Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Exklusion — ein linker Inklu­si­ons­be­griff

Die Querverbindung von ausgeschlossenen Rändern und prekärer Mitte

aus: Vorgänge Nr. 171/172 (Heft 3-4/2005), S. 74-76

So sehen am Beginn des Jahres 2006 die neuen Verhältnisse aus: Die Regierung hat sich gefunden, die Opposition noch nicht. Es ist klar, dass es nicht so kommen wird wie zu Zeiten der ersten Großen Koalition in der Bundesrepublik. Davon, dass im Untergrund sich etwas zusammenbraut, das auf den Funken einer Bewegung wartet, ist nichts zu spüren. Gegen das Bündnis des Pragmatismus mit seiner Politik der kleinen Schritte formiert sich keine Geheimgesellschaft der Großen Weigerung. Man muss nicht mehr dagegen sein, um dabei sein zu können.

Denn das Unbehagen scheint eine Adresse im System zu haben. Links nennt sich eine Partei, links sehen sich manche junge Kräfte bei den Sozialdemokraten, als links versteht sich die Fraktions- und Parteiführung der Grünen. Zusammengenommen ergibt das eine gefühlte Linke, die sich vorgenommen hat, nach dem Spuk der 1990er Jahre wieder die Wahrheit über die Kapitalismus auszusprechen. Es ist das Prinzip der privaten Aneignung der gesellschaftlich geschaffenen Werte, das uns in den Abgrund des Klimawandels treibt, das zur Aussortierung einer Gruppe von Überflüssigem führt, das den Krieg als eine Möglichkeit der Politik wieder denkbar macht. Marx soll helfen, unsere Zeit in Gedanken zu fassen, nachdem Friedman, Hayek und ihre neoliberale Entourage nach dem Platzen der Blase abgewirtschaftet haben. Man nimmt von links Anlauf, um auszusprechen, was alle merken: Dass wir in ein Zeitalter der Klassenmedizin gehen, dass sich die Kluft zwischen Staatsbürgern mit und ohne Rechte vertieft, dass für wachsende Teile der Bevölkerung sich ihre Existenz in einen täglichen Überlebenskampf mit ungewissem Ausgang verwandelt. Man hat zwar keine große Alternative anzubieten, aber Linkssein bedeutet immer noch, dass man die Wahrheit über das Elend der Menschen zu Gehör bringt.

Das Gefährliche dieses hilflosen Antikapitalismus war in der Endphase des letzten Wahlkampfes zu studieren: Man mobilisiert die Ressentiments des Publikums durch die Unterscheidung zwischen einem volksnahem Sozialismus und einem volksfremden Kapitalismus. Gegen die Realabstraktion einer treulosen Finanzmacht wird als letzter Stützpunkt die Vorstellung eines Wesens aufgeboten, das homogen  und mit sich selbst identisch ist. Oskar Lafontaines Ausfall gegen die mobile Arbeitskraft der Ausländer, die das gewachsene Sozialeigentum der Inländer bedrohen, hatte eine innere Notwendigkeit. Die Linke, die die Wahrheit über den Kapitalismus ausspricht, macht sich zum Sammelbecken vagierender antikapitalistischer Gesinnungen, die das Völkische mit dem Sozialen amalgieren. Wo die Flasche für „Marx‘ Gespenster” (Derrida 1995) geöffnet wird, sind Haider, Fini und Le Pen nicht weit. Das trotzige Beharren auf einer rechtmäßigen Substanz ruft unangenehme Verwandte auf den Plan.

Aber stimmt diese Art von linker Sicht auf unsere gesellschaftlichen Verhältnisse? Wie erklärt sich in diesem Denken die aufblitzende Unruhe in den französischen Vorstädten, die finstere Trostlosigkeit unter dem freigesetzten Proletariat der ostdeutschen Agrarindustrie, die brutale Apathie unter den ausbildungsmüden Jugendlichen aus den bildungsfernen Schichten in Duisburg, Cottbus oder Kaiserslautern? Die antikapitalistische Klage gegen Armut und Arbeitslosigkeit kann eine bestimmte Weltsicht bestätigen, aber sie trifft doch nicht die Probleme des sozialen Zusammenhaltes, mit denen wir heute zu tun haben. Es ist eben nicht nur die sich verbreiternde Schere zwischen Arm und Reich, die unser gesellschaftliches Zusammenleben bedroht, sondern das sich aus-breitende Gefühl, das wir keine bindende Klammer mehr haben, die die verschiedenen Teile unserer Gesellschaft in einen begreifbaren Zusammenhang bringt. Es herrscht vielmehr das Gefühl einer sozialen Ansteckungsgefahr: Wer sich im Mainstream glaubt, sucht Abstand zu denen, die zurückgeblieben sind; wo man sich selbst gleich fühlt, meidet man den Kontakt zu den „neuen gefährlichen Klassen”; die Unterscheidung von Oben und Unten wird überlagert von der von Drinnen und Draußen.

