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Aus der Geschichte der Selbst­zer­stö­rung des deutschen Libera­lismus

Ein Gedenkblatt zum 100. Geburtstag des Hauses Ullstein

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 24

(vg) In diesem Sommer beging das einstmals berühmte, heute zum Springer-Konzern gehörende Berliner Verlagshaus Ullstein seinen 100. Geburtstag. In zahlreichen Kommentaren und Festreden, so auch von Bundespräsident Scheel, wurde die liberale Tradition des alten Ullstein-Verlags gefeiert. In der Tat war die Ullstein-Presse nach 1918 ein Wortführer des deutschen Liberalismus. Vergessen wurde in jenen Gratulationen freilich die Spätzeit der Weimarer Republik. Schon Anfang der 30er Jahre hatte die Vossische Zeitung, „diese Bibel des deutschen Liberalismus, mit ihrem früheren Selbst kaum mehr als den Namen gemein”, wie Arthur Koestler, selbst damals Ullstein-Redakteur, im 1. Band seiner autobiographischen Schriften, „Frühe Empörung” (Wien, München, Zürich 1970), schreibt. — Aus einer zusammenhängenden Phase des Niedergangs dieser Liberalität ist folgender Vorgang, den Koestler schildert, besonders bezeichnend und nicht ohne gewisse Aktualität:

„Jahrelang hatte die Ullstein-Presse eine energische Kampagne gegen die Todesstrafe geführt. Als Korrespondent im Nahen Osten hatte ich mir große Mühe gegeben, Momentaufnahmen von Erhängungen zu beschaffen, um die grauenhafte Wirklichkeit hinter der theoretischen Polemik dem Leser vor Augen zu führen. Infolge der Opposition aller fortschrittlichen Kräfte gegen die Todesstrafe waren seit einigen Jahren keine Todesurteile mehr vollstreckt worden. Da trieb 1931 der Fall des homosexuellen Massenmörders Harmann die Kontroverse auf einen neuen Höhepunkt; er wurde zu einer moralischen Kraftprobe zwischen dem liberalen Humanismus und den andrängenden Kräften der Reaktion und Barbarei.
Grundsätzliche Fragen der Politik wurden im Ullstein-Haus vom sogenannten ,Fürstenrat` entschieden. Das war eine einmal wöchentlich stattfindende Konferenz, an der die Firmenchefs, die Chefredakteure der vier Tageszeitungen und deren Stellvertreter unter dem Vorsitz eines der Ullstein-Brüder teilnahmen. Ich war eine kurze Zeit lang stellvertretender Chef der ‚B.Z. am Mittag‘ und bei der Konferenz zugegen, in der beschlossen wurde, den Feldzug gegen die Hinrichtung Harmanns abzubrechen. Es ging ganz rasch und reibungslos. Der Verlagsdirektor führte aus, Harmann sei ein unsympathischer Charakter, und wenn wir für seine Begnadigung einträten, so würde das die Öffentlichkeit gegen uns aufbringen — ,was wir uns zur Zeit nicht leisten können‘. Da sich die meisten Redakteure in ihren Posten bereits damals nicht mehr sicher fühlten, gab es keinen einzigen Protest. Ich erinnere mich, daß ich vor mich hinmurmelte, nur wenige Mörder seien sympathische Charaktere — es war meine erste oder zweite Teilnahme am Fürstenrat —, aber mein Gemurmel wurde mit höflichem Schweigen übergangen. So wurde sang- und klanglos in wenigen Minuten eine Kampagne aufgegeben, die wir jahrelang aus tiefster Überzeugung geführt hatten. Es war das nur eine Kapitulation aus einer ganzen Serie, die aber um so auffälliger war, als sie keinen unmittelbaren Bezug auf politische Fragen hatte. Wir kapitulierten einfach vor der rapid wachsenden Brutalisierung der Masse. In der vergeblichen Hoffnung, die Gunst der Öffentlichkeit zu gewinnen, opferten wir unter dem Druck des Augenblicks unsere ganze fortschrittliche Rechtsphilosophie, wonach die Funktion der Justiz darin besteht, die Gesellschaft vor dem Verbrecher zu schützen, nicht aber ihn zu bestrafen. Da es sich um eine Frage der grundsätzlichen Ethik handelte, regte mich der Fall stärker auf, als es ein direkter politischer Verrat hätte tun können. Erschrocken entdeckte ich, daß die ,Fürsten`, diese Verkörperung der fortschrittlichen öffentlichen Meinung par excellence, weder Mut noch Überzeugung besaßen” (S 236/237).

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