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Die Diszi­pli­nie­rung der Körper oder: Eine Mikro­ana­lyse der Unter­wer­fung

vorgängevorgänge 2910/1977Seite 119-122

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 119-122

Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp-Verlag Frankfurt, suhrkamp-taschenbuch-wissenschaft Nr. 184, 1977, 396 Seiten, 16 DM.

Die Mittel, mit denen die menschliche Seele geknechtet worden ist, sind bekannt. Schon in der Kindheit werden die Triebregungen unterdrückt. Das Kind verinnerlicht die unterdrückende Macht — im Patriarchat ist es der Vater — als Gewissen und Über-Ich. So verstrickt sich der Mensch in die Pflicht. Er gehorcht dem, was ihm gewaltsam eingeimpft worden ist. Doch das Gewissen kann starr, eigensinnig, „gewissenhaft” werden. Es kann sich selbst zu einer bestimmenden Kraft entwickeln und sich gegen äußere Zumutungen abschirmen. Nur im Ursprung Befehlsempfänger, macht sich das Gewissen selbständig und nimmt keine Befehle mehr an. Der Mensch läuft an der Leine, aber an einer langen.
Der Weg, den Menschen an der kurzen Leine zu halten, führt nicht über die Seele, sondern über seinen Körper. Wer den Körper befehligen und lenken kann, braucht den Umweg über die Seele nicht zu gehen. Dies systematisch dargelegt zu haben, ist das Verdienst von Michel Foucault.
Foucault erzählt die Geschichte der Unterwerfung des menschlichen Körpers durch die Machtmittel der Neuzeit. Es ist eine Geschichte der Erfindung unauffälliger Methoden der Beeinflussung und Aushorchung, die durch ihre Unscheinbarkeit und Selbstverständlichkeit der gesellschaftlichen Kontrolle und der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit entgehen, aber durch ihre Vielschichtigkeit und Allgegenwart zu einem Netz zusammenwachsen, das das gesamte Leben umspannt und die Rechtsordnung unterläuft. Als letzte Konsequenz dieser Disziplinierung — so nennt Foucault das — entsteht das panoptische Gefängnis, das System der totalen Kontrolle. Das Gefängnis ist ein Werk der Disziplinierungsgesellschaft und nicht der Justiz.
Die mittelalterliche Justiz benutzte den Körper des Verurteilten, um die Macht des Königs vor Augen zu führen. Deshalb waren die Hinrichtungen öffentlich. Die Justizgewalt erlegte Martern auf, die Tod und Schmerz vervielfachten oder für immer brandmarkten. Schmerzen wurden zugeteilt wie heute die Zeit der Freiheitsstrafe. Der Körper des — oft erst nach Folter — geständigen, öffentlich abbittenden Verurteilten wurde dadurch selbst zum Zeugen seiner Tat und Beweis der Wahrheit des Urteils. Die Gräßlichkeit der Strafe wieder-holte die Gräßlichkeit der Tat und machte sie damit zunichte; oft wurde mit der Hinrichtung die Tat nachgeahmt, etwa am Tatort oder mit den Tatwerkzeugen. Stets blieb ein Moment der Spannung bestehen: leistet der Verurteilte wirklich Abbitte oder flucht er seinen Richtern? Diese Justizgewalt, so grausam sie war, war ohne Perfektion — erst die reibungslose Hinrichtung war der allerletzte Schuldbeweis. Mißglückte sie, konnte der Verurteilte freikommen und der Henker bestraft werden. Oft empörte sich das Volk über ungeschickte Scharfrichter. Mittelalterliche Hinrichtungen waren blutig und schaurig, aber lebendig und im Ausgang offen, sie ließen den Verurteilten nie ganz ohne Hoffnung. Sie waren ein Drama mit vielen Möglichkeiten und kein unentrinnbarer Ablauf.
Diese Justizgewalt scheiterte an den Konflikten, die sie erzeugte. An Hinrichtungstagen ruhte die Arbeit und wuchs das Verbrechen, das Volk solidarisierte und sympathisierte mit den Verurteilten — die Unterdrückung dieser Solidarität war das erste Ziel aller künftigen Justizpolitik. Unter der Fahne der Aufklärung und dem Mantel von Milde und Menschlichkeit trat die Reformbewegung — in Frankreich schon im 18. Jahrhundert (unter den Aufklärern war ein gewisser J.P. Marat) — gegen die Justiz der Martem an. Die Zeit der Strafgesetzbücher kündigt sich an, die die Strafbarkeit und die Strafe festlegen. Die Justiz hat die Rechte des Verfolgten zu wahren. Die Zeit als Straffaktor erlaubt eine Anpassung der Strafe an die Schwere der Schuld. Ein neues Tat-Strafe-Verhältnis schwebt vor: die Strafe als Naturgegebenheit und absolute Gewißheit.
