Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Das neue Kreisau

Eine intellektuelle Ortserkundung*

aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3-4/2005), S.235-243

Als ich im Frühjahr 2005 zum ersten Mal in Kreisau war, dem ehemaligen schlesischen Gut der Moltkes und legendärem Treffpunkt des Kreisauer Kreises, da stellte ich mir vor, mit jemandem, der den Ort und seine Geschichte kennt, über das Gelände zu gehen. Mit jemandem, der dabei gewesen ist. Es gibt noch Menschen, die die Brücke in diese Zeit schlagen können, von der die Nachgeborenen ausgeschlossen sind. Zeitzeugenschaft ist ein uneinholbares Privileg, das durch nichts ersetzt werden kann, und es gehört zum Glück der Wiederentdeckung, der Wiederbegründung von Kreisau als einem historischen Ort, dass es jemanden gab, der diese Brücke zwischen den Zeiten schlagen kann: Freya von Moltke zuerst und vor allem. Wir Nachgeborenen müssen uns führen lassen von dem, was wir nachlesen können; historische Vorstellungskraft tritt an die Stelle eigener Erinnerung.

Im Frühsommer in Kreisau, das heute Krzyzowa heißt. Die Wiesen in den Auen des Flüsschens Peile/Pilawa und der Rasen im Karree zwischen den ehemaligen Wirtschaftsgebäuden und Stallungen sind gerade gemäht. Ein starker, fast narkotisierender Duft. Es ist still, so still, wie es nur an Orten, fernab von Städten sein kann, sogar ohne den Anflug eines fernen Rauschens. Wenn die Sonne untergeht, dringt die Kühle der Vorgebirgslandschaft bis zu den Gästen vor, die unter den Sonnenschirmen vor dem Restaurant Platz genommen haben. Vielleicht das Geräusch eines Traktors, vielleicht später der Chor der Frösche. Und eine dunkle Nacht, ohne die Reflexe, die große erleuchtete Städte gegen die Wolken werfen. Breslau ist nur sechzig Kilometer entfernt. Es ist ein Ort vollständiger Ruhe. Es kommt einem Eichendorff, der schlesische Dichter, in den Sinn.

Aber wer hierher kommt, kommt nicht, um dem Rauschen der Peile oder der vollkommenen Stille zuzuhören. Der Ort eines vollkommenen Friedens war einmal das Rückzugsgelände von Männern und Frauen, die es mit Hitler und seinem Regime aufgenommen hatten. Wer hierher kommt, ist nicht der Idylle auf der Spur, sondern den Spuren einer gewalttätigen Geschichte, des Einbruchs und Hereinbrechens der Katastrophe über eine beschauliche Welt. Helmuth James Graf von Moltke hat diese Welt beschrieben in einem bewegenden Text, verfasst im Gestapo-Gefängnis in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße 8, wo er am 19. Januar 1944 eingeliefert worden war. An seine beiden Jungen schrieb er: „Meine Lieben, da ich gerade Zeit habe, will ich Euch erzählen, wie alles war als ich klein war, denn vielleicht findet Ihr das schön”.

