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Aufgabe der liberalen in unserer Gesell­schaft

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 8-10

Wir finden uns zur Zeit in einer politischen Situation, die für mich in wesentlichen Bereichen ein Umdenken notwendig macht. In einigen Bereichen wäre es außerordentlich hilfreich, wenn gerade die Liberalen sich einmal zurückbesännen auf ihre grundsätzlichen Forderungen, in anderen Bereichen scheint es mir wichtig zu sein, einmal zu prüfen, ob die Antworten von gestern noch die Probleme von heute zu bewältigen vermögen. Die Liberalen können sich auf eine Tradition berufen, die keine wirklichen Perversionen aus einer ldee erfahren hat, aber diese Tradition war langandauernd unterbrochen, nämlich beginnend zu der Zeit als die bürgerlichen Rechte errungen waren, und das Bürgertum nun seinerseits die errungenen Rechte als erworbene Privilegien gegenüber der Arbeiterklasse zu behaupten begann. Noch heute erwarten weite Teile des Bürgertums von den Liberalen die Verteidigung ihres Besitzstandes.
Liberale Gesellschaftspolitik ist bestimmt von dem Grundgedanken der größtmöglichen Freiheit des einzelnen Menschen und der Wahrung der menschlichen Würde in jeder gegebenen oder sich verändernden politischen oder sozialen Situation. Diese Freiheit des Menschen darf aber nicht beschränkt bleiben auf formal gesicherte Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, sondern muß gesellschaftlich erfüllte Rechte und gleichberechtigte Teilhabemöglichkeiten umfassen. Entsprechend steht die Demokratisierung der Gesellschaft und die Schaffung gleicher Selbst- und Mitbestimmungsrechte für alle in Wirtschaft und Gesellschaft im Mittelpunkt. Eine solche Gesellschaft setzt Toleranz aller Menschen und den Mut zum Pluralismus voraus. Eine liberale Demokratie darf keine Diktatur einer Mehrheit sein, sondern erst der Schutz ihrer Minderheiten macht sie menschlich. Erstarrte Machtverhältnisse wirken freiheitsfeindlich, deshalb tritt der Liberale für Begrenzung, Kontrolle und Legitimation von Macht ein. Initiative und Kreativität des Einzelnen machen den Charme und die Qualität der Gesellschaft aus.
Liberalismus ist also nicht fixiert auf ein bestimmtes Gesellschafts- oder Wirtschaftssystem, sondern er wird sich in jedem System für diese Werte einsetzen müssen und das System bevorzugen, das diese Ziele am ehesten erreicht.
Nun klingen diese Ziele einleuchtend und auch die beiden großen Parteien beziehen sich darauf und weisen nicht selten darauf hin, daß die liberale Idee inzwischen allgemeines Gedankengut geworden sei, sich also eine liberale Partei erübrige. Die Wirklichkeit nun genügt diesem Anspruch bei weitem nicht. Es bedarf also zu jeder Zeit derer, die sich bemühen, die Wirklichkeit im Sinne liberaler Ideen zu verändern. Der Liberalismus als eine politische Relativitätstheorie, wie Karl Hermann Flach sagt, kennt keine Tabus und für ihn ist jede Meinung der Diskussion wert.
Wie aber sieht es bei uns aus? Die politische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik Deutschland ist geprägt von Intoleranz. Der politische Gegner wird diffamiert und man unterstellt ihm in der Regel unehrenhafte Motive für sein Handeln.
Politisch Andersdenkende werden leicht in die Schublade der Verfassungsgegner gesteckt, um sich so der geistigen Auseinandersetzung zu entziehen. In einem solchen Klima kann sich Pluralität der Meinungen und damit geistige . Vielfalt wohl kaum entwickeln. Gerade ihrer aber bedürfen wir für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.
Unsere Gesellschaft ist noch durch vielseitige Abhängigkeiten von Menschen untereinander geprägt. Ob am Arbeitsplatz, in den Bildungseinrichtungen oder sogar in der Familie, auch dort, wo Formen gleichberechtigter Zusammenarbeit eher leistungsfördernd wären, finden sich die meisten in Hierarchien eingeordnet.
Die Schere zwischen liberalem Anspruch an unsere Gesellschaft und der Wirklichkeit ist also noch erheblich und wird wohl nie ganz geschlossen werden können. Wollen Liberale ihren Zielen nicht untreu werden, müssen sie Partei ergreifen für alle Menschen, die in Unfreiheit leben, deren freie Meinungsäußerung nicht möglich ist, weil sie möglicherweise mit Sanktionen zu rechnen haben, und für jene, die nicht die Chance zur gleichberechtigten Teilhabe in unserer Gesellschaft haben. Der Liberale ist also vom Ansatz her nicht Lobbyist derer, die Freiheit und Rechte haben, sondern derer, die sie entbehren müssen oder auf dessen Kosten sich die Freiheitsrechte des anderen begründen. Insoweit ist es kein Zufall, wenn gerade Liberale engagiert gegen den sogenannten Radikalenerlaß zufeldegezogen sind oder Liberale sich bemühen, unsere mühsam erworbenen Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, die zur Zeit Gefahr laufen, im Windschatten von Terrorakten wieder zurückgenommen zu werden, zu verteidigen.
