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Zum Behand­lungs­auf­trag des Straf­voll­zugs­ge­setzes

Wohngruppen in konventionellen Strafanstalten — Reformabsicht oder Fassaden-Kosmetik?

aus: vorgänge Nr. 29 (Heft 5/1977), S. 106-111

Das neue Straf­voll­zugs­ge­setz zeigt sich als konse­quenter Ausdruck eines Dilemmas: es will von Bestrafung nicht lassen, Behandlung aber auch nicht länger verweigern. Anstelle von „Sozi­al­the­rapie statt Straf­vollzug” ermöglicht es allenfalls „Sozi­al­the­rapie im Straf­vollzug”. Wie weit das Möglich­keiten für einen Behand­lungs­vollzug eröffnet, untersucht Manfred Schul­te-Al­te­dor­ne­burg, der sich mit diesen Fragen nicht nur wissen­schaft­lich beschäftigt, sondern auch ihnen als Sozia­l­a­r­beiter in einer Justiz­voll­zugs­an­stalt praktisch konfron­tiert ist.

1.
Der gute Zweck der Strafe ist nachwievor im öffentlichen Bewußtsein kaum umstritten – der Sinn einer helfenden Behandlung von Strafgefangenen dagegen allemal. Eine nützliche Wirkung des Freiheitsentzuges wird in der wissenschaftlich-theoretischen Diskussion verschiedener Disziplinen seit langem und immer häufiger angezweifelt [1] – die Dringlichkeit einer personadäquaten Behandlung von Straftätern scheint an gleicher Stelle unumstritten (wenn auch die Methodenforschung hier noch ganz in den Anfängen steckt) [2]. Das neue Strafvollzugsgesetz (StVollzG) erweist sich als konsequenter Ausdruck dieses Dilemmas, indem es von Bestrafung nicht läßt und Behandlung nicht länger verweigert; indem es über die Strafzwecke schamhaft sich ausschweigt und über das Behandlungsziel nur die allgemeinste Aussage macht: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel)” ( § 2). „Behandeln” wird das bisherige Bestrafen nicht ersetzen. Der Strafvollzug konventionellen Typs hat hinter dem neuen Etikett des „Behandlungsvollzuges” aller Reformeuphorie getrotzt: „Sozialtherapie im Strafvollzug“ [3] lautet das Anstaltsprogramm für das kommende Jahrhundert.

