Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Wolfgang Kraushaar 1968 und die RAF

Ein umstrittenes Beziehungsgeflecht

aus: Vorgänge Nr. 171/172 (Heft 3-4/2005), S. 208-220

In wachsenden Teilen der Öffentlichkeit ist gegenwärtig die Tendenz unübersehbar, die 68er-Bewegung endgültig in die Rubrik der „erledigten Fälle” einzuordnen. Das Echo dieser Bewegung ist in den vergangenen Jahrzehnten gewiss höchst unterschiedlich ausgefallen. Spätestens nach der historischen Zäsur von 1989/90 aber wurde deutlich, dass es viele gibt, die sich dieses vielfach als belastend und unzeitgemäß angesehenen Gepäcks entledigen wollen. Wir erleben eine Art „Finalisierung” der 68er-Bewegung und ihrer politischen Ideen und Überzeugungen.

Das hängt nicht zuletzt mit dem Regierungswechsel 1998 und der bis 2005 andauernden rot-grünen Ära zusammen. Das Kabinett bot den Streitigkeiten um das vermeintliche „Erbe von 68” einen voluminösen Resonanzboden. Das kann kaum überraschen: Schließlich standen mit dem Kanzler, dem Vizekanzler und dem Innenminister drei Politiker an der Spitze der Koalitionsregierung, die auf je eigene Weise mit der 68er-Bewegung und ihren Folgen in Verbindung gestanden haben. Der skandalisierende Ton in Teilen der Presse, wonach die Spitze von Rot-Grün mit Ideen der 68er-Bewegung „kontaminiert” gewesen sei, ist sicherlich unangemessen gewesen. Dennoch ist es durchaus aufschlussreich, einen Blick auf die tatsächlichen Berührungspunkte zu werfen.

Das 68er-­Per­sonal der rot-grünen Ära

Am umständlichsten ist es zweifellos, mit Gerhard Schröder den ehemaligen Bundes-vorsitzenden der Jungsozialisten in die Nähe der 68er-Bewegung bringen zu wollen. Schließlich gehörte er am Ende der 1960er Jahre nicht zu den politischen Akteuren der außerparlamentarischen Bewegung (Millot 1998). Mit der Nachwuchsorganisation der SPD begab er sich jedoch in das Fahrwasser der 68er-Bewegung und beteiligte sich später, Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre in maßgeblicher Weise an der in Niedersachsen besonders stark ausgeprägten Anti-AKW-Bewegung. Zudem war Schröder mit dem RAF-Begründer Horst Mahler einige Jahre lang freundschaftlich verbunden. Es war alles andere als Zufall, dass der Rechtsanwalt Schröder dem nach einem Jahrzehnt auf freien Fuß gesetzten Ex-RAF-Mann 1988 vor einem Berliner Gericht die Wiederzulassung als Anwalt erstritten hat. Zu dieser Zeit konnte allerdings kaum jemand ahnen, welchen Weg Mahler einschlagen würde, der ihn bekanntlich in die Rolle eines exponierten Neonazis und Antisemiten geführt hat, dem inzwischen selbst die NPD als zu staatstragend erscheint.

Ähnlich gelagert ist der Fall des Bundesinnenministers Otto Schily (Reinecke 2003). Er spielte über lange Zeit lediglich die Rolle eines Anwalts, der zwar mit einigen Zielen der radikalen Studenten – wie z.B. der Gegnerschaft zum Vietnamkrieg der USA – sympathisierte, jedoch offenbar nie die Orientierung eines liberal gesinnten Strafverteidigers aufgegeben hat. Allein durch seine exponierte Rolle als Verteidiger der Warenhausbrandstifterin und späteren RAF-Mitbegründerin Gudrun Ensslin machte er sich zum Objekt öffentlicher Spekulationen. Und Schily stand als ehemaliger Kollege Horst Maklers einige Jahre lang in engem Kontakt zum einstmaligen „APO-Anwalt” und späteren RAF-Ideologen. Im ersten Prozess 1971 trat Schily noch als Verteidiger Maklers auf. 30 Jahre später, im Vorfeld des letztlich nicht zustande gekommenen Verbotsprozesses gegen die NPD, standen sich die beiden 2002 vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe als Kontrahenten gegenüber: der Bundesinnenminister als Antragsteller und der Ex-RAF-Kader als NPD-Verteidiger.

Am deutlichsten ist die Akteursrolle jedoch beim Jüngsten der drei ausgeprägt gewesen, dem 1968 als Zwanzigjährigen zu den Newcomern zählenden Joschka Fischer (Kraushaar 2001). Ursprünglich war Fischer kaum etwas anderes als ein Exponent der sogenannten Randgruppen. Als jugendlicher Tramp und Pflastermaler, der sich als ab-gebrochener Gymnasiast und Fotolehrling von der Radikalität der Studenten angezogen fühlte, stieß er im Frühjahr 1968 in Frankfurt zu einer Wohngemeinschaft führender SDS-Mitglieder. Nachdem der geborene Autodidakt sich in Seminaren und Diskussionszirkeln mit den wichtigsten neomarxistischen Theorien vertraut gemacht hatte, galt er eine Zeit lang als der Vorzeige-Subproletarier der Frankfurter Studentenbewegung. Er schloss sich einer Betriebskampfgruppe an, die in den Rüsselsheimer Opel-Werken vergeblich die Fließbandarbeiter zu agitieren versuchte, und fand, nachdem er dort gefeuert worden war, Anschluss an eine In-group, die über mehrere Jahre hinweg die Fäden der Hausbesetzerbewegung zog. Als diese Mitte der 1970er Jahre verebbte, schlug der bekennende Sponti sich eine Zeit lang als Taxifahrer und Antiquar durch. Erst nach verschiedenen Anläufen fand er 1982 einen Ausweg aus seiner politischen Orientierungskrise. Aus dem dezidierten Antiparlamentarier, der für Parteien jahrelang nur zynische Verachtung übrig hatte, wurde ein nicht weniger dezidierter Befürworter des Parlamentarismus. Er trat in die Partei der Grünen ein, wurde bereits nach wenigen Monaten Bundestagsabgeordneter und zwei Jahre später hessischer Umweltminister. Kein anderer Politiker hat in der wechselhaften Geschichte der alternativen Partei mit derartiger Nachdrücklichkeit einen machtpolitischen Kurs verfolgt wie der durch die antiautoritäre Bewegung geprägte Fischer. Obwohl er Bruch und Kontinuität des 68er-Impulses gleichermaßen verkörpert, ist er ein überzeugter „68er” geblieben.

Die politischen Biographien dreier weiterer rot-grüner Kabinettsmitglieder ließen sich hier ergänzen: Jürgen Trittin, ehemals Mitglied im maoistischen Kommunistischen Bund (KB); Ulla Schmidt, ehemals Mitglied im nicht weniger maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW); Heidemarie Wieczorek-Zeul, die frühere Juso-Bundesvorsitzenden. Für den seit der ersten Fischer-Affäre Anfang 2001 ausgetragenen und immer wieder neu aufbrechenden Streit um Charakter und Bedeutung von 1968 war das Personal der rot-grünen Koalition jedenfalls ein Resonanzboden. Es ist daher nahe-liegend, dass von interessierter Seite immer wieder Versuche gestartet worden sind, das eine oder andere Kabinettsmitglied wegen seiner vermeintlichen oder tatsächlichen linksradikalen Vergangenheit zu skandalisieren. Wie ein Gespenst stand dabei die Geschichte der RAF im Hintergrund.

„1968” und RAF: inversives oder konsti­tu­tives Bezie­hungs­ge­flecht?

Die Überzeugung, dass es eine scharfgezogene Grenze zwischen der 68er-Bewegung und der RAF gegeben habe, ist immer noch weit verbreitet. Dies hat nicht zuletzt der im Vorjahr ausgefochtene Streit gezeigt, der um die Frage entbrannt war, ob mit Rudi Dutschke die Ikone der 68er-Revolte in einem Wirkungszusammenhang anzusiedeln ist, der letztlich in den Terrorismus geführt hat.[1]

Jedoch wird die Tatsache, dass es einen – wie auch immer gearteten – Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung und der RAF gegeben haben muss, auch von jenen kaum noch bestritten, denen es vor allem darum geht, bei Dutschke die Relevanz des Moralischen für das politische Handeln unter Beweis zu stellen und damit zugleich die Unvereinbarkeit mit den Handlungsmaximen der RAF vor Augen zu führen. Wie dieser Zusammenhang genauer zu bestimmen ist, dürfte allerdings nicht so einfach zu klären sein. Vermutlich bleibt er noch für längere Zeit hinsichtlich Faktoren, Ausdifferenzierung und Gewichtung umstritten.

Bereits 1971 hatte Ulrike Meinhof im Namen der RAF die seinerzeit verbreiteten Zweifel mit einer Feststellung aus dem Weg zu räumen versucht: „Die Rote Armee Fraktion leugnet im Unterschied zu den proletarischen Organisationen der Neuen Linken, ihre Vorgeschichte als Geschichte der Studentenbewegung nicht, die den Marxismus-Leninismus als Waffe im Klassenkampf rekonstruiert und den internationalen Kontext für den revolutionären Kampf in den Metropolen hergestellt hat.” (Meinhof 1997 [1971]: 36) Markige Worte, fast wie bei einer Kommandoerklärung. Die Studentenbewegung als Vorgeschichte der RAF? Vielleicht war es genau umgekehrt: die RAF eher Nachgeschichte der Studentenbewegung? Vielleicht war sie nichts anderes als eines der vielen Partikel, die nach der Hochphase der Bewegung übrig geblieben waren.

Bis vor einigen Jahren herrschte jedenfalls die Überzeugung vor, dass die bundesdeutsche Adaption der Stadtguerilla-Idee ein Produkt der auseinanderfallenden Studentenbewegung gewesen sei. Inzwischen hat sich jedoch unter Zeithistorikern mehr und mehr die Einschätzung durchgesetzt (Koenen 2003; Kraushaar 2005b; Kraushaar 2005c; Langguth 2001), dass diese ebenso wie die ersten Versuche einer praktischen Umset-zung weitaus früher anzusetzen sind und bis in die Zeit vor der Studentenrevolte reichen.

Im Prinzip existieren zwei diametral entgegengesetzte Auffassungen, was das Verhältnis zwischen der 68er-Bewegung und der RAF anbetrifft:

  1. Die RAF sei allein aus dem Zusammenbruch der 68er-Bewegung zu erklären, es habe sich um nichts anderes als um eine Inversion, also um eine durch Isolation, Verzweiflung und Depression bedingte Umkehrung, gehandelt.
  2. Die 68er-Bewegung sei das Konstitutions- bzw. Kräftefeld gewesen, aus dem die RAF hervorgegangen wäre. Es habe sich demnach um einen gemeinsamen Zusammenhang, und zwar den einer Konstitution, gehandelt.
    Inversion oder Konstitution – auf diese Frage ließen sich also mit einer Unterscheidung Heinz Budes die Alternativen zuspitzen (Bude 2004). Wer diese Frage beantworten will, muss die Struktur der Beziehung zwischen der 68er-Bewegung und der RAF herausarbeiten. Zu diesem Zweck soll hier zwischen vier verschiedenen Bezugsebenen unterschieden werden:
  1.  Ideologien und Theorien
  2. Akteuren und Akteursgruppen
  3. Aktionsformen und am Ende
  4. die angemessenen historischen Interpunktionen
    „1968” und RAF — zwei semantische Felder und ihre Bestandteile

Zuvor sind allerdings weitere Voraussetzungen möglichst genau zu klären: Was ist eigentlich mit einer solch emblematischen und daher auch so diffusen Bezeichnung wie „der” 68er-Bewegung gemeint?

Weil 1968 ein so extrem zerrissenes, vieldeutiges, aber auch schillerndes Jahr war, gab es in der Bundesrepublik von Anfang an eine große Unsicherheit in seiner Bezeichnung. Von der Eindeutigkeit der Träger her schien es sich zunächst um eine Studentenbewegung zu handeln. Insofern war es eine Zeit lang durchaus legitim, von einer Revolte oder Rebellion der Studenten zu sprechen. Als auch die Schüler und Lehrlinge von der Bewegung erfasst wurden, erweiterte man die Begrifflichkeit. Das Ganze nahm mehr und mehr Züge einer Jugendrevolte an. Dies deckte sich jedoch nicht mit der Rolle einer Außerparlamentarischen Opposition, der sogenannten APO, die zum Sammelbegriff für all jene geworden war, die sich an der Politik der Großen Koalition rieben und nach Reformen oder mehr riefen.

Diesem Oszillieren zwischen Namen wie Studentenbewegung, außerparlamentarischer Opposition, Revolte, Rebellion etc, ist man schließlich durch das Zitieren des Jahrgangs aus dem Weg gegangen. Die Redeweise von „1968”, „den 68ern” oder gar „der 68er-Generation” ist jedoch alles andere als selbstverständlich. In den 1970er Jahren war sie noch völlig unbekannt; durchgesetzt hat sie sich erst zu Beginn der 1980er Jahre. Sie ist ursprünglich ein Distanz- und Kontrastetikett gewesen. Gebraucht wurde sie von den Sprechern einer neuen Jugendbewegung, der damaligen Hausbesetzerbewegung, die nicht länger mehr im Schatten der alten Bewegung stehen wollte. „1968” ist insofern zunächst ein Versuch der Abstempelung, einer Distanzierung gewesen, die nur wenig mit den damaligen Ereignissen und deren Aktivisten zu tun hatte, aber von den Medien bereitwillig aufgegriffen wurde. Insofern schwingt in jener Bezeichnung, die sich im öffentlichen Gebrauch durchgesetzt hat, immer schon eine polemische Gegentendenz mit.

Andererseits ist auch die Reduktion des Kapitels „bewaffneter Kampf” bzw. „Terrorismus” auf das Kürzel „RAF” nicht ganz unproblematisch. Die Abkürzung täuscht eine Geschlossenheit vor, die es in Wirklichkeit so nicht gegeben hat. Für dieses Feld gilt in einem besonderen Maße, dass Namen nicht einfach Schall und Rauch gewesen sind. Es sind halbe Kommandoerklärungen mit programmatisch angelegten Selbstinszenierungseffekten. Zugleich kaschieren diese Selbstbezeichnungen auch Wesentliches. Sie täuschen in einem nicht unerheblichen Maße darüber hinweg, wie unterschiedlich die sozialen Voraussetzungen und die personalen Beziehungsmuster im einzelnen ausfallen können.

Am Anfang, im Frühsommer 1970, gab es zwischen den beiden rivalisierenden Strömungen um Horst Mahler und Dieter Kunzelmann regelrechte Kooptierungsversuche: Wer schluckt wen? Und nachdem klar war, dass es zwei unterschiedliche Gruppierungen – die RAF und die Tupamaros West-Berlin, die spätere Bewegung 2. Juni – geben würde, fanden osmotische Prozesse statt. Mitglieder wechselten von dieser zu jener Organisation und umgekehrt. Wenn hier also in exemplarischer Hinsicht von der RAF die Rede ist, dann sollten zugleich auch die wichtigsten anderen beiden bewaffneten Gruppierungen – die Bewegung 2. Juni und die Revolutionären Zellen (RZ) – mitgedacht werden.

Warum neben der Bewegung 2. Juni auch noch die RZ? Nachdem die Gründungsmitglieder der RAF im Juni 1972 verhaftet worden waren, schien die Stadtguerilla in der Bundesrepublik bereits gescheitert zu sein. Baader, Ensslin, Meinhof, Meins und Raspe saßen im Gefängnis und warteten auf ihre Prozesse. Die politische Auseinandersetzung verlagerte sich zunehmend auf die Frage, wie es gelingen könnte, die RAF-Gefangenen wieder freizubekommen.

In dieser Situation zerbrach sich Wilfried Böse, die Schlüsselfigur der späteren RZ, offenbar den Kopf darüber, wie es gelingen könnte, den von den bundesdeutschen Behörden mittlerweile geschaffenen Fahndungsapparat ins Leere laufen zu lassen (vgl. Kraushaar 2005a). Er griff dabei auf eine alte kommunistische Tradition zurück und konzipierte eine Organisation, die die Gefahr, interne Kenntnisse weiterzugeben, auf ein Minimum reduzieren sollte. Die Grundidee bestand darin, ein Geflecht lose miteinander verbundener Zellen aufzubauen, die jeweils mit nur einem einzigen Mitglied untereinander in Verbindung standen. So konnte die Gefahr, dass bei einer Verhaftung durch Druck oder Erpressung gleich die gesamte Organisationsstruktur preisgegeben werden könnte, gering gehalten werden.

Würde man Struktur, Kohäsion und Binnendynamik als Kriterien für eine Qualifizierung dieser Gruppen festhalten wollen, dann könnte man die drei genannten Organisationen nur schwer auf eine Ebene stellen. Während die RAF nicht nur in ihrer Grün-derzeit eine relativ festgefügte, hierarchisch gegliederte Organisationsstruktur aufwies, war die Bewegung 2. Juni eher eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche Konglomerationen und sich untereinander verschiebender Aggregatzustände, die mal als Wieland-Kommune, mal als Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen und mal als Berliner Blues bezeichnet wurden. Die Revolutionären Zellen blieben dagegen lange Zeit so gut wie unsichtbar und wurden aus der Schwierigkeit der Ermittlungsbehörden heraus, greifbare Ergebnisse vorzulegen, deshalb von Journalisten häufig als Feierabendterroristen bezeichnet. Sie entstanden in Reaktion auf die Verhaftung des RAF-Kerns im Sommer 1972 und versuchten, mit einer veränderten Organisationsform auf das Versagen der RAF-Gründer und die Fahndungserfolge des BKA zu reagieren. Später spaItete sich die RZ in zwei Flügel auf, in einen nationalen und einen internationalen.

Ideologie und Theorie

Die ideologischen Bezüge zwischen dem SDS, der treibenden Kraft der 68er-Bewegung, und der späteren RAF sind vielfältiger Natur gewesen. Zunächst einmal ist fest-zuhalten, dass es der Fraktion, die sich selbst als antiautoritäre bezeichnete und im September 1967 mehrheitsfähig wurde und mit Karl Dietrich Wolff den Bundesvorsitzen-den stellte, um eine Rehabilitierung des klassischen Anarchismus im Bakuninschen Sinne ging (Dutschke/Krahl 1980[1967]). Um dies zu erreichen, scheute man sich auch nicht, die von Marx am Individualanarchismus geübte Kritik zurückzuweisen. Unter den Voraussetzungen des Monopolkapitalismus, der das Bewusstsein der abhängig Produzierenden vernebele, so wurde argumentiert, gäbe es eine neue Ausgangsbasis für anarchistische Aktionen. Bakunin wurde für aktuell erklärt – man legte dessen verstreuten und nur schwer zugänglichen Schriften wieder auf und tagte unter dem Konterfei des bärtigen Russen, der 1848 zusammen mit Richard Wagner in Dresden auf den Barrikaden gestanden hatte.

Ein nächster Schritt bestand darin, die Durchführung direkter Aktionen zu propagieren, mit denen die Verpanzerungen des Alltagsbewusstseins erreicht und die Chancen zu einer Mobilisierung verbessert werden sollten. Insbesondere Dutschke war davon überzeugt, in der Forcierung von Demonstrationstechniken, die schrittweise zu illegalen Aktionsformen führen sollten, eine Art Dialektik zwischen Aktion und Aufklärung er-kennen zu können (vgl. Dutschke A). Dies alles war jedenfalls als integraler Bestandteil einer Eskalationsstrategie gedacht, mit der die bestehenden Verhältnisse attackiert wer-den sollten.
Am aufschlussreichsten ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass der Begriff „Stadtguerilla” im deutschen Sprachraum erstmals von Rudi Dutschke verwendet worden ist. Er war davon überzeugt, dass es besonders gewaltsamer, zum Teil auch militärischer Aktionsformen bedürfe, um die Aussichten auf eine revolutionäre Veränderung der bestehenden Verhältnisse zu verbessern. Mit einer Adaption von Che Guevaras Focus-Theorie, die er im Anschluss an die illegale Plakataktion „Amis raus aus Vietnam” propagierte, zielte er, wie seine im Nachlass aufgefundenen Notizen belegen, bereits im Februar 1966 auf den Aufbau einer städtischen Guerilla (Dutschke 1966).

Öffentliche Verwendung fand dieser Begriff allerdings erst anderthalb Jahre später auf der SDS-Delegiertenkonferenz in Frankfurt, auf der sich der antiautoritäre Flügel erstmals durchzusetzen vermochte. Zusammen mit Hans-Jürgen Krahl hatte Dutschke das sogenannte „Organisationsreferat” verfasst, in dem die SDS-Mitglieder im September 1967 dazu aufgerufen wurden, sich künftig existentiell zu organisieren und als „Sabotage- und Verweigerungsguerilla” zu formieren (Dutschke/Krahl 1980: 7). Die Vorstellung, eine „rurale Guerilla” in der Dritten Welt durch eine „urbane Guerilla” in den „Metropolen” zu ergänzen, gründete nachweislich in der Focus-Theorie Che Guevaras ebenso wie in Carl Schmitts Theorie des Partisanen (vgl. Kraushaar 1987).

Auch wenn diese Adaption der Guerilla-Idee nicht mit der späteren RAF in eins gesetzt werden darf, so ist ihre Propagierung der vermutlich wichtigste Hinweis aus dem Zentrum der 68er-Bewegung auf das, was in den 1970er Jahren als praktizierte Form der Stadtguerilla gefolgt ist.

Akteure und Akteurs­gruppen

In einem strengen, objektiven Kriterien genügenden Sinne ist es kaum möglich, die Akteure und Akteursgruppen der 68er-Bewegung genauer zu bestimmen. Am ehesten wäre das noch mit dem SDS und anderen linken Studentengruppen wie dem Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD) und dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) möglich. Derartige Untersuchungen, die vor allem nach Fakultäten und Studienfächern unterschieden, sind bereits 1968 angestellt und zum Teil in der Presse veröffentlicht worden. Sie sind jedoch hier nur indirekt von Interesse.

Wichtiger ist es, zwischen den beiden wichtigsten im SDS vorhandenen Fraktionen zu unterscheiden, der traditionalistischen und der antiautoritären. Während die eine sich nicht zuletzt aus Mitgliedern der illegalen KPD rekrutierte und sich am Politikverständnis von Wolfgang Abendroth und der sogenannten Marburger Schule orientierte, ist die letztere aus der „Subversiven Aktion” hervorgegangen und bezog ihr theoretisches Selbstverständnis maßgeblich aus der Kritischen Theorie, insbesondere der Herbert Marcuses.

In überspitzter Weise könnte man davon sprechen, dass sich orthodoxe Kommunisten und undogmatische Sozialisten, zum Teil auch explizite Anarchisten gegenüberstanden. Während der Weltjugendfestspiele im Sommer 1968 in Sofia war der Streit zwischen diesen beiden Flügeln so sehr eskaliert, dass ein halbes Dutzend traditionalistisch eingestellter Mitglieder ausgeschlossen wurde (Kraushaar 1998: 213f,), In der Folge gründete sich dann der MSB Spartakus und die traditionell marxistische Strömung ging in Teilen in der neugegründeten DKP und ihren Neben- und Unterorganisationen auf.

Im Gegensatz zum SDS ist die APO ein Sammelbecken ganz unterschiedlicher Personengruppen wie Gewerkschaftlern, Christen, Jungarbeitern gewesen. In ihr versammelten sich vor allem jene, die tief enttäuscht davon waren, dass die SPD bereit war, mit der Union eine große Koalition einzugehen und es auf diesem Wege sogar zuzulassen, dem wegen der Spiegel-Affäre zurückgetretenen Franz-Josef Strauß erneut einen Platz in einem Bundeskabinett zu verschaffen. Sie suchten einen politischen Ausweg durch eine externe Korrektur des sozialdemokratischen Kurses auf dem Wege außer-parlamentarischer Kampagnen oder durch die Gründung einer sozialistischen Partei. Auf Grund ihrer Heterogenität lässt sich jedenfalls von ihrer personellen Zusammensetzung, ihrer ideologischen Ausrichtung und den von ihnen artikulierten Interessen her nur schwer eine verallgemeinerbare Verbindung zum gewaltbereiten Milieu herstellen, aus dem heraus dann die Gründung der ersten bewaffneten Gruppierungen erfolgte.

Das RAF-Führungsquartett bildeten zweifelsohne Horst Mahler, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Andreas Baader: ein Rechtsanwalt, eine Journalistin, eine Studentin und ein zwischen Dandy und Desperado oszillierender junger Mann. Keiner von ihnen zählte zu den zentralen Akteuren der 68er-Bewegung, niemand war Mitglied im SDS. Insbesondere die beiden zuletzt Genannten gehörten zur Peripherie: Sie waren im Sommer 1967 so etwas wie Satelliten der Kommune 1, wo sie im übrigen auch das Stichwort Warenhausbrandstiftung aufgeschnappt hatten.

Deutlicher wird der Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung und der Stadtguerilla, wenn man sich der ersten Gruppierung zuwendet, die im Herbst 1969 in den Untergrund gegangen ist. „Untergrund” ist hier keineswegs in einem übertragenen Sinne als vage Metapher mißzuverstehen. „Untergrund” meint Bildung einer klandestin operierenden Gruppe, deren Mitglieder Waffen tragen, Decknamen benutzen und sich in konspirativen Wohnquartieren aufhalten. Genau diese Merkmale trafen auf eine aus der Berliner und der Münchner Subkultur entstandene Gruppierung zu – die aus der Bewegung der Haschrebellen hervorgegangenen Tupamaros, genauer: die Tupamaros West-Berlin (TW) und die Tupamaros München (TM) (vgl. Kraushaar 2005b).

Die Köpfe dieser beiden ersten Stadtguerilla-Organisationen waren mit Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel zwei der drei führenden Akteure der Kommune I. Zu den Tupamaros zählten außerdem Georg von Rauch, Thomas Weisbecker, Michael „Bommi” Baumann, Ulrich Enzensberger, Ina Siepmann, Irmgard Möller und andere mehr. Die Berliner Kerngruppe war zuvor mehrere Wochen im Nahen Osten und hatte sich dort an Waffen, dem Umgang mit Sprengstoff sowie dem Bau und der Deponierung von Bomben ausbilden lassen. Am Beispiel dieser beiden Gruppierungen läßt sich die Transformation von einer Keimzelle der antiautoritären Bewegung, der Kommune I, in ein subkulturelles Milieu und die anschließende Abkapselung zu terroristischen Kleingruppen am genauesten studieren (Enzensberger 2004). Das alles hatte sich bereits ein halbes Jahr vor Gründung der RAF abgespielt. Im nachhinein lässt sich sagen, dass es sich um eine Vorstufe der späteren Bewegung 2. Juni gehandelt hat.

Entstehung und Entwicklung derartiger Gruppierungen lassen sich nicht einfach als Addition weniger Einzelbiographien begreifen. Die mit dem Kürzel RAF assoziierte Geschichte lässt sich weder in einer Kombination der Lebensläufe von Baader, Meinhof und Ensslin noch der von Vesper, Ensslin und Baader rekonstruieren. Wichtiger als die-se Fixierung auf einige wenige Akteure ist es, diese Personen zunächst als Ausdruck von Strömungen zu verstehen, die sich erst unter bestimmten Bedingungen zu Schlüsselfiguren einzelner Organisationen kristallisiert haben. Der Gedanke, dass man mit einigen wenigen Individualbiographien die Entstehungsgeschichte der RAF rekonstruieren könne, wie das etwa Gerd Koenen versucht hat, verkennt die Komplexität der Zusammenhänge und ist deshalb in manchen Zügen irreführend (Koenen 2003).

Aktionsformen

Nach dem Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 war die Zeit der Petitionen und Appelle, der Regeleinhaltungen und der Rituale endgültig vorbei. Die Ostermarschbewegung war mit der Transformation der Studenten- in eine Jugendbewegung und der schlagartigen Ausbreitung von West-Berlin auf die gesamte Bundesrepublik vorüber. Angesichts der freigesetzten Dynamik gaben deren Organisatoren schließlich im Frühsommer 1969 resigniert auf und stellten ihr pazifistisches Demonstrationsritual auf unabsehbare Zeit ein.

Nun begann zunächst eine Übergangsphase der begrenzten Regelverletzungen. Dann wurde Gewalt gegen Sachen propagiert. Mit dem Latenzcharakter der Gewalt in den so-genannten Metropolen und ihrer mangelnden Erfahrbarkeit hing es zusammen, dass Dutschke und seine Gefährten ständig auf der Suche nach Aktionsformen waren, die die Verpanzerung der Verhältnisse aufreißen und ihren gewaltsamen Kern freilegen sollten. Das Schlagwort, von dem am häufigsten Gebrauch gemacht wurde, lautete deshalb „direkte Aktion”. Ihnen kam es darauf an, durch möglichst genau geplante Einzel- oder Gruppenaktionen solche Nervpunkte zu treffen, durch die im Gegenzug das Gewaltpotential der Polizei und damit das des autoritären Staates herausgekitzelt werden konnten. Dutschke schrieb deshalb häufig von einer „Offensivtheorie” und einer „Eskalationsstrategie”. Die Universität figurierte in seinen Augen als „das schwächste Glied” im herrschenden System (Dutschke A: Bl.l). Von ihr aus versuchte er operative Basen auf-zubauen, die es ihm ermöglichen sollten, die Eskalation der Gewalt weiter voranzutreiben. Am Horizont stand bereits damals der bewaffnete Aufstand.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Anschläge – zunächst mit Brandflaschen, dann mit Bomben – verübt wurden. Bevorzugte Ziele waren US-amerikanische Politiker und Einrichtungen wie Amerika-Häuser. Wie rasch sich das steigerte, lässt sich an zwei Gelegenheiten ablesen. Während auf Vizepräsident Hubert Humphrey im April 1967 noch ein „Pudding-Attentat” verübt werden sollte, ging es beim Antrittsbesuch von Präsident Richard Nixon im Februar 1969 bereits um einen Bombenanschlag (Baumann 1975: 47). Dass diese auf einem Baugerüst deponierte Bombe, die am Rand der Weg-strecke lag, die Nixons Wagenkolonne passieren musste, nicht zündete, hing nur damit zusammen, dass wegen des zu dieser Zeit herrschenden Frostes die Batterie zu schwach war, um den Zündmechanismus auszulösen.

Diese stufenweise Entgrenzung der Gewalt vollzog sich noch in der Kernzeit der 68er-Bewegung, also zwischen dem Juni 1967 und dem Herbst 1969. Die schrittweise Eskalation betrieb jedoch nur eine Minderheit innerhalb der Bewegung. Die forcieren-den Kräfte lagen zunächst zweifelsohne im Zentrum des Berliner SDS, breiteten sich dann aber rasch über andere Hochschulgruppen in Frankfurt, München, Heidelberg usw. aus. Es war so, als habe jemand an einer unsichtbaren Schraube gedreht.

Eine neue Dimension hatte sich bereits kurz vor dem Dutschke-Attentat und der darauffolgenden explosiven Entladung während der Springer-Blockaden Ostern 1968 mit der Warenhausbrandstiftung in Frankfurt angekündigt. Womit die Mitglieder der Kommune 1 nur gespielt hatten – ein Attentat auf den US-Vizepräsidenten mit Pudding –, das setzten nun die von der Peripherie der Bewegung stammenden Akteure Baader, Ensslin, Söhnlein und Proll in Wirklichkeit um. Auch wenn es nur um Sachschaden ging, war damit eine weitere Grenze überschritten worden. Erst nach der Gründung der RAF im Mai 1970 folgten dann Einbrüche, Banküberfälle, Waffenraubaktionen, Bombenanschläge, später auch Entführungen und gezielte Attentate.

Die ebenso oft zitierte wie kaum weniger häufig wegen ihrer Unhaltbarkeit kritisierte Unterscheidung zwischen „Gewalt gegen Sachen” und „Gewalt gegen Personen” war eine Zeit lang für Dutschke und den SDS maßgeblich. Doch bereits nach kurzer Zeit wurde sie hinfällig. Vor, hinter und neben den Objekten standen häufig Polizeikräfte, die einen dazu zwangen, zu entscheiden, ob eine offensive Aktion abzubrechen oder trotz zu erwartender gewaltsamer Auseinandersetzungen durchzuführen sei. Um zu legitimieren, was in einem solchen Falle passieren könne, bediente sich Mahler der Metapher vom „platzenden Autoreifen”. So wie ein Wagenlenker immer damit rechnen müsse, dass ein platzender Reifen einen Unfall und damit einen Personenschaden verursachen könne, so müsse sich auch ein Revolutionär darüber im klaren sein, dass es im Zuge seiner Handlungen zu „Personenschäden”, also auch zu Verletzten und zu Todes-opfern kommen könne. Das gehöre in gewisser Weise zum revolutionären Berufsrisiko.

Zur histo­ri­schen Inter­punk­tion zwischen 1968 und RAF

Der von Ralf Dahrendorf im Zusammenhang mit der Fischer-Debatte zu Beginn des Jahres 2001 unternommene Versuch, möglichst scharf zwischen der 68er-Bewegung auf der einen und den zum Teil gewaltsamen Strömungen der siebziger Jahre auf der anderen Seite zu unterscheiden, ist in seiner Absicht leicht zu durchschauen und in dieser Rigorosität nicht aufrechtzuerhalten (Dahrendorf 2001). Weder die RAF noch die K-Gruppen, weder die Frauen- noch die Ökologiebewegung sind ohne die Vorgeschichte der 68er-Bewegung zu begreifen. Bei den Organisationen ebenso wie den Bewegungsformen handelt es sich um Zerfalls- bzw. Entmischungsprodukte der außerparlamentarischen Opposition. Zwar wäre es verfehlt, eine zu enge Kontinuität in programmatischer Hinsicht unterstellen zu wollen, jedoch ist sie in personeller Hinsicht so stark, dass eher Vorsicht geboten ist, sich dadurch in einer Art Umkehrschluss nicht zu falschen Schlussfolgerungen verleiten zu lassen. Im Gegensatz zu Dahrendorf, dem es offenbar darauf ankam, eine Interpretation der 68er-Bewegung von Dogmatismus und Terrorismus freizuhalten, um sie letztlich dem positiven Erbe der bundesdeutschen Demokratie zurechnