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„Drinnen” sieht die Sache ganz anders aus

vorgängevorgänge 2910/1977Seite 112-114

Beschwerdebrief eines Gefangenen über den hessischen Strafvollzug

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 112-114

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Börner!
Seit sechs — in Kürze gehe ich ins siebte — Jahren bin ich im hessischen Strafvollzug verwahrt. Von Anbeginn war meine Rolle hier lästig kritisch, wobei ich insbesondere mich dadurch verhaßt gemacht habe in dem zuständigen Fachministerium, daß ich für Gefangene das Recht fordere — und benutze! — selbst aktiv an den eigenen Belangen verändernd mitzuwirken. Ich schreibe Ihnen das, um Ihnen zu sagen, daß ich wirklich etwas von der Materie, von der ich rede, verstehe, und um Ihnen auch vorab zu sagen, wie die Antworten aussehen werden, wenn Sie sich im Juni über mich erkundigen.
Wenn ich Ihnen schreibe, dann weil Sie ein Mann sind, an den ich reale Hoffnungen knüpfe. Real in bezug auf die Kenntnis der Dinge, die nur möglich sind, aber auch real und Hoffnungen, weil Sie den direkten Weg zum Problem immer schon gegangen sind. Auch in früheren Zeiten, aus denen ich Sie „kenne”. In der gegenwärtigen Vollzugsmisere haben Sie sich mehrfach eingeschaltet, und berechtigt, wie ich meine. Es kann deshalb für Sie als einer von vielen Informationspunkten sicher auch interessant sein, was es von innerhalb der Mauern hierzu zu sagen gibt.
Sie sind Ministerpräsident eines Landes, das zu Recht einmal in Anspruch genommen hat, im Strafvollzug (wie in vielen anderen Bereichen sozialer Art) vorn zu liegen. Das ist mit Sicherheit Vergangenheit. In den letzten Jahren ist kontinuierlich ein Kurs der Halbheiten gesteuert worden, der derartig verheerend ist, daß ich meinen Vorwurf, den ich an das Justizministerium immer wieder richte, nur wiederholen kann: Der heutige Vollzug ist optimal resozialisierungsfeindlich und deshalb optimal sicherheitsgefährdend.
Man hat in den vergangenen Jahren immer wieder Stückwerk produziert. Einerseits — richtige! — Vorhaben im Bereich der Sozialisierung von Straftätern erkannt und als Absichtserklärungen laut verkündet, andererseits hierfür aber weder entsprechendes Material noch Personal zur Verfügung gestellt. Die Folge war Verunsicherung, Enttäuschung, Mißtrauen, Aggressionen und teilweise völlige Frustration auf seiten der Bediensteten. Niemals ist für dieses Land mehr ein klares Konzept erarbeitet worden. Die Beamten in allen Bereichen konnten sicher sein, daß dem berechtigten Verlangen der Inhaftierten ebenso halbherzig zugestimmt werden würde wie den eigenen „Sicherheitsbedenken”. Man wollte seitens der Obrigkeit beides, ohne jedoch für das eine oder andere auch die Verantwortung zu übernehmen. Konsequent war die Entwicklung ein Chaos. Heute gibt es in keiner hessischen Vollzugsanstalt mehr ein wirkliches, auf Integration ausgerichtetes Programm. „Zugeständnisse” werden gemacht, um die Leute „ruhig” zu halten, und zwar ebenfalls dual, in zwei Richtungen. Es wird sowohl im System „Tropfen-auf-den-heißen-Stein” den Forderungen der Gefangenen entsprochen, als auch denen der Bediensteten. Die oberflächlichen Wünsche der Gefangenen — in Verkennung ihrer wirklichen Interessen — sind in aller Regel nur Verbesserung der Lebensqualität des einzelnen, die der Bediensteten ebenfalls. („Mehr Personal“ ist der Schlachtruf, dabei wäre es längst an der Zeit, daß man einmal Rationalisierungsfachleute auf die Aufgaben der Bediensteten ansetzt!) Der große Wurf, das Programm, ist dabei nie entstanden.