Wenn man sich als Besucher im heutigen Kreisau/Krzyzowa umsieht, dann kann man die Topographie der Kreisauer Welt ausmachen. Wer heute hierher kommt, weiß vielleicht von einer der schönsten erhalten gebliebenen Anlagen eines ostelbischen Gutssitzes in Niederschlesien, vor allem aber möchte er wissen und sehen, was aus ihm geworden ist. Man hat gehört vom Sitz des Generalfeldmarschalls Helmut von Moltke, vom Gut, das ihm der preußische König und nachmalige Kaiser Wilhelm I. für seine militärischen Verdienste in den Einigungskriegen schenkte, so wie Bismarck mit dem Fürstentitel das Jagd- und Waldgut Friedrichsruh vor den Toren Hamburgs erhalten hatte. Doch in Wahrheit gilt alles Interesse dem Urgroßneffen des Feldmarschalls und dem Schicksal seiner Freunde und seiner Familie. Helmuth James von Moltke war ein außergewöhnlicher Mensch, den der amerikanische Diplomat George Kennan so charakterisiert hatte (und Kennan war überaus karg mit solchen Charakterisierungen): „Ich sehe ihn im Moralischen als den größten Menschen an, im Geistigen als den am weitesten sehenden, erleuchtetsten, der mir, auf beiden Seiten der Front, während des Zweiten Weltkrieges begegnete. Schon damals – 1940 und 1941 – ging sein Blick über alle die schmutzige Anmaßung, über alle die Schein-Triumphe des Hitler-Regimes hinaus; er erriet die kommende Katastrophe und gewann in schwerem inneren Kampf es über sich, sie anzunehmen, auf sie sich vorzubereiten, wie er später seinen Mitbürgern dabei helfen wollte. Die Notwendigkeit verstand er:

Es mußte alles von Anfang an wieder getan werden, sei es inmitten von Niederlage und Demütigung, um der Nation ein neues Gebäude auf besseren Fundamtenten zu errichten. […] Das Bild eines einsamen, ringenden Mannes, einer der wenigen protestantisch-christlichen Märtyrer unserer Zeit, blieb mir über all die Jahre hinweg eine Säule des Gewissens, ein steter Quell politischer und geistiger Inspiration.”

Nach Kreisau kommen auch Heimat- und Heimwehtouristen, die sich besser aus-kennen als alle anderen, denn ihnen sind die Gegend, die Täler, die Städte mit ihren Marktplätzen und Kirchen vertraut, sei es weil sie dort ihre Kindheit verbracht haben, sei es weil sie es von ihren Eltern erzählt bekommen haben. Kreisau ist dann ein Abstecher von Schweidnitz/Swidnica und Jauer/Jawor mit den hinreißenden Friedenskirchen, den Höhepunkten des schlesischen Barock und der schlesischen Toleranz.

Auf dem Gelände des Guts sieht man Gruppen von Jugendlichen, umherwandernd und im Gespräch vor allem mit sich selbst beschäftigt. Oder man sieht die Eingeweihten von der Breslauer Universität umherwandern, die wissen, dass Krzyzowa ein lieu de memoire deutscher Geschichte ist, oder vielleicht Zufallsgäste, die sich auf ihren Touren durch die Täler Schlesiens hierher verirrt haben und erstaunt sind, am Ende des Tals, am Fuße des Eulengebirges ein hochmodernes Kongresszentrum zu finden, mit allem, was dazugehört: Rezeption, Hotel, Fitness-Anlage, facilities. Die Gäste wandern auf dem Gut umher, und unschwer ist zu erkennen, worauf sie es abgesehen haben: das Schloss mit der Treppe, die von den Photos aus der Vorkriegszeit her bekannt ist, die Gemälde zu Ehren von Preußens Gloria im Treppenhaus und den einzigen Saal, der im Originalzustand wiederhergestellt worden ist, den Kapellenberg mit der Grabkapelle, den Gräbern, dem evangelischen Gemeindefriedhof. Vor allem aber: das Berghaus, etwas abseits gelegen und mit dem Rücken zu den Hofanlagen. Wiederhergestellt mit der von alten Photos her bekannten Veranda und der Freitreppe, der Treffpunkt des Kreisauer Kreises, der Schauplatz der drei Treffen: vom 22. bis 25. Mai 1942, vom 16. bis 18. Oktober 1942 und vom 12, bis 14. Juni 1943. Dies war der Tatort, an dem Deutschland und Europa nach Hitler gedacht worden ist. Es ging, so Moltke in seiner großen Denkschrift über Ausgangslange, Ziele und Aufgaben von 1941, darum, das Kriegsende als
„eine Chance zur günstigen Neugestaltung der Welt” anzusehen. Hier formulierte Moltke in seinem Brief an Lionel Curtis 1943: „Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen und großen Plänen, sondern die Wiederaufrichtung des Bildes des Menschen im Herzen unserer Mitbürger”. Der schöne, liebliche Ort als Ort der Begegnung, der unverbrüchlichen Freundschaften, des todesbereiten Risikos im Kampf gegen die Tyrannei.