Im Bereich der Wirtschaftspolitik tun sich die Liberalen besonders schwer, ihren eigenen Grundforderungen zu genügen. Oberstes Ziel liberaler Politik müßte es zur Zeit sein, die Vollbeschäftigung wiederherzustellen. Die angespannte Situation am Arbeitsmarkt wirkt bis in die Betriebe und die Bildungseinrichtungen hinein. Aus Furcht, seinen Arbeitsplatz zu verlieren oder keinen Studienplatz beziehungsweise Ausbildungsplatz zu erhalten, benehmen sich viele nach dem Motto „nur nicht auffallen”. Ein so angepaßter Mensch ist kaum geeignet, eine Gesellschaft von freien Menschen zu gestalten.
Darüberhinaus ist es im Augenblick sehr beliebt, mit dem Gespenst der Arbeitslosigkeit wünschenswerte politische Entscheidungen zu verhindern, z.B. eine Begrenzung des Ausbaus der Kernenergie. Sehr beliebt ist es auch, unser soziales Netz für die wirtschaftliche Krisensituation verantwortlich zu machen, um auf diese Weise eine Weiterentwicklung zumindest zu blockieren, vielleicht aber auch sogar zu erreichen, daß manches wieder zurückgenommen wird.
„Liberale können sich nicht damit zufrieden geben, daß Menschen ohne Arbeit lediglich finanziell abgefunden werden. Hauptaufgabe einer sozial verpflichteten Wirtschaftspolitik muß es daher sein, jedem Arbeitssuchenden eine Möglichkeit der sinnvollen Beschäftigung anzubieten” (F.D.P. – Perspektivkommission). Um die Voraussetzung für die freie Entfaltung eines jeden Menschen zu schaffen und andererseits die politische Handlungsfähigkeit zu gewinnen, wird also gerade der Liberale in seiner Wirtschaftspolitik der Beschäftigungspolitik Vorrang vor anderen Zielen einräumen müssen.
Man könnte nun die Liste dessen, was alles noch geleistet werden muß, um eine Gesellschaft nach liberalen Kriterien zu schaffen, beliebig fortsetzen. Ich will mich aber auf diesen kleinen Katalog beschränken, um deutlich zu machen, wo die historischen Ziele der Liberalen noch auf ihre Umsetzung warten.
Eine Reihe von Problemen, die es heute zu bewältigen gilt, bedürfen aber neuer Lösungsmechanismen.
„Der politische Liberalismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hat den Rechtsstaat als juristische Konstruktion zur Begrenzung von Staatsmacht verstanden. Zu lange ist unbeachtet geblieben, daß der Freiheitsraum des Bürgers durch gesellschaftliche Machtkonzentration ebenso eingeengt werden kann wie durch die Macht des Staates” (Perspektivkommission). Die Liberalen brauchen also ein neues Staatsverständnis. Es reicht heute nicht mehr, Freiheit vom Staat zu fordern, sondern es kommt darauf an, gerade auch Freiheit durch den Staat zu sichern. Der Bürger fordert vom Staat die reale Einlösung seiner ihm grundrechtlich gesicherten Freiheits- und Teilhaberrechte. Die Grenzen staatlichen Handelns liegen in den Geboten der Rechtsstaatlichkeit und dort, wo eine umfassende staatliche Fürsorge selbstverantwortliche Freiheit aufhebt. Es gilt also für die Liberalen, die Gestaltungsfunktion des Staates zu akzeptieren.
Wir sehen uns in den Bereichen der Energiepolitik, der Beschäftigungspolitik, der Bildungspolitik wie auch der Gesundheits- und Sozialpolitik großen Herausforderungen gegenüber. Die Lösung dieser Probleme wird in allen Parteien heute noch im Wachstum gesehen. Wir brauchen gewisser-maßen nur einen zahlenmäßig hohen Zuwachs unseres Bruttosozialproduktes anzusteuern — und schon würde die erforderliche Zahl von Arbeitsplätzen bereitstehen und unser Bildungs- und Sozialsystem finanzierbar sein. Nun ist aber bereits seit Jahren ein deutliches Abflachen des jährlichen Wachstums zu beobachten, und jedes Mittel wird wohl auch nicht recht sein dürfen, das Wachstum pauschal anzukurbeln. Wollen wir nicht von der Hand in den Mund leben, sondern soll unsere Entwicklung zukunftsorientiert sein, so werden wir, stärker als das bisher der Fall war, die gesellschaftlichen Auswirkungen und sozialen Kosten wie Ressourcenverschwendung, Umweltzerstörung und gesundheitliche Schäden berücksichtigen müssen. Hier hat der Staat besondere Gestaltungsaufgaben, sei es durch die Gesetzgebung, die Steuer-oder auch seine Ausgabenpolitik. Es bedarf insgesamt einer Umorientierung von einer rein materiellen Erhöhung des Lebensstandards zu einer langfristig qualitativen Verbesserung unserer Lebensgrundlagen.