2.
Nach dem Willen des Gesetzgebers ist „eine auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Gefangenen abgestimmte Behandlung” zu gewährleisten ( § 141), indem durch Differenzierung der Vollzugsanstalten und -abteilungen „die Gefangenen in überschaubaren Betreuungs- und Behandlungsgruppen zusammengefaßt werden können” ( § 143). Zum Zweck der „planvollen Behandlung des Gefangenen im Vollzuge” ist eine „Behandlungsuntersuchung” zwingend vorgeschrieben ( § 6), nach deren Ergebnissen der Anstaltsleiter in Konferenz mit den „an der Behandlung maßgeblich Beteiligten” ( § 159) die Gefangenen verschiedenen „Wohngruppen und Behandlungsgruppen” als eine unter mehreren genannten Behandlungsmaßnahmen zuweist ( § 7). „Die Planung der Behandlung wird mit dem Gefangenen erörtert” ( § 6), er „wirkt an der Gestaltung seiner Behandlung mit” ( § 4). Zur Gewährleistung einer planvollen Behandlung sind unter anderem die Ruhe-, Freizeit-, Gemeinschafts- und Besuchsräume wohnlich und zweckentsprechend auszugestalten ( § 144) und „das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich” anzugleichen ( § 3).
Diesen Möglichkeiten werden durch das gleiche Gesetz realiter enge Grenzen gezogen. So weitherzig sich der Gesetzestext im Hinblick auf denkbare Behandlungsorganisationen und Therapiemethoden auch gibt [4], dem Rückzug auf althergebrachte Knaststrukturen steht Tür und Tor ebenso offen. Jede Anstalt hat gemäß ihren räumlichen und personellen Gegebenheiten ihre eigenen Organisationsstatute und Wohngruppenformen zu entwickeln, mit unterschiedlichen Behandlungskonzepten kann allenthalben experimentiert werden. Dessen ungeachtet ist es andererseits ebenso möglich (und wahrscheinlich), hauptgleisig in alten Bahnen weiterzufahren. Alte Schlüssel- und Verwahr-Experten können unmöglich zwingend auf Umdenken und Veränderung festgelegt werden. Der Behandlungsauftrag wird einer normativ bestätigten kustodialen Anstaltsverfassung übergestülpt. Allgemeinste Behandlungsaspekte und differenzierte Sicherheits- und Ordnungsbestimmungen stehen unvermittelt nebeneinander, das dichotome Wechselverhältnis von Behandlung und Bestrafung bleibt undefiniert. Um eine planvolle Behandlung zu fördern, ist beispielsweise die Kommunikation nach außen, sind die Bestimmungen über Besuche, Schriftwechsel und Ferngespräche liberalisiert; mit dem beliebig ausfüllbaren Vorbehalt der möglichen Gefährdung von Sicherheit und Ordnung können alle Zuwendungen wieder eingesammelt werden ( § § 24ff). Zwar öffnen sich Spielräume für Versuche mit moderneren, angemesseneren Reaktionsformen, nichts macht aber die allmähliche Überwindung eingefleischter Strafverhaltens-Muster unausweichlich. Eine konservative und eine behandlungsfreudige Vollzugspraxis sieht sich durch dieses Gesetz gleichermaßen legitimiert [5].
Zudem: Die reformorientierte Diskussion über Strafvollzug ist gelaufen, sozialtherapeutische Behandlung von Strafgefangenen längst kein Thema mehr, das noch neue Hoffnungen weckt. Kein Justizminister wird in gemeinsamer Front mit (ohnehin wenig) reformoptimistischen Vollzugsämtern und Vollzugsbeamtenverbänden gegen die öffentliche Meinung bei Parlamenten und Finanzministern nennenswerte Sonderetats zu diesem Zweck herausschlagen können. Unter den gegebenen konjunkturellen und kriminalpolitischen Bedingungen versprechen eher Gegenaktionen wieder Erfolg. Nein, der Zug der Strafvollzugsreform ist in gesetzgeberischer und fiskalischer Richtung längst abgefahren.

3.
Die Ausgangssituation für die Behandlungsorganisation ist diese: In Umsetzung des Gesetzesauftrages in die Vollzugspraxis sind zwei fundamentale Widersprüche als die Grundbedingungen realitätsgerechter Disposition und Erfolgseinschätzung in Rechnung zu stellen, nämlich:
1. Die innere (normative) Antinomie von Bestrafung und Behandlung als der primäre Zielkonflikt des zukünftigen Strafvollzuges [6]. Im § 4 StVollzG schlägt das schlechte Gewissen des Gesetzgebers durch, ist die innere Unvereinbarkeit deutlich genug auf den Begriff gebracht: Unter den vorgesehenen” (überlieferten) Beschränkungen seiner Freiheit aus Gründen der Sicherheit und Ordnung soll der Gefangene „bereit” sein, an der Gestaltung seiner Behandlung mitzuwirken. Der Gefangene als Mitverwalter seiner Unfreiheit. Sozialisation unter antisozialen Bedingungen.
2. Die äußere (materielle) Antinomie von Behandlungsanspruch und Behandlungsaufwand als der Ziel-Mittel-Konflikt des Strafvollzugs. Das Behandlungsziel (s.o.) kann grundsätzlich nur unter den Bedingungen finanzieller und personeller Knappheit angegangen werden:

Behandlung

  • ohne personellen Mehraufwand, also ohne zusätzliches und/oder mit zusätzlicher Ausbildung versehenes therapeutisches Personal;
  • ohne wesentliche Geldmittel, beispielsweise für Umbau- und Ausstattungsmaßnahmen;
  • ohne die Aufgabe einer nennenswerten Anzahl von Haftplätzen für zusätzliche Funktionsräume, die Gruppenleben erst ermöglichen [7].