Weder gibt es heute im Strafvollzug eine beruflich befriedigende sinnvolle Betätigung noch gibt es für den Gefangenen irgendeine (von persönlichen Wundern abgesehen!) echte, behördlich organisierte Chance, den Strafvollzug zu nutzen. — Hierbei sollten Sie sich vom Justizministerium nicht das Gustav-Radbruch-Haus als Gegenbeweis vorhalten lassen. Das Land Hessen hat 4500 Gefangene. Für den Behandlungsvollzug sind zumindest 4000 geeignet. Unterstellt, das GRH nimmt seine Aufgabe voll wahr (was umstritten ist), gibt es also für 200 bis 300 eine Chance. Das ist weniger als nichts.
Die individuelle Schaukelpolitik des Justizministeriums hat darüber hinaus ein völlig ungerechtes, völlig unterschiedliches System geschaffen. Nichts, was in der einen Anstalt des Landes verbindlich ist, gilt auch in der nächsten. Verbote in der einen sind Genehmigungen in der anderen und umgekehrt. Was in der einen Anstalt bei Tätern nach Landesvollzugsplan bis zu fünf Jahren und mehr (offene Zellen in Dieburg) geht und verantwortet werden kann, ist in einer anderen Anstalt (Gießen) mit Regelstrafen um die drei Monate „unmöglich”. Bei einem günstigeren Personalschlüssel als in Dieburg! Diese Zustände verstärken das Gefühl des Inhaftierten, und sicher auch des Personals über alle persönlichen Interessen hinaus, in einem völlig willkürlichen Apparat untergebracht zu sein. Daß das nicht gut ist, erübrigt sich zu sagen.
Seit der Amtsübernahme durch Herrn Dr. Günther (es ist mir gleich, welche Rückwirkungen diese Aussage erfahrungsgemäß hat) haben sich die Zustände unerträglich verschärft. Er trat sein Amt an in der offensichtlichen Absicht, „mehr” für die Sicherheit zu tun. Damit hat er die in Hessen bis dahin gültige Schaukeltaktik der Tröpfchenpolitik zerstört. Alles geriet ins Wanken und ist es heute noch. Mit der Hochzüchtung des — ja nicht neuen! warum zieht man so wenig Lehren aus der Geschichte, oder aus den Statistiken von Ländern, mit sogenanntem „hartem” Strafvollzug? — Sicherheitsdenkens wurden die Reaktionen aufgeschaukelt. In Butzbach wurde eine Vergitterung im ganzen Haus angebracht, die eindeutig Käfigcharakter hat. Sie gefährdet folgerichtig die Sicherheit. Selbst unter Adolf Hitler kam man in diesem Zuchthaus ohne diese Gitter aus, jetzt im Zeitalter der Humanität (?) wurden für einen sechsstelligen Betrag regelrechte Raubtier-Lauf-Käfige geschaffen. — Die Reaktion war meßbar. Es kam zu gesteigerter Aggressivität, zu vermehrten Schlägereien, auch mit Bediensteten, das vorläufige tragische Ende war der Tod des Anstaltsleiters. Alles dies ist aber noch kein Ende!
Ebenso in Schwalmstadt. Eine Anstalt, in der traditionell Schwerstkriminelle verwahrt werden, und in der der Vollzug immer absolut ruhig ablief. Die Gefangenen waren dort mit den Verhältnissen relativ zufrieden. Nie gab es dort Versuche des Ausbruches, zuletzt, wenn ich recht unterrichtet bin, Anfang der sechziger Jahre, und dann wieder eineinhalb Jahrzehnte nichts. Also ein die Regel bestätigender Ausnahmefall. Dann wurde Herr Wachter nach Schwalmstadt versetzt. Er verstärkte nahezu unverzüglich die „Sicherheitsvorkehrungen”. Ich könnte Ihnen Details berichten, verzichte jedoch darauf, weil ich denke, daß Sie über die offiziellen Dinge dieser Art besser unterrichtet sind, als ich es sein dürfte; zusätzlich verschärfte er die interne Gangart. Es gab vermehrt Hausstrafen, es wurden alte Vorschriften (es gibt ja leider bündelweise welche, die nur auf Eis gelegt werden …) mobilisiert, Anwälte angefeindet und durchsucht, Gefangene in schlimmer Weise unter Druck gesetzt, Urlaubswillkür getrieben unter Gefälligkeitsgesichtspunkten. Nicht umsonst hat sich, was heute auch vom Beirat gerne verschwiegen wird, auch der dortige Beirat sich noch vor nicht allzu langer Zeit — und berechtigt! — über die Verschärfungen beschwert. Das Klima war folgerichtig ein derartig aufgeheiztes, das solche Leute wie die defekten Männer, die — aus welchen Gründen auch immer — heute nicht mehr behandlungsfähig sind, zu solchen Entladungen motiviert.
Warum schreibe ich Ihnen das alles? Weil ich eine Hoffnung suche, daß man endlich auf den Weg der Vernunft zurückkehrt. Sicherheit im Vollzug gibt es nur dann, wenn der Vollzug endlich — die doch nun auch gesetzlich fixierte — Verpflichtung wahrnimmt und sozialisierend zu wirken beginnt. Bleibt die Frage des Wie!
Seit Jahren gibt es im Justizministerium gute Leute. Zum Beispiel den Staatssekretär Horst Werner und viele seiner Leute, Herrn Dr. Dahlke und viele andere. Aber trotzdem ist ganz und gar nicht zu leugnen, daß das, was an grundsätzlichem Wollen dort in den guten Köpfen vorhanden ist, hier in den Anstalten nicht ankommt. Sich einfach nicht umsetzen läßt. Es liegt an einem Grundmißverständnis. Ein Vollzug, der den Gefangenen als „Objekt” — als toten Gegenstand — „behandelt”, ist sinnlos. Abgesehen davon, daß er kostenmäßig nicht zu schaffen ist. Man müßte dann jedem Gefangenen ein Team von Psychiatern, Psychologen, Sozialarbeitern, Helfern aller Art zur Verfügung stellen. Ein absurder und lächerlicher Gedanke. — Sozialisierender Vollzug kann nur geschehen, indem man den Gefangenen Möglichkeiten gibt, die Interessen ihrer Minderheit selbst zu artikulieren, selbst für ihre Gruppe und deren Rechte zu kämpfen, sich selbst bewußt zu machen, wo die Mechanismen liegen, die das Versagen auslöst, sich selbst gemeinschaftliche Projekte baut, die sowohl im Gefängnis vorbereitet, als auch draußen selbst in der auffangenden Gruppe Möglichkeiten schafft. Alles dies geht ohne — oder zumindest durch wesentlich geringere Investitionen als derzeit. Die Aufgabe der Behörde — des Staates — kann nur sein, solche Eigeninitiative zu begleiten, von außen materielle Hilfe zu leisten, unter Umständen auch fachliche, aber ohne zu führen und zu dirigieren, sondern nur als partnerschaftlicher Helfer. Gefängnisse sind Sozialstationen, wenn sie einen Sinn haben sollen. Derzeit aber sind sie kostspielige Fabriken, in denen Feinde der Gesellschaft buchstäblich gezüchtet werden.