Nun läßt sich dieses leichter fordern als es zu verwirklichen ist. Wenn das Wachstumsziel nicht mehr im Quantitativen liegt, so hat dies wesentliche Auswirkungen auf die Einnahmen des Staates. Wenn in der Vergangenheit das Mehr an sozialer Gerechtigkeit aus den Zuwächsen der öffentlichen Haushalte heraus finanziert werden konnte, so wird künftig der Ausgleich von sozialen Ungerechtigkeiten durch gleichzeitige Einsparungen an anderer Stelle erfolgen müssen. Dies bedeutet die Umstellung vom Verteilen des Zuwachses auf die Umverteilung oder besser: gerechtere Verteilung des Vorhandenen. In einem solchen Verteilungsprozeß ist die Gefahr groß, daß nicht Gerechtigkeit, sondern Gruppenmacht die Grundlage von Entscheidungen wird. Minderheiten ohne eine starke Lobby drohen vergessen zu werden.
Zur Zeit sehe ich aber ein großes Hindernis für ein zukunftsorientiertes Wachstum in dem Anspruchsdenken des Bürgers gegenüber dem Staat. Maßnahmen des Staates, seien es gesetzgeberische oder fiskalische, die ursprünglich einmal sozial gerechtfertigt, ja erforderlich waren, wurden nicht selten zum Privileg und zum Besitzstand; sei es im Bereich der Besoldung oder auch in Bereichen sozialer Absicherung. Dieses Besitzstandsdenken hat zwangsläufig eine erhebliche politische Unbeweglichkeit zur Folge. Würden wir zum Beispiel, solange wir Probleme am Arbeitsmarkt haben, die flexible Altersgrenze senken, so wäre vermutlich diese Entscheidung nicht mehr zu gegebener Zeit rücknehmbar, weil sich daraus ein Anspruch entwickelt hat. Wenn sich dann aus diesem falschen Anspruchsdenken eine solche Maßnahme nicht mehr revidieren ließe, würden die dann Erwerbstätigen durch weiter zu erhöhende Rentenbeiträge die Lasten tragen. Also wird man sich doch gründlich vor jeder Maßnahme überlegen müssen, ob dadurch nicht langfristig die Gestaltungsmöglichkeiten staatlichen Handelns mehr und mehr eingeschränkt werden.
Unabhängig davon, ob es uns nun gelingt, das Wachstum künftig qualitativ zu gestalten, werden wir mit geringeren Zuwachsraten rechnen müssen, mit allen negativen Auswirkungen auf unser Sozialsystem, dessen Funktionsfähigkeit allzusehr vom Wachstum abhängig ist. Wir würden uns aber eines Versäumnisses schuldig machen, wenn sich unsere politische Aktivität in einer Mangelverwaltung erschöpfte. Eine Gesellschaft, die nur mit quantitativem Wachstum funktioniert, muß zwangsläufig künstlich Bedarf wecken, selbst dort, wo Sättigungserscheinungen auftreten. In vielen Bereichen unseres Lebens, sei es im Jugendhilfebereich, im Freizeitbereich oder in der Alten-pflege, haben wir noch vielfältige Mängel. Mit den vorhandenen Ressourcen kann man bei gerechterer Verteilung die Lebensqualität aller erheblich steigern, wenn nur die politisch Verantwortlichen ihre Aufgabe, gestaltend einzuwirken, hinreichend wahrzunehmen wüßten.
Die sozial-liberale Koalition hat sich bewiesen als hervorragendes Krisenmanagement. Keine andere Regierung ist mit der Weltwirtschaftskrise so gut fertiggeworden wie die unsrige. Allzu sehr hat sie aber die Kritik ihrer Gegner hingenommen, als seien die von ihr eingeleiteten Reformen schuld an der derzeitigen wirtschaftlichen Situation. Eine offensive Verteidigung der Regierung hätte sicherlich den Erfolg der Opposition beim Bürger erheblich eingeschränkt.
Die anstehenden Probleme bedürfen für ihre Bewältigung langfristiger, politischer Perspektiven. Wer anders als Sozialdemokraten und Liberale bieten dafür die Voraussetzung? Die F.D.P. wird auf ihrem diesjährigen Bundesparteitag in Fortsetzung ihrer „Freiburger Thesen” ihre gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Ziele beschreiben. Meine Hoffnung ist, daß ihre mitgestaltende Kraft in unserer Gesellschaft deutlicher wird.

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