Der Gefangene bleibt „Gefangener”. Sozialisierung unter den Bedingungen gesellschaftlicher Armut.
Diese gesellschaftspolitisch bedingten Unvereinbarkeiten einer in den ersten Ansätzen steckengebliebenen, halbherzigen Reform werden den Strafvollzug prägen, die Anstaltsatmosphäre entscheidend bestimmen, die engen Grenzmarkierungen für faktische Behandlungschancen setzen. Ungeachtet aller scheinbaren experimentellen Großzügigkeiten des Gesetzes werden sie als Systemkonstanten sich in kennzeichnenden Strukturproblemen niederschlagen, die (im Überblick) sich kristallisieren im

  • „Inselcharakter” der Wohngruppen und Behandlungsgruppen infolge der personell und finanziell bedingten Maßnahme-Einschränkungen mit den daraus zwangsläufig erwachsenden Konflikten im sozialen System Strafanstalt; korrespondierend damit im
  • Exponenten- und Isolationsschicksal der behandlungsorientiert arbeitenden Fachdienste und Vollzugsbeamten infolge des gesetzlich festgeschriebenen und Zweigleisigkeit provozierenden Zielkonfliktes mit den damit heraufziehenden Gefahren der Diskriminierung und alsbaldigen Frustration und des jede Behandlungsausrichtung abwürgenden Assimilationsdrucks; beides zusammen erweitert die ohnehin vorhandene
  • Motivationslücke bei den Gefangenen, die, bedingt durch die zwangsläufige Bescheidenheit des Behandlungsansatzes einerseits, die Beibehaltung kustodialer Bestrafverhaltens-Muster im Anstaltsbereich andererseits, ihrerseits konsequente Rückzugsmentalitäten nicht ablegen und sich nur zum Schein und um vordergründiger Erleichterungen willen auf Behandlungsvollzug einlassen.