Tatsächlich dienten die Gesetzbücher weniger dem Schutz der Unschuldigen als der Erfassung aller Schuldigen. Nicht Menschlichkeit, sondern mehr Wirksamkeit war die Reformkraft. Nicht Mitleid mit den Verurteilten, sondern Rücksicht auf die Empfindsamkeit der Zuschauer beseitigte die Marter. Nicht Freiheit für die Bürger, sondern Überwachung durch den neuen Polizeiapparat und Einbläuung der gesetzlichen Vorschriften mit allen Mitteln war das Ziel. Jeder Bürger sollte jederzeit das Strafgesetz und die Folgen seiner Übertretung vor Augen haben. Die Gesetze werden zum öffentlichen Buch. Die Verurteilten verrichten öffentlich Zwangsarbeit und halten durch ihr sichtbares Schicksal die anderen vom Verbrechen ab. Die Strafe wird vom Drama zum Lehrstück. Der Straftäter ist nicht mehr der Feind des Königs, sondern Feind der Gesellschaft.
Die mittelalterliche Justiz beweist am Körper des Verurteilten ihre Macht, die aufgeklärte Justiz benutzt ihn öffentlich als Lehrbeispiel –: das Gefängnis begräbt ihn hinter einer Mauer des Schweigens: wie konnte diese neue, dem Geist der Justiz fremde Einrichtung in kurzer Zeit einen solchen Siegeszug antreten, daß die Freiheitsstrafe alle anderen Strafen praktisch verdrängte? Foucault zählt dafür eine Reihe von Gründen auf.
Das Gefängnis konnte erprobte Modelle anbieten. In Amsterdam, Gent, England und Philadelphia waren Gefängnisse betrieben worden. Sie nahmen den Verurteilten körperlich in Besitz, unterwarfen ihn einer vierundzwanzigstündigen Bevorschriftung und zwangen ihn zur Arbeit. Sie sperrten ihn in die Einzelzelle und warfen ihn auf sich selbst zurück. Durch die Arbeit sollte der Fleiß, durch die Einsamkeit das Gewissen geweckt werden: der Gefangene wurde Gegenstand einer Bearbeitung. Diese benutzt seinen Körper als Mittel, während die Justiz der Aufklärung sich an seine Einsicht gewendet hatte. Dadurch daß der Körper unrettbar eingespannt ist in ein umfassendes Netz disziplinarischer Kontrolle und Weisungsmacht, wird er bearbeitbar und kann nach den Wünschen der Gewalthaber geformt werden.
Dies paßte – wie Foucault im Hauptteil des Buchs zeigt – haargenau in den Zug der Zeit. Die Neuzeit entwickelte neue Herrschaftsmittel. Sie verfeinert die Herrschaft zu einem Mikrogefüge der Macht. Die Körper werden nicht nur unterworfen und ab-gerichtet, sondern nutzbar und tauglich gemacht. In der Armee wurde der blind gehorchende Soldat, in der Schule der fleißige und gelehrige Schüler, in der Werkstatt der funktionierende Arbeiter und im Krankenhaus (Spital) der kontrollierte Patient herangebildet. Der menschliche Automat erscheint als Leitbild. Der Körper wird in eine Machtmaschinerie eingebaut, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Die Mittel, die dazu benutzt werden, sind nicht mehr die alte Macht in ihrer Darbietung von Großartigkeit, sondern kleine Hinterlistigkeiten, subtile Maßnahmen und Zwänge ohne Größe – die Macht spaltet sich in unendlich kleine Teile auf, diese aber sind allgegenwärtig. Die Disziplin ist eine Reglementierung der Kleinigkeiten, sie hat ihre Vorläufer in den strengen Regeln religiöser Orden, aber sie zeugt in Kaserne, Schule, Werkstatt (Fabrik), Heim und Krankenhaus weltliche Ableger mit politischer, ökonomischer oder technischer Rationalität.