Kreisau als Geschichtsort: mit der vom Generalfeldmarschall noch angelegten Eichenallee, mit dem Schloss, der Kirche, mit dem Bahnhof, von dem aus Berlin, die Wohnungen in der Bendlerstaße und in der Hortensienstraße 50 in Lichterfelde-West schnell erreichbar waren, mit der Schule, in der die Kinder des Dorfes unterrichtet wurden, und der Ecke auf dem Friedhof, in dem die russischen Zwangsarbeiter bestattet wurden. Auf dem Weg nach Kreisau passiert man die Hinweisschilder zum ehemaligen Konzentrationslager Groß-Rosen oder zu den Stellen, in denen die Zwangsarbeiter und Juden aus dem Arbeitslager Grädnitz begraben worden sind. Eine Landschaft, geschmückt mit dem Schönsten, was Schlesien zu bieten hat, und gezeichnet von entsetzlichen Leiden und Menschenverachtung. Eine deutsche Landschaft des 20. Jahrhunderts, die verloren war, noch ehe die Deutschen sie verlassen mussten. Auch dafür gibt es Zeugen: die Eiche an der Hofeinfahrt, an der die Liste mit den Namen der Deutschen, die im August 1946 sich zur Aussiedlung einzufinden hatten, befestigt worden war, der Weg, über den die Rote Armee ins Dorf eingezogen war, und der Weg, auf dem Freya Moltke das Dorf endgültig im Herbst 1945 mit Hilfe englischer Freunde verließ.

Der verlo­ren­ge­gan­gene Ort

Kreisau verschwand, auch dem Namen nach, und blieb nur in den Akten oder in der Erinnerung erhalten. Aus dem einst ansehnlichen Gehöft wurde eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. An die Stelle der ausgesiedelten Deutschen traten Polen, die selber ausgesiedelt und vertrieben worden waren: aus den östlichen Gebieten Nachkriegspolens, die an die Sowjetunion abgetreten worden waren.

Als erstes verfielen die Gräber, die immer am schutzlosesten sind. Aus einem Ort, der einmal an die Welt angeschlossen war – und das gesellschaftliche Leben von Vorkriegs-Kreisau reichte von London bis Kapstadt, von den Salons der Eugenie Schwarzwald in Wien bis Brüssel — war ein Unort geworden, kurz hinter der neuen Grenze, ein Ort, von dem nur noch ganz wenige wussten, was es mit ihm auf sich hatte. So ging es sehr lange, zwanzig, ja dreißig Jahre lang.

Aber es gibt so etwas wie die Arbeit des genius loci, der keine Ruhe gibt. Durch eine geschichtliche Fügung und beherztes Zupacken trat der Ort wieder vor aller Augen. Dies geschah am 12. November 1989 in einer bewegenden Szene. Es geschah an der Stelle zwischen Schloss und Pferdestall, die hergerichtet worden war, unter einem Baldachin, unter dem der Bischof von Oppeln die Messe zelebrierte. Hier kam es zu der Begegnung von Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl, mit der das Neue Kreisau inauguriert war. Hier war etwas zum Abschluss gekommen: der mit dem Brief der polnischen Bischöfe aus dem Jahre 1965 eingeleite Prozess des Aufeinanderzugehens; und hier hatte etwas anderes begonnen: eine Normalität zwischen zwei Nachbarvölkern, die man sich nach allem, was von Deutschen in Polen angerichtet worden war, nicht hatte vorstellen können. Die Begegnung von Kreisau/Krzyzowa — sie fand drei Tage nach dem Fall der Berliner Mauer statt. Ein Moment des Glücks, von dem gewöhnlich eine ganze Generation zehrt. Damit war Kreisau wieder in den Horizont der Deutschen zu-rückgekehrt und Krzyzowa eine neue Bedeutung zugewachsen, damit war die Brücke zum alten Kreisau geschlagen und eine Kontinuität gestiftet worden, wie sie kein Stratege oder Public-Relations-Spezialist sich hätte ausdenken können. Das Neue Kreisau löschte nicht die Erinnerung an das alte, sondern nahm seinen Geist, den genius loci gleichsam wieder auf. Es war der Ort, in dem der bürgerrechtliche Widerstand Kontakt aufnahm mit einer älteren Geschichte, wo sich die Vordenker eines neuen, nachtotalitären Europa erkannten, anerkannten, mit einander geistig Kontakt aufnahmen. Das neue Kreisau verdankt sich der großen geschichtlichen Umwälzung, die 1989 Europa von Leipzig bis Bukarest, von Moskau bis Warschau, von Prag bis Sofia erfasst hatte.