Nehmen Sie mich selbst als Beispiel. Alle meine Aktionen und Aktivitäten zielten darauf ab, ein solches Gefangenenbewußtsein zu bilden, jedem zu sagen, daß er einen Beitrag zu leisten hat und auch leisten kann. Krankhafte, wirklich Kriminelle gibt es in den Anstalten allenfalls zu fünf Prozent! Und auf alle meine Mühen und alles, was ich auch schon intern bereits erreicht habe, hat die Institution nur mit schärfsten Pressionen beantwortet, bei denen man sogar sich nicht zu klein war, den Kontakt zu meiner Familie seit Jahren als Druckmittel (wenn auch erfolglos, weil mir meine Aufgabe hier zu wichtig ist) einzusetzen. Sehen Sie, Herr Ministerpräsident, alles dies habe ich verstanden als eine Phase des Umlernens. Mir erscheint es auch heute noch nicht wichtig, was mit mir selbst geschieht, denn im Gegensatz zu meinen Leidensgenossen habe ich ja eine Aufgabe hier, lebe also erfüllt und sinnvoll. Aber wenn ich heute sehe, was geschieht, dann könnte ich weinen, denn alles, was in fast einem Jahrhundert an Winzigkeiten erreicht worden ist, ist gegenwärtig gefährdet. Gefährdet ohne Not, denn was derzeit in den Anstalten sich entwickelt, ist durch eine permanent verfehlte Politik der Halbheiten in dem Bereich Strafvollzug provoziert.
Mein Appell an Sie lautet deshalb: Sorgen Sie bitte für eine Beteiligung der Gefangenen an allen Belangen des Vollzuges. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, daß in nahezu jedem Gefangenen die Sehnsucht nach Integration in die Gesellschaft besteht. Aber solange er in einem Vollzug verwahrt wird, der das Begreifen des Lebens als Gemeinwesen unter Strafe stellt, bekämpft, diskriminiert, solange ihm jede Verantwortung und jede Eigeninitiative untersagt und abgenommen wird, solange muß der Entlassene ein Kastenangehöriger der Ausgestoßenen bleiben.
Es gibt viele Gefangene wie ich, die entschlossen sind, auch gegen Widerstände der Institution, endlich eine Chance für ihre Minderheit zu erkämpfen. Wenn Sie dies offiziell unterstützen würden, würden Sie zugleich den effektivsten Beitrag zum Sicherheitsproblem leisten. Denn sobald der Vollzug wirkliche Arbeit an uns und für uns und von uns ermöglicht, werden wir selbst dafür Sorge tragen, daß es keine Störungen gibt. Und sobald es hier wirklich einen Weg gibt, wird es auch den „sozialen Selbstmord”, der die Flucht bedeutet, nicht mehr geben. Zur Zeit sind Fluchtversuche doch in erster Linie Signale der Hoffnungslosigkeit. Es ist auch typisch für Butzbach und Schwalmstadt, daß solche furchtbare Ereignisse gerade dort geschehen sind. Wir bitten Sie inständig, hier einzugreifen. Sie sind ja ein Mann, bei dem sicher nicht das Gefühl besteht, man könne bei ihm durch „Wohlgefälligkeit” etwas erreichen. Ich weiß vielmehr, daß Sie sicher hier nur Dinge tun werden, die Sie auch selbst unterschreiben können. Hier liegen Sie in der Tradition sicher auf Karl August Zinns Ebene, der ja als ehemaliger Justizminister nie vergessen hat, welche Bedeutung der Strafvollzug für den Stand einer Gesellschaft überhaupt hat.
Mit der Einrichtung einer Gefangenenhilfe, mit einer Ausstattung einer solchen Organisation, würden Sie einen Bereich öffnen, der alles bedeuten kann, ohne etwas zu kosten. Ein Versuch, der nichts kostet, außer dem Stolz, der im Justizministerium festverwurzelt ist, daß Gefangene das Recht verwirkt haben, in sozialer Verantwortung für ihre Minderheit zu arbeiten.
In der Anlage übersende ich Ihnen auch eine Abschrift eines Schreibens an den hessischen Minister der Justiz. In jedem Fall darf an meiner Entschlossenheit, mich für uns alle gegen die Aufbereitung des Gespenstes „Sicherheit” oder „Resozialisierung” zur Wehr zu setzen, kein Zweifel bestehen. Ich fände es nur so viel sinnvoller, wenn hier endlich einmal auch offiziell das tatsächliche Problem angegangen werden würde.
Mit vorzüglicher Hochachtung                                 Michael Heise

Diesen Brief schrieb der Strafgefangene Michael Heise vor einiger Zeit an den hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner. Wir entnahmen den Text der Frankfurter Rundschau vom 30. August 1977.

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