4.
Da aus besagten Gründen konventionelle Strafanstalten nicht als ganze nach therapeutischen Gesichtspunkten umgestaltet werden sollen, gilt es, Teilbereiche herauszutrennen und als besondere, vom übrigen Anstaltsbereich separierte Wohngruppeneinheiten zu installieren. Hinter der als sinnvolle therapeutische Konzeption verkauften inneren Differenzierung und Gliederung verbirgt sich neben Reformkleinmut auch ein gerütteltes Maß soziologischer und psychologischer Unbedarftheit.
Zunächst aber fordert der architektonische Part bei den gegebenen Bausubstanzen ein schier unerbringliches Maß an Phantasie. Jetzt stehen über Jahrzehnte erfahrene Vollzugsexperten ganz ratlos vor dem Problem, wie denn in diesen riesigen, drei- bis vierstöckigen Kreuzbauten aus der Jahrhundertwende mit ihren langen, engen Innengängen, ihren endlosen Zellenreihen, ihren etagenfreien Durchblicken vom Erdgeschoß zum Glasdachgiebel, die eben nach den Gesichtspunkten der allseitigen Einsehbarkeit und Kontrollierbarkeit vieler Menschen durch wenige Menschen auf engstem Raum konzipiert wurden — wie denn hier in sich geschlossene und zum Anstaltsumfeld hin erträglich, d.h. sicht- und schallbehindernd abtrennbare Wohneinheiten geschaffen werden könnten.
Nie verlieren Sicherheits- und Ordnungsaspekte ihre Dominanz. Erst mit Reverenz und Konzessionen in diese Richtung können therapeutische Momente überhaupt zum Tragen kommen. Ein-und Abgrenzung in Kleingruppen bedeutet zunächsteinmal zusätzliche Einschränkung durch Unterbindung anstaltsumfassender Kontakte, durch Verhinderung gruppenübergreifender Kommunikation. Wohngruppen unter Abschluß nach außen bedeuten unter den Bedingungen gruppen- und kontaktfördernder Zellenöffnung auch bessere Kontrollierbarkeit durch überschaubare Parzellierung. Wohngruppenvollzug bedingt vorallem aber Ausgrenzung und Abschluß besonderer „Risikofälle”, „Gruppenunfähiger” und „-unwilliger” in geschlossenen Beobachtungs- und Sicherungsabteilungen [8]. Erst dann können die Zellen geöffnet, dichtere Kontakte untereinander und zu Bezugspersonen des Vollzugsdienstes erlaubt werden, darf sich Gruppenbildung und therapeutisches Milieu mühsam genug entfalten.
Diese Vorteile bleiben dem Gros der Anstaltsinsassen ohnehin vorenthalten. Das Gesetz unterscheidet Wohngruppen, Betreuungsgruppen und Behandlungsgruppen. Letztere können wohngruppen-übergreifend nach Behandlungsgesichtspunkten zusammengefaßt werden. Während die Betreungsgruppen die beiweitem mehrheitliche Restkategorie bilden werden, für die alles beim alten bleibt, weil sich bezüglich der Gemeinsamkeit eines Betreuers, eines Aufenthaltsraumes oder Gebäudeabschnitts lediglich ein besseres Etikett findet, konzentrieren sich die knappen Behandlungs-Ressourcen in der Praxis wohl auf Behandlungs-Wohngruppen, in denen das gemeinsame, ständige Miteinanderleben als (wahrscheinlich oft einzige) Behandlungsmaßnahme therapeutisch ausgebeutet werden soll.
Die vordergründig schnell einleuchtende Konzeption ist nicht ohne organisationssoziologische und -psychologische Problematik. Sie hat tiefgreifende Folgen für die Norm-, Wert- und Kommunikationsstrukturen im gesamten Anstaltsbereich. Was anders sein und anders funktionieren will und soll, wird von außen mit differenten Werturteilen belegt. Da begrenzte Andersartigkeit und begrenzte „Einsehbarkeit” (im visuellen und intellektuellen Sinn) aber untereinander korrespondieren, wird anderes von anderem mit Vorurteilen belegt. Aus der angestrebten Inselhaftigkeit der Bau- und Organisationsstrukturen entwickelt sich mit fast sturer Gesetzmäßigkeit die alles andere als erwünschte Einsamkeit der Inselverwalter. Für die Betreuer der Wohngruppe wächst sich diese aus zum geschlossenen System im geschlossenen System; für die Bewohner kann sie zur „Kiste in der Kiste” werden.