Am Comeback von Kreisau und seines Vermächtnisses sind viele Kräfte beteiligt. Sehr früh schon — in den 1970er Jahren — kam eine Art Archäologie in Gang. Ein Rechtshistoriker — Karol Jonca — findet im Archiv seiner Fakultät die Unterlagen des an der Breslauer Universität eingeschriebenen Studenten Helmuth James von Moltke. Die Welt der Sozialreformer und der Arbeitslagerbewegung des Waldenburger Landes taucht wieder auf. Der Historiker und die Pfarrer am Ort, zuerst Kazimierz Kuznicki, dann Boleslaw Kaluza, besichtigen den Ort und bringen die Gräber in Ordnung. Jenseits der Grenze arbeitet unterdes die scientific community an der Edition der Briefe, die mit auf die Flucht gegangen sind. Auf den Konferenzen, auf denen es um das geistige Erbe von Eugen Rosenstock-Huessy geht, wo der Nachlass der Opposition diskutiert wird, nehmen die Akteure miteinander Kontakt auf. Die Funken schlagen zwischen Amsterdam und Breslau, zwischen der amerikanischen Ostküste und Berlin. Die Überlebenden nehmen Verbindung mit den Nachgeborenen beiderseits der Grenze auf, die Vertriebenen aus Schlesien mit den Vertriebenen aus den Kresy, den polnischen Ostgebieten, die Bürgerrechtler in Ostberlin mit den Bürgerrechtlern in Polen, die Leute vom Sprachenkonvikt mit denen vom Klub der Katholischen Intelligenz in Breslau, die Angehörigen der Generation der Kreisauer mit der Generation Solidarnosc.

Bewegte Monate

Die Konferenz im Juni 1989 in Breslau — draußen tobt der Wahlkampf für die ersten halbwegs freien Wahlen in Polen, drinnen geht es um das geistige Erbe der Kreisauer — ist so etwas wie der Kurzschluss zwischen Linien, die so lange voneinander isoliert existiert hatten. Hier kam zusammen, was schon lange zusammengehört hatte. Kreisau, zü dem die Konferenzteilnehmer dann hinausgefahren waren, war der Katalysator, Bezugspunkt, der Verständigungsrahmen. Man kann das die Gründung des Neuen Kreisau, vielleicht aber noch besser die Wiedergeburt Kreisaus nennen. Alles ging gut, weil alles stimmte. Es gab keinen Revisionismus, es ging nicht um Auf- und Abrechnungen, es ging um einen Aufbruch, um eine Neuentdeckung einer lange vergessenen Geschichte. Die Wiederentdeckung und Wiederbegründung Kreisaus war ein großes Gemeinschaftswerk, fast ein Gesamtkunstwerk, an dem sich ganz verschiedene Leute beteiligt haben: Professoren, Pfarrer, Theologiestudenten, Architekten, Kombinatsleiter, Politiker, Diplomaten und Exdiplomaten. Es war das Resultat einer grenzüberschreitenden Parallelaktion, zwischen Breslau und Amsterdam, zwischen Berlin und Vermont, zwischen Bonn und Warschau.