Eine Linke, die die Wahrheit über den Zustand unserer Welt aussprechen will, muss sich um andere Begriffe bemühen, die die Probleme zum Ausdruck und dementsprechende Politiken in Gang setzen können. Einer dieser Begriffe ist der Begriff der sozialen Exklusion. Der ist in Großbritannien ein politischer Begriff, der sich auf verwehrte Staatsbürgerrechte bezieht, genauso wie in Frankreich, wo die Exkludierten die Paria der republikanischen Nation bezeichnen (Silver 1993). In den Sozialkulturen dieser beiden europäischen Nachbarn ist damit gedacht, dass man durch die Erhöhung von Transfereinkommen oder durch die Absicherung von Statusrechten nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt begründet (Gilben 2004). Es geht in beiden Fällen um eine gehaltvolle Re-Definition unserer Vorstellung von Teilhaberechten. Was braucht man, um ein würdiges Leben in unserer Gesellschaft führen zu können? Welche Aufmerksamkeit haben diejenigen verdient, die den Mut verloren haben? Wie spricht man jene an, die den Glauben daran verloren haben, dass es auf sie noch ankommt?

Eine linke Politik in Deutschland muss sich mit dem Begriff der sozialen Exklusion anfreunden, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, gegen eine zudeckende Rhetorik des kleinen Pragmatismus und der schrittweisen Lösung das Bewusstsein für die großen Probleme unserer Gesellschaft offen zu halten. Der Exklusionsbegriff stellt eine Verbindung zwischen der Mitte und dem Rand unserer Gesellschaft her (Leisering 2004). Drohende Unsicherheit ist längst nicht mehr auf wohldefinierte Randgruppen beschränkt, sondern in die Mitte unserer Gesellschaft gesickert (Vogel 2004). Von der Erfahrung prekären Wohlstands können unregelmäßig und ungesicherte Beschäftigte in den Wachstumssektoren der vielgerühmten Wissensgesellschaft ein Lied singen. Im Bereich der Medien, der unternehmensbezogenen Dienstleistungen, unter Ärzten, Rechtsanwälten und Apothekern finden sich nicht wenige, die mit zwei Kindern und einer erheblichen Immobilienhypothek auf einem schmalen Grat balancieren. Die Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturelle Leben scheint zwar gesichert, aber durch ein unkalkulierbares Lebensereignis kann man durchaus ins Strudeln geraten. Auf welche Rücklagen kann man dann zurückgreifen? Wen kann man im Zweifelsfall in Anspruch nehmen? Welche Anrechte sind dann noch gesichert ?

Exklusion ist ein Begriff, der das Ganze in den Blick bringt. Es geht um Gefährdungslagen und Verwundbarkeitszonen, die quer durch unsere Gesellschaft verlaufen (Bude 1998). Es gibt Armut trotz Beschäftigung, Mutlosigkeit durch Abhängigkeit vom Sozialstaat und soziale Verwahrlosung aufgrund von kollektiver Indifferenz. Wer vom Kapitalismus spricht, kann über diese Formen der stillen Entkoppelung (Castel 2005) nicht schweigen. Und wer etwas ändern will, darf nicht nur mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken solidarisch sein wollen. Codeartige Begriffe von Widerspruch und Konflikt dienen der Ontologisierung eines Allgemeinen, das immer schon so war, wie es sich gerade zeigt.

Aber wenn es einen angemessenen Begriff von Linkssein gibt, dann ist es der, die Dinge so beim Namen zu nennen, dass noch etwas anderes möglich ist als das, was ist. Man muß wissen, wo man Marx untreu werden muß, um ihm die Treue zu halten. Es reicht dafür nicht, Empörung zu mobilisieren, man braucht die Begriffe, die eine gültige Vorstellung der sozialen Probleme unserer Jetztzeit beinhalten. Es gibt auch von links kein Anrecht darauf, an der Wirklichkeit vorbei zu reden. Man muss die Bereitschaft, das Andere zu denken, mit der Einstellung, das Richtige zu sagen, in Verbindung bringen. Dann kann von links erreicht werden, dass eine Große Koalition derer, die nur noch handhabbare Probleme kennen, sich nicht wie Mehltau über unsere Gesellschaft legt.

Literatur

Bude, Heinz 1998: Die Überflüssigen als transversale Kategorie; in: Peter A. Berger/Michael Vester (Hgg.), Alte Ungleichheiten – neue Spaltungen, Opladen, S. 363-382
Castel, Robert 2005: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg
Derrida, Jacques 1995 : Marx‘ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/Main
Gilbert, Neil 2004: The Transformation of the Welfare State. The Silent Surrender of Public Responsibility, Oxford/New York
Leisering, Lutz 2004: Die Desillusionierung des modernen Fortschrittsglaubens: „Soziale Exklusion” als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und soziologisches Konzept; in: Thomas Schwinn (Hg.), Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung, Frank-
furt/Main, S. 238-268
Silver, Hilary 1993: National Conceptions of the New Urban Poverty: Social Structural Change in Brit-
ain, France and the United States; in: International Journal of Urban and Regional Research, 17 Jg., S. 336-354
Vogel, Berthold 2004: Der Nachmittag des Wohlfahrtsstaats. Zur politischen Ordnung gesellschaftlicher Ungleichheit; in: Mittelweg 36 Jg.;S.36-55

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