5.
Die Rollenkonflikte des konventionellen Vollzugs-und Aufsichtsdienstes sind auch ohne Wohngruppen-Engagement schon groß genug [9]. Der Anstaltsalltag ist durch ein enges Netz von Sicherheits-, Ordnungs- und Gehorsamsregeln gekennzeichnet, deren Durchsetzung das Personal nur mit einem Distanzverhalten gegenüber den Gefangenen sicherzustellen vermag. Anderseits kann auch ein auf Zwang gegründetes Herrschaftssystem seine Stabilität letztlich nur mit dem Einverständnis der Beherrschten gewährleisten. Soll „der Betrieb reibungslos funktionieren” und der Gefangene „mitziehen”, so verlangt das permanent kleine Zugest´¤ndnisse und Vergünstigungen, ein fast alltägliches „Durch-die-Finger-Sehen” des Vollzugspersonals. Sowohl der mit dem funktionalen Distanzverhalten heraufbeschworene Mechanismus beiderseitiger Stereotypenbildung als letztlich auch die durch die systemimmanente Illegalität bedingte Tendenz zur „Korruption der Autorität” schaffen Kommunikationsbarrieren zwischen Stab und Insassen, die jeden positiven Sozialisierungseinfluß abdämmen.
Nichtallein aufgrund des ungleichgewichtigen Sanktionspotentials seiner Bezugsgruppen (hie Vorgesetzte und Anstaltsleitung, da Gefangene) zieht sich der Beamte leicht auf die traditionelle kustodiale Rolle zurück. Durch Ausbildung, Fortbildung und unmittelbare Durchführungsanweisungen von oben ist die Arbeitsorientierung primär auf diese Rolle hin angelegt. Aufstieg läßt sich vermeintlich eher durch Regelanpassung sichern, da die Amtspflichten in Aufsichtsfunktionen weitgehend formalisiert und fixiert, darum in ihrer Einhaltung leicht kontrollierbar sind. Behandlungs- und Sozialisierungsmaximen dagegen bleiben vage, in ihrer Wirkung wenig eindeutig, in ihren Erfolgschancen umstritten und schwer nachweisbar. Außerdem teilen Vollzugsbedienstete in ihrer Mehrzahl die Vorurteile der Gesellschaft und können schon aus diesem Grunde schwer das Distanzverhalten durch Vertrauensverhalten gegenüber den Gefangenen ersetzen.
Die Beamten der zukünftigen Behandlungs-Wohngruppen –, vonanfangan in der Minderzahl, durch das Fehlen entsprechend qualifizierender Ausbildung und durch unzulängliche Definierbarkeit ihrer neuen Pflichten vonvornherein nachhaltig verunsichert, mit dem vagen Versprechen der Nachbildung mühsam ermutigt und mit dem für diesen Umschulungsberuf typischen Verlangen nach sozialer Absicherung ohnehin für nochmalige Weiterbildung und Veränderung schwer motivier-bar, zudem durch den niedrigen sozialen Status mit geringem Selbstwertgefühl belastet [10] – werden nur zögernd und primär mit der Hoffnung auf schnelle Beförderung und eventuelle Vermehrung des sozialen Ansehens sich auf die neue Aufgabe einlassen. Müssen ihnen im ersten Schritt der Vorbereitung die Dringlichkeit des Umdenkens und der Sinnzusammenhang veränderter Vollzugsmaximen verdeutlicht werden, indem sie unvermeidlich mit einer ungeschminkten Analyse des sozialen Systems StrafanstaIt konfrontiert werden, so verspricht das bei gutem Willen zwar durchaus Überzeugungserfolge, wird sie aber realiter erst recht in den Grundkonflikt zwischen kustodialen und therapeutischen Verhaltensmustern stürzen.
Auf sie fällt jetzt der negative Statusabglanz der Fachdienste, mit denen sie überwiegend zusammenarbeiten, was ihnen unter den Kollegen die Stellung der Außenseiter, die Erfahrung wenigstens heimlicher Bespöttelung und die Gefühle des Isoliert- und Verlassenseins einbringt. Im besseren Falle richtet sich gesteigerter Erfolgszwang und entsprechender Erwartungsdruck, im schlechteren Fall die Prophezeiung und das Herbeireden des Irrtums und Scheiterns auf die „Taschenpsychologen” und „Dachdecker” der Behandlungsabteilung. Der Wunsch, sich auf feste Behandlungsregeln und -schemata stützen zu können, ist vonanfangan dringlich, kann jedoch nicht erfüllt werden. Die bestehenden Orientierungskonflikte sind nicht mehr durch Rückzug auf sichere Normen abzudrängen, sie kulminieren in der eigenen Person. Versuchung und Druck, zu resignieren, sich wieder in den alten Trott und Troß einzugliedern, sind riesengroß [11].
Dabei wären eine optimistische Grundhaltung, Vertrauen und Offenheit gegenüber den Gefangenen und emotionale Stabilität der eigenen Psyche die unabdingbaren Voraussetzungen eines auch nur bescheidenen Behandlungsansatzes. Dieser kann sich unter den gegebenen Verhältnissen keineswegs darauf richten, die kriminellem Verhalten allenthalben zugrundeliegenden Basisdefizite der Persönlichkeitsentwicklung anzugehen. Sie sind vielmehr „nur” auf die Beseitigung zusätzlich krankmachender Haftbedingungen zu konzentrieren, gegen die Einflüsse der Entsozialisierung im Knast, die auf der Unterdrückung aller Bedürfnisse und Regungen gründet, die die Selbstentfaltung und Selbstbehauptung im zivilen Leben aus-machen.
Wenn Sozialisierung die Anpassung an die Forderungen und Zuteilungen unserer Kultur und Zivilisation meint, dann fordert „Behandlung” in schöner Übereinstimmung mit dem Gesetzesauftrag, „das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich” anzugleichen. Zumindest die Beseitigung aller zusätzlichen Versagungen, die über den Zweck des Freiheitsentzuges hinausgehen, fordert positiv gesehen die Gewährung der Grundausrüstung personaler ldentitätssicherung (eigene Kleidung, persönliche Habe etc.), die verläßliche Zusage mittlerer Bedürfnisbefriedigung, eines halbwegs wohnlichen Milieus, die Pflege mitmenschlicher Umgangsformen [12]. Nichts aber markiert schärfer die zukünftige Konfliktfront im Strafvollzug, läßt das Isolationsschicksal der Behandlungs-Wohngruppen deutlicher vorhersehen als das Bestehen-Müssen auf diesen Mindestbedingungen für alle Maßnahmen, die die Bezeichnung „Behandlung” verdienen.

6.
Reicht dieses Angebot aber zur Motivierung und „Öffnung” der Gefangenen aus, kann es die auf dieser Seite vorhandenen Widerstände überwinden? Die Situation des Insassen ist dadurch charakterisiert, daß sein Orientierungs- und Handlungsspektrum auf eine einzige Rolle, eben die des „Gefangenen” eingeengt wird, die zudem so „dicht” bestimmt wird, daß ihm kein Spielraum eigener Bedürfnisentfaltung und persönlicher Selbstdarstellung verbleibt. Mit dem Rollenverlust — zu bestimmen als Verlust der emotionalen Bezugspersonen, der Privatheit und Intimsphäre, der heterosexuellen Kontakte, als Entzug des persönlichen Eigentums, als Unterwerfung unter ein fast totales Gewaltverhältnis, unter wirklichkeitsfremde Arbeitsverhältnisse etc. — erleidet der Gefangene den Verlust des Selbstwertgefühls, zumindest aber eine tiefe Krise der Selbstachtung und des Selbstverständnisses. Mit der Verweigerung der Erwachsenenrolle wird er auf den Status eines Kindes zurückgeworfen, dessen wesentlichste Aspekte der Autonomieverlust und die weitgehende Befreiung von jeder Selbstfürsorge und Selbstverantwortung sind. Autonomieverlust löst eine mehroderweniger deutliche Rückzugshaltung, löst Rückentwicklungstendenzen aus, die sich in Angst- und Ohnmachtgefühlen, in Allmachtphantasien, in unrealistischen Hoffnungen und Wünschen, in Tagträumereien ausdrücken können. Sie werden durch systemgerechte Orientierung auf kleine Erleichterungen und Vergünstigungen, die die Anstalt für gute Führung zu vergeben hat, zusätzlich verstärkt. Andererseits können die gleichen Faktoren heftige Aggressionen hervorrufen, die durch zusätzliche Zwangsmaßnahmen beantwortet werden.
Tendenzen zum Verlust des Selbstwertgefühls und zur Infantilisierung sind der gute Nährboden für die Asozialisierung des Gefangenen, die umso wahrscheinlicher ist, je reibungsloser das Strafsystem funktioniert, je mehr die Situation des Gefangenen vom Leben in der freien Gesellschaft abweicht. Die nachhaltige Prägung durch eine nicht unbedingt kriminelle, aber mindestens gesellschafts-, anstalts- und personal-feindliche Subkultur, die aus einer Ansammlung ablehnender Orientierungs- und Verhaltensmuster besteht, ist äußerst wahrscheinlich, weil kein Mensch auf lange Sicht ohne ein gewisses Selbstwertgefühl, d.h. ohne die Anerkennung durch sich selbst und andere leben kann. Totale, dauerhafte Selbstverachtung muß schließlich in Selbstvernichtung enden [13]. Daher besteht bei Gefangenen eine starke Neigung zur Aufrichtung einer negativen Gegenkultur, die Ersatz für anderweitig entzogene und langfristig vor-enthaltene Wertorientierung bietet. In der Zurückweisung der Zurückweisenden liegt ein gangbarer Weg zur Wiederaufrichtung der Selbstsicherheit. Soziale Ablehnung wird mit der Ablehnung der Ablehnenden beantwortet und damit das Selbstbild nach gewissermaßen umgekehrten Maßstäben wieder aufgerichtet. Zurücksetzungs- und Verachtungserlebnisse können dadurch mindestens entschärft werden, daß man die Anerkennung durch eine Gegenkultur gewinnt.
Subkulturelle Tendenzen vertiefen die Kluft zwischen Personal und Insassen. Behandlung muß dann schon deshalb im ersten Ansatz scheitern, weil der Gefangene jede Ansprechbarkeit von innen heraus abwehrt oder sich nur äußerlich darauf einläßt, um am besten „über die Runden zu kommen”. Wenn die für Verhaltens- und Einstellungsänderungen notwendigen Lernprozesse sich nur über häufige, von gegenseitigem Vertrauen getragene Interaktionen und den Mechanismus der Identifikation mit positiv bewerteten Bezugspersonen ingangsetzen lassen, dann werden systemsprengende Zugeständnisse unabweisbar, soll in der Tat „behandelt” werden. Das Dilemma — auf einen knappen Nenner gebracht — besteht darin: Nur wenn die behandelnden Betreuer ihrerseits die Brücke zu schlagen suchen, d.h. sich mit den Insassen solidarisieren, indem sie auf selbstkritische Distanz gehen zur herrschenden „Anstaltsvernunft”, haben sie die Chance zur Überwindung der Resistenz und zur Herstellung einer resozialisierungsfreundlichen Atmosphäre im Wohngruppenbereich. Damit aber wären die Konfliktfronten in der Anstalt zementiert, wäre die Isolation perfekt. Bleibt es dagegen bei der fraglosen Geltung primär kustodialer Maximen, braucht mit dem Wohngruppenvollzug wohl garnicht erst begonnen zu werden. Resozialisierung im Strafvollzug — die Quadratur des Zirkels?

7.
Die vorausgegangenen Überlegungen haben mit Bedacht hier und da überzeichnet und im ganzen schwarzinschwarz gemalt. Einseitigkeit diente der Verdeutlichung, Verallgemeinerung der Klarheit. Es hilft niemandem, sich über die verharschten Strukturen hinwegzutäuschen in der naiven Hoffnung, man müsse „einfach mal anfangen”, dann werde „sich alles schon irgendwie einpendeln”. Dispositionen und Organisationssysteme, die ernstgenommen zu werden beanspruchen, sollten nur auf eine illusionsfreie Analyse bestehender Verhältnisse gegründet werden.
Freilich vollzieht sich sozialer Wandel als langer Prozeß, Umdenken in kleinen und kleinsten Schritten, von denen einer eventuell das Konzept der Wohngruppen ist. Versuche werden gemacht werden und müssen gemacht werden — auf der Basis absoluter Ehrlichkeit. Der Verfasser hat im Team mit psychologischen und sozialarbeiterischen Fachdiensten und risikobereiten Vollzugsbeamten an Entwurf und Vorbereitung eines „Organisationsstatuts zur Einführung des differenzierenden Wohngruppenvollzuges” gearbeitet. Lösungsvorschläge und Verhaltensstrategien sind an anderer Stelle zu diskutieren. Das schlechte Gewissen, sich wider alle soziologische und psychologische Erkenntnis um des Überlebens willen auf Unvertretbares und Unzumutbares eingelassen, sich zu reflexionsloser Kulifunktion hergegeben zu haben, war unabweisbar. Aus diesem Gefühl heraus wurde dieser Beitrag verfaßt.

Verweise

1 Zuletzt im Überblick und für eine breitere Leserschaft verständlich: H. Ostermeyer, Die bestrafte Gesellschaft, Ursachen und Folgen eines falschen Rechts, München/Wien 1975; anspruchsvoller und umfassender A. Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, München 1974.
2 T. Moser spricht im Hinblick auf das Experiment Sozial-therapeutischer Anstalten von der „absoluten Pioniersituation” der Sozialtherapie; Sozialtherapie in soziologischer Sicht, in: Individuum und Gesellschaft, Stuttgart 1973.
3 Ohne den Optimismus, daß in nicht allzu ferner Zukunft „Sozialtherapie statt Strafvollzug” möglich sein werde, wird man diese gigantische Aufgabe wohl kaum angehen können.
Siehe dazu M. Steller, Sozialtherapie statt Strafvollzug, Köln 1977.
4 In der Begründung des „Entwurfs eines Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung — Strafvollzugsgesetz” (hg vom Bundesministerium der Justiz, August 1974) heißt es: „Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, die Methoden der Behandlung vorzuschreiben. Der Entwurf sieht es vornehmlich als eine Aufgabe der Wissenschaft und der Vollzugspraxis an, auf der Grundlage des Rechts und nach den gesetzlich gestellten Aufgaben die überkommenen Methoden zu überprüfen und neue zu erproben. Das Strafvollzugsgesetz muß deshalb hinreichend Raum für die Fortentwicklung der Behandlungsmethoden lassen und darf keinesfalls neue Wege versperren” (BT-Drucksache 7/918, S41).
5 Dazu: H.-J. Kerner, Behandlungs- und Vollzugsorganisation im neuen Strafvollzugsgesetz, in: ZfStrVo, Heft 2, 1977.
6 Zu den Zielkonflikten im Strafvollzug ausführlich ua: S. Hazbordt, Die Subkultur des Gefängnisses. Eine soziologische Studie zur Resozialisierung, Stuttgart 19722; J. Hohmeier, Aufsicht und Resozialisierung, Stuttgart 1973.
7 Mit diesen Prämissen leitete der Präsident des Justizvollzugsamtes Hamm die Beratungen über den Entwurf eines Organisationsstatus zur Einführung des differenzierenden Wohngruppenvollzuges in der Justizvollzugsanstalt Schwerte ein.
8 Auf die Lösung dieses Problems als Vorbedingung aller weiteren Maßnahmen wurde in der erwähnten Diskussion das größte Gewicht gelegt.
9 Dazu sehr gut zusammenfassend und im Überblick: H. Treiber, Totale Institution und Resozialisierung, in: Institutionelle Opposition im Politikfeld Strafvollzug, Düsseldorf 1974.
10 Zur Psychologie der Aufsichtsbeamten am besten: L. G. Leky, Persönlichkeitszüge der Aufsichtsbeamten im Strafvollzug, Bonn 1974.
11 Dazu: M. Steller, Aufsichtsbedienstete als Betreuungsbeamte, in: ZfStrVo, Heft 2, 1976; ders, Voraussetzungen zur Mitwirkung bei der Resozialisierung, in: ZfStrVo, Heft 4, 1975.
12 Zum Begriff der „Behandlung”: R. Holzapfel, Therapeutische Aspekte im Vollzug, in: Mschr. Krim., 54. Jg, Heft 8/1975.
13 Sicherlich eine Erklärung für die zahlreichen Selbstmordversuche in Haftanstalten.

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