Hier ist Symptomatisches geschehen: eine Begegnung freier, aber gleichgesonnener Geister, etwas, was man seither Netzwerk, Vernetzung nennt, ein Zeugnis für die Kraft von Basis-Initiativen und für das Zusammenspiel mit der großen Politik, das manchmal gelingt. Herausgekommen ist dabei ein neuer Stützpunkt des neuen Europa, ein Punkt, wo Kraftlinien — alte und neue — zusammenlaufen. Es ist weit mehr als die Gründung eines Konferenzortes. Es ist ein Stück gelungener doppelter Aneignung eines Ortes, der für uns, Deutsche wie Polen, hochbedeutsam ist.

Die Zukunft des genius loci

Von diesem neuen Kreisau, in dem sich, wie Tadeusz Mazowiecki bei der Eröffnung der Internationalen Begegnungsstätte am 11. Juni 1998 gesagt hat, „die Jugend Europas” einfinden soll, ist nun die Rede. Die Themen, um die es dabei geht, sind allesamt im neuen Kreisau schon angeschlagen:

Kreisau ist schon heute ein Begegnungsort, an dem gesprochen wird über die totalitäre Erfahrung im 20. Jahrhundert, über den Widerstand, über die Kraft des Wortes oder des „In der Wahrheit Lebens”. Über die europäischen Freiheitstraditionen, insbesondere im mittleren und östlichen Europa. Es ist die Erfahrung der Gewalt und Gewalttätigkeit im letzten Jahrhundert. Natürlich geht es hier in erster Linie um den deutschen Nationalsozialismus und den sowjetischen Kommunismus.

Ein anderes großes Thema ist das Europa der Grenz- und Völkerverschiebungen. Eine der gewalttätigsten Auswirkungen des letzten Jahrhunderts waren die Bevölkerungstransfers im großen Maßstab, die „ethnogaphische Flurbereinigung”, die Massendeportationen, Umsiedlungen, Vertreibungen, die die fabrikmäßige Tötung der europäischen Juden miteinschlossen — Helmuth James von Moltke hat übrigens auf der Durchreise von Wien nach Suwalki im Mai 1943 die Kämpfe um das Warschauer Getto sehr bewusst registriert. Unmixing Europe hat der britische Außenminister Lord Curzon das 1923 genannt, als der erste große Transfer — der griechisch-türkische — ins Werk gesetzt war. Keine Nation im mittleren und östlichen Europa, die nicht davon betroffen gewesen wäre; keine Familie, die nicht in irgendeiner Weise hineingezogen worden wäre in den großen Verschiebebahnhof Europa. Dies wurde nirgends so sehr erfahren wie von den Völkern Ostmitteleuropas, den Völkern zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus. Dies wurde nirgends so erfahren wie in dem auf der Landkarte hin- und hergeschobenen Polen. Aber am Ende traf es auch die Deutschen selbst, die 1939 mit dem Wahn der ethnischen Säuberung begonnen hatten. Kreisau selbst steht exemplarisch für Grenzverschiebung, für doppelten Heimatverlust: für den Verlust Schlesiens und für den Verlust der polnischen Ostgebiete, aus denen die neuen Siedler kamen (und eine der Pionierinnen des neuen Kreisau, Dr. Ewa Unger), und das nun neu angeeignet werden musste: mit den Landschaften, den Häusern und Höfen, den Marktplätzen. Aneignung, das hieß oft oder meistens: Wiederaufbau einer vom Krieg verheerten Städtelandschaft, Besiedlung eines entvölkerten Landes. Schlesien mit seinen Städten ist eine dieser Regionen, die Adam Zagajewski beschrieb als „Landschaft, schwer gebügelt”. Andere solche Landschaften in Europa sind Wolhynien, Galizien, die Krim, Weißrussland, das ehemalige Ostpreußen, die alten Zentren polnischer Kultur: Wilno, Lwow. Auch Thessaloniki, die dalmatinische Küste, Bessarabien, die Dobrudscha. Europa ist arm, jedenfalls ärmer geworden im Orkan der Säuberung, der bereinigten Grenzen, und es hat mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert, bis die Städte und Landschaften des mittleren Europa sich wieder halbwegs erholt haben und neu erstanden sind. Wie viele Biographien sind durch diese Erfahrung geprägt worden! Kreisau/Krzyzowa wäre ein Punkt auf dieser Landkarte eines neu gesehenen Europas: andere wären Seiny im Vierländereck von Litauen, Polen, Belarus und des Kaliningrader Gebiets. Solche Punkte sind auch Goricia/Görtz an der italienisch-slowenischen Grenze. Sarajewo, schwer geschlagen, aber wieder zu Kräften kommend, die Grenzzonen zwischen Tschechien und Bayern und Sachsen, der Streifen, wo die ungarische und slowakische Welt miteinander verwoben sind, die mährisch-kleinpolnische Ecke, Görlitz/Gorzelec, Lublin mit seiner polnisch-ukrainischen Universität, natürlich Natolin bei  Warschau oder weiter im Süden das New Europe College in Bukarest, die Villa Decius in Krakau, mehr im Westen das College d‘ Europe in Brügge, die Central Europe University in Budapest und die Viadrina in Frankfurt an der Oder sowie das Collegium Poloncium in Slubice. Neu hinzu-gekommen ist jüngst die Europäische Humanistische Universität, früher in Minsk, jetzt im Exil in Vilnius.

