) Begründungen vgl im einzelnen RuP 1976, S 253 ff; wir geben hier nur kurze erläuternde Anmerkungen;
13 Vgl z.B. Karl F. Schumann, Ungleichheiten in der Strafverfolgung, in RuP 1974, S 119 ff.
14 Vgl die Kritik an dieser These von Müller-Dietz in RuP 1976, S 11ff (12); auch Kühl, RuP 1977, S 78, diesem gegenüber wiederum lies Adolf Arndt, Gesammelte Juristische Schriften, Beck, München 1976, S 208ff. Ostermeyer sieht die Gefahr eines neuen Etikettenschwindels in RuP 1976, S 17ff (19).
15 Gegen diese These insbesondere Kutzer, RuP 1976, S 14ff (15/16).
16 Kritisch Ostermeyer, aaO.
17 Vgl z.B. Chr. Dästner, Zur spezialpräventiven Ausrichtung des Strafverfahrens durch Zweiteilung der Hauptverhandlung, in RuP 1976, S 86 ff.
18 Kritisch Ostermeyer aaO S 18.
19 Vgl eingehend dazu die Begründungen in RuP 1976, S 259ff (266).
20 Dazu Schomburg, RuP 1977, S 79f.
21 Vgl dazu E. Isermann, Anwalt als „Rechtshelfer sozialer
Gegenmacht”? in RuP 1976, S 119f; und Holtfort, Ein Stück sozialer Gegenmacht; in: Kritische Justiz, Heft 3/1977.
22 Vgl hierzu die Entschließung der ASJ-Bundeskonferenz 1976, in RuP 1977, S 117 ff.

(Ergänzende) Litera­tur­hin­weise:

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Arbeitskreis Junger Kriminologen: Kritische Kriminologie, München 1974.
Autorenkollektiv: Gefesselte Jugend — Fürsorgeerziehung im Kapitalismus, 4, Auflage Frankfurt 1976.
E. Blankenburg: Karl Marx und der „Labeling“-Ansatz, in: Kriminologisches Journal 1974, S 313 ff.
E. Blankenburg/H. Treiber: Der politische Prozeß der Definition von kriminellem Verhalten, in: Kriminologisches Journal 1975, S 252ff.
M. Breland: Möglichkeiten und Grenzen vorbeugender Kriminalitätsbekämpfung. Ein lerntheoretischer Ansatz. In: Demokratie und Recht 1974, S 379 ff.
R.-P. Callies: Strafvollzug. Institution im Wandel, Stuttgart 1970. R.-P. Callies: Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Ein Beitrag zur strafrechtsdogmatischen Grundlagendiskussion, Frankfurt 1974.
J. Feest/E. Blankenburg: Die Definitionsmacht der Polizei. Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion, Düsseldorf 1972.
H. Haferkamp: Kriminelle Karrieren; Reinbek bei Hamburg 1975.
G. Kaiser, Kriminologie. 3. Auflage Heidelberg/Karlsruhe 1976.
K. Lüderssen/F. Sack: Seminar: Abweichendes Verhalten — I Die selektiven Normen der Gesellschaft, Frankfurt 1975; II Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, 1, Frankfurt 1975.
H. Müller-Dietz: Das Strafvollzugsgesetz, in: Neue Juristische Wochenschrift 1976, S 913 ff.
T. Moser: Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt 1970.
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