Die Reglementierung beginnt mit der Verteilung der Menschen im Raum. Die zu disziplinierende Menge wird in eine Klausur eingeschlossen, dort werden den Einzelnen Standorte zugewiesen und später Funktionsstellen. Armee, Schule, Werkstatt und Krankenhaus haben jede ihre zweckgerechte Raumordnung. Ist diese erst errichtet, so ist der Einzelne nicht nur im Netz der Kontrollen und Funktionszwänge verfangen, er ist auch als Individuum nicht mehr durch seine Person, sondern durch seinen Platz bestimmt.
Nach dem Raum wird die Zeit eingeteilt. Das große Vorbild der Ordensregeln wird fortentwickelt. In der Schule wird die Zeit auf Minuten, in Armee und Fabrik auf Sekunden genau verplant. Gesten und Bewegungen werden in Bestandteile zerlegt, deren Abläufe detailliert vorgeschrieben. Die Zeit durchdringt den Körper und macht ihn zum Instrument und zur Wirkungseinheit mit Waffe, Werkzeug oder Maschine. Ziel ist die bestmögliche Ausnutzung.
Ist die Zeit in Grundeinheiten aufgeteilt, so können über längere Zeiträume Entwicklungen geplant und gesteuert werden. Die Zeiträume werden in Abschnitte unterteilt, jeder Abschnitt wird mit einem Ziel versehen. Den Zielen werden die Menschen in Klassen oder Rängen zugeordnet, dadurch werden sie in Zeitreihen eingespannt. Diese Praxis greift von der Armee auf die Schule über. Sie erlaubt die Kontrolle des Fortschreitens des Einzelnen durch Beurteilung. Die Zeit wird Fortschritt, die Dynastik Dynamik.
Wenn man Raum, Zeit und Zeitraum einzeln fest im Griff hat, kann man aus diesen Einzelteilen das Gewünschte zusammensetzen: die manövrierende Truppe, die produktive Werkstatt oder den Lernapparat Schule. Die Einheiten verschmelzen zu einer vielgliedrigen Maschine, von der der Einzelne ein auswechselbares Teil ist. Die Zeiten der Einzelnen fügen sich nahtlos zur Arbeitseinheit zusammen. Befehle werden nicht verstanden, sondern befolgt, sie werden auf Signale vereinfacht, die Reflexe auslösen. Der so laufende Apparat ist die höchste Stufe der Disziplinierungsgewalt. Er wird inganggehalten durch pausenlose Überwachung (Kontrolle), Sanktionierend und Prüfung, den drei Wächtern der Disziplin.
Die Überwachung baut auf der Raumordnung und der von ihr bestimmten Architektur auf. Übersichtliche Anordnung ist schon Überwachung. Kasernen, Schulen, Fabriken und Büros drückt die Überwachung ihre Baubedingungen auf. Kein Augenblick darf der Beobachtung entgehen. Die Überwachung wird aufgeteilt auf mittlere und untere Instanzen, zuletzt beobachtet jeder jeden.
Die Sanktion erfaßt den justizfreien Raum, sie ahndet nicht Gesetzesverstöße, sondern Abweichungen vom Normalen: Verletzungen des Reglements, Verspätungen, Nachlässigkeiten, aber auch viel allgemeiner Abweichungen von ungeschriebenen Regeln, also Nichtkonformität. Sanktion ist eine niedere Einstufung in der Schichtung der Klassen und Ränge (so gab es an Militärschulen Ehrenklassen und Schandklassen). Die Sichtbarkeit der Schichtung macht die Sanktion unausweichlich und die Normalität zum Zwang, die Normalitätsbestimmung zum Machtmittel.
Die Prüfung faßt Sanktion und Überwachung zusammen. In der Prüfung unterwirft sich der Prüfling der Macht: er bietet sich ihr als Wissensgegenstand an. Im Krankenhaus häuft die Visite, in der Schule das Zeugnis Wissensstoff über den Geprüften an. Er wird durch die Prüfung sichtbar, während der Prüfer unsichtbar wird; die Militärparade ist Leitbild. Das in der Prüfung erlangte Wissen wird aufgezeichnet und ist in Registern und Archiven verfügbar. Der Mensch wird beschreib- und analysierbar. Hier sieht Foucault den Geburtsort der Humanwissenschaften. Der Mensch wird in den Aufzeichnungen zu einem Fall, der eingeordnet und ausgewertet wird. Je schwächer der Mensch ist, desto mehr wird er beurteilt und registriert: Kinder mehr als Erwachsene, Kranke mehr als Gesunde. Die Macht hat eine Technik entwickelt, mit der sie den Menschen als Wissens- und Nutzungsgegenstand herstellen kann.
Im Panoptismus als Herrschaftstechnik versucht die Disziplin sich über die Disziplinierungsinstitutionen hinaus auf die Gesellschaft auszuweiten. In Quarantänemaßnahmen zur Pestbekämpfung, also in Ausnahmezuständen, gelingt ihr das zeitweise total (deshalb erklären die Machthaber so gern übergesetzliche Notstände und dergleichen). Die Maßnahmen verwalten die Pestkranken, während früher die Aussätzigen ausgestoßen wurden. Der Ausstoßung bleibt aber daneben bestehen. Im Panoptikum Benthams, einem durchsichtigen Rundbau mit optischer Zentrale, dessen Ideen in viele Bauten eingehen, nimmt der Panoptismus architektonische Gestalt an — die Insassen werden automatisch zu wehrlosen Objekten. Andere Aufsichtsinstanzen tragen ihn weiter: Eltern, Wohltätigkeitsvereine und Pfarrer.
Aber erst die Polizei als zentraler staatlicher Apparat kann die Gesellschaft gleichmäßig disziplinieren. Die Polizei wird zum allessehenden Auge mit Allzuständigkeit, sie verschafft Übersicht über das Ganze. Sie macht die Justiz zu ihrem Anhängsel. Die Disziplinierungsgewalt kann, weil sie tatbestandlich kaum faßbar ist, Rechte zunichtemachen und die Rechtsordnung mattsetzen. Gegenüber den Realitäten, die sie schafft, ist die Annahme gleicher Bedingungen, die die Rechtsordnung trifft, eine traurige Fiktion, wie etwa das Arbeitsrecht und das Gefängnisrecht (Strafvollzugsgesetz!) zeigen.
Disziplinierung also als Humantechnologie unter Einbeziehung der Humanwissenschaften ist das Herrschaftsmittel des neuzeitlichen Staats: wie sollte da nicht das Gefängnis Karriere machen, das den Panoptismus zur Höchstleistung steigert und den Menschen vierundzwanzig Stunden einspannt, um ihn zu bearbeiten, zu erziehen, zu bessern und zu bekehren: zu resozialisieren, wie wir heute sagen? Das Gefängnis ist so sehr die Quintessenz der Gesellschaft, daß es beibehalten wird, obwohl es die versprochene Leistung — Besserung der Gefangenen — nicht erbringt, sondern im Gegenteil Verbrechen erzeugt und nur Ausstoßung bewirkt. Schon vor hundert Jahren wurden in Frankreich alle Argumente wider das Gefängnis vorgebracht — sogar in Parlamentsdebatten — die wir in Deutschland erst in diesem Jahrhundert in den zwanziger und seit den sechziger Jahren gehört haben. Ein französisches Reformprogramm von 1945 entspricht fast wörtlich Forderungen, die hundert und mehr Jahre alt sind. Foucault macht sich den Spaß, das Satz für Satz zu belegen.
Die Gründe, mit denen er diesen Widersinn erklärt, bleiben blaß. Er sieht darin eine Verwaltung der Kriminalität, die sie zur Delinquenz organisiert, die sich leicht kontrollieren und stellvertretend für andere Gesetzeswidrigkeiten hervorholen und öffentlich abwerten läßt. Das kommt der Stabilität des Herrschaftssystems zugute und sichert Polizei und Gefängnis ihre Aufgaben.
Da Foucault psychische Vorgänge nicht einbezieht, entgeht ihm, daß die Verwaltung der Delinquenz durch ihre Darstellung in den Medien das seelische Gleichgewicht der unterdrückten Menschen erhält, indem sie ihnen unbewußte Tatphantasien und Selbstbestrafungen sowie lautstarke Entrüstungs- und Aggressionserlebnisse beschert. Hauptsächlich daher bezieht der bestehende Zustand, der seinen Angelpunkt im Gefängnis hat, seine Energien. Auch bei den Disziplinierungsmitteln wäre es aufschlußreich gewesen zu hören, wieweit diese aufbauen auf oder abgesichert sind durch Autoritätsgestalten wie Vaterbilder oder dergleichen; zu den Sanktionen gehören auch Schuld- und Verlassenheitsängste. Diese Anfragen beeinträchtigen aber nicht die Faszination, die von Foucaults neuer Perspektive ausgeht.

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