Es geht natürlich nicht nur um die Vergangenheit, um die Geschichte, sondern um das Heute, um das Europa unter unseren Augen. Es entwickelt sich — allen Referenden und Kassandrarufen zum Trotz — für den, der Augen hat zu sehen und Ohren, zu hören. Die Frage ist, wo die Messpunkte sind, wo die Sonden aufgestellt werden. Europa wächst nicht so sehr aus Proklamationen, sondern aus den steten und oft nicht registrierten Kriechströmen, die Europa zusammenbringen, es wächst auf den Verkehrsachsen, auf denen sich der Austausch von Gütern, Menschen, Ideen sprunghaft vervielfacht hat. Wo einmal eine große Grenze, ein Ende der Welt war, ist inzwischen die Grenzüberschreitung, millionenmal und Tag für Tag zur Routine, zum Alltag geworden — dies ist immer der sicherste Beleg dafür, dass sich etwas grundlegend geändert hat. Es gab eine Zeit, in den turbulenten 1990er Jahren, da schien ganz Europa auf den Beinen zu sein, im Ameisenhandel, auf den Basaren, an den Grenzübergängen und vor den Konsulaten. Die Bewegung ist mittlerweile in geordnete Bahnen gelenkt. Aber es ist keine Frage, dass das ganze Koordinatensystem sich verändert hat. Europa wird neu vermessen. Städte, die durch die Grenze getrennt waren, sind wieder zu Nachbarstädten geworden. Grenzlandschaften und tote Zonen sind zurück in den Strudel der Bewegung gezogen. Verkehrswege, die verwaist waren, sind wieder in Betrieb genommen. Jeder, der auf der Strecke Berlin-Breslau oder Posen-Warschau-Moskau unterwegs war, kann das bestätigen. Noch immer arbeitet man daran, den Stand, den Europa schon einmal er-reicht hatte, wieder zu erreichen: in vier Stunden von Berlin nach Breslau zum Beispiel. Es geht hier nicht nur um Verkehr, Straßenbau, bloß Technisches, Infrastruktur, sondern um die Verfertigung des Lebenshorizonts, in dem wir fürderhin leben werden, darum, wo unsere Kinder studieren oder ihren Urlaub verbringen werden: nicht nur in Paris, sondern auch in Krakau, nicht nur an der spanischen Küste, sondern vielleicht in Nida oder Zakopane. Für Kreisau/Krzyzowa gesprochen, heißt das: Schlesien mit seiner grandiosen Metropole Breslau ist zurückkatapultiert in die Mitte Europas. Es mangelt noch an guten und schnellen Verbindungen. Es geht um die Herstellung von Nähe, die Produktion von Nachbarschaft, von neuen, gefestigten Alltagsroutinen. Kreisau ist längst nicht mehr der Ort hinter den Sieben Bergen. Europas Vielgestaltigkeit, die Gemenge- und Mischlagen, an denen es so reich war, werden wieder sichtbar. Die Grenzund Übergangsgebiete, früher einmal umstritten und misstrauisch beäugt, werden nun als Territorien mit einer doppelten Geschichte besonders bedeutsam, gleichsam zu Klammern und Scharnieren des Neuen Europa.

Kreisau ist einer jener Orte, wo und von wo aus sich die Schönheit Europas studieren lässt. Es ist das wahre Wunder, dass Europa nach der Katastrophe noch einmal die Kraft zu einem Neuanfang gefunden hat. Wer hätte geglaubt, dass Minsk und War-schau, das dem Erdboden gleichgemacht war, dass Königsberg/Kaliningrad oder Berlin je wieder bewohnte, bewohnbare Stätten sein würden. Europa hatte nach dem Krieg seine Zonen verbrannter Erde, seine entvölkerten Wüstungen. Es ist wieder zu Kräften gekommen und bietet nicht wenig Inspiration für alles weitere.

Die heutige Ausstellung im Schloss von Kreisau trägt den Titel In der Wahrheit leben. Und sie unternimmt den Versuch, den Widerstand von Bürgern in Europa gegen die Tyrannei gleich welcher Art zu zeigen. Hier findet man die Bilder von Andrej Sacharow und Helmuth James von Moltke, die Kämpfer von Solidarnosc, die Unterzeichner der Charta 77 und den Dissidenten und Exgeneral Petro Hryhorenko. Wir sehen Jacek Kuron auf der Schlosstreppe und Vasyl Stus beim Rundgang im Lager. Es sind immer irgendwie sich gleichende, leuchtende Gesichter. Es sind immer Konfrontationen: die Drohgebärde eines Volksgerichtshofes und ein Angeklagter, der nichts hat als sein Wort. Es geht hier um Personen und Persönlichkeiten, nicht so sehr um Parteien — höchstens um Moltkes Partei der Gleichgesinnten, eine Art überparteiliche Sammlungsbewegung; es geht letztlich um Haltungen, für die man einsteht, nicht um Meinungen, die man auch haben kann. In dieser Ausstellung sind die Stationen der europäischen Freiheitstradition im 20. Jahrhundert nicht nebeneinander gestellt, sondern zusammengedacht. Wer will, kann aus dem Tableau des bürgerschaftlichen Widerstands in Europa im 20. Jahrhundert seine Lehren ziehen.

Ein Kontinent wird neu vermessen

Europa wird neu zusammengesetzt, die Akzente werden sich verschieben, das östliche Europa braucht keine Stellvertreter mehr, sondern spricht mit eigener Stimme. Und er-zählt seine Geschichte, die auf anderen Erfahrungen beruht als jene, die wir — im glücklicheren Westen — gemacht haben. Wir müssen lernen, dass es kein Monopol auf Erfahrung und kein Monopol auf die Definition der Geschichte Europas gibt, solange nicht alle ihre Geschichten erzählt haben. Damit hat Europa eben erst begonnen. Es ist im Grunde eine unerhört schöne und ergreifende Situation, wenn Geschichten, die nie er-zählt werden konnten, endlich erzählt werden. Aber es ist auch unerhört schwer, zuzuhören, denn es geht fast immer um Kränkungen, Erniedrigungen, Schmerzen, die jemandem zugefügt worden sind, um Gewalt und Gewalttätigkeit. Zuzuhören statt zu belehren, wahrhaben statt recht zu haben, Geschichten erzählen und Geschichten aushalten — dafür bedarf es eines Raumes, der durch Vertrauen geschützt und befestigt ist, in dem auch Missverständnisse in Kauf genommen werden können, weil das Fundament fraglos intakt ist. Hier verfällt niemand in Hysterie, hier treibt niemand ein kurzsichtiges Spiel um des parteipolitischen Vorteils willen. Auch hier geht es wieder um Errungenschaften der mitteleuropäischen Bürgerrechtsbewegungen, des von ihr geprägten Stils und der von ihr geprägten Öffentlichkeit. Dieser Raum ist stark genug, um Differenzen auszuhalten, weil es im Grundsätzlichen keinen Dissens gibt. In diesem geschützten Raum ist es möglich, Trauer über die verlorene Heimat zu empfinden, ohne des Revisionismus verdächtigt zu werden. Hier darf über Traumata gesprochen werden, ohne dass damit das Leid, das anderen zugefügt wurde, legitimiert oder relativiert würde. In diesem Raum herrscht der Respekt vor der Würde des Anderen. Es handelt sich um eine neue öffentliche Kultur, die den Takt und die Intimität der alten Freundeskreise verbindet mit den Routinen der offenen Gesellschaft. Diese Öffentlichkeit ist in gewisser Weise immun gegen mediale Knalleffekte, ihre Haupttugend ist Gelassenheit, sie reagiert allergisch gegen alles, was nur nach Parteiengezänk aussieht. Die mitteleuropäischen Intellektuellen haben zu ihrer Zeit einen Terminus dafür geprägt: Anti-Politik — was gerade nicht heißt: sich aus der Politik herauszuhalten. Die Zeit für das Gespräch vor der Politik ist nicht vorüber, nicht die Intellektuellen sind passe, wie manche nach 1989 gemeint hatten, sondern ein Typ von Engagement, der nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist.

Das alles sind Themen, die die veränderte Karte Europas aufgibt, und über die sich an privilegierten Orten wie Kreisau sprechen lässt. Längst ist klar, dass es dabei nichtnur um Polen und Deutschland geht, sondern auch um viele andere Länder: die Ukraine, deren unerwartetes Auftauchen noch einmal die Karte Europas verschoben hat, die Staaten, die aus dem blutigen Zerfall Jugoslawiens hervorgegangen sind, es sind auch Städte darunter, die auf der Karte des neuen Europa selbstverständlich nicht fehlen dürfen: Sankt Petersburg, Moskau, Odessa, auch Istanbul.

Für fast alles, was ich hier beschrieben habe, ließe sich ein starkes Zitat bei den Kreisauern, den Vordenkern des nachfaschistischen, des nachtotalitären Europa finden: über den einzigartigen Wert eines jeden Menschen und sein „Hier stehe ich und kann nicht anders”, über die Bedeutung der „kleinen Heimaten” (mala oiczyzna), der Orte und Regionen, in denen sich das Leben abspielt, über Weltläufigkeit und Weltzugewandtheit, die immun machen gegen Beschränktheit und Provinzialismus, auch über die Verankerung im Glauben.

Kreisau/Krzyzowa, das solange aus unserem Horizont herausgefallen ist, ist wieder da. Es ist erreichbar, in wenigen Stunden. Es ist nicht bloß eine Idee, sondern ein Ort, ein Geschichtsort, eine Werkstatt. Kreisau ist ein Ort von großem Zauber. Vor allem aber ist es einer jener privilegierten Schnittpunkte, von denen aus Europa — das alte und das neue — neu vermessen werden.

* Der Beitrag beruht auf einer Rede, die anlässlich der Gründung der Freya von Moltke-Stiftung für das Neue Kreisau am 16. Juni 2005 im Berliner E-Werk gehalten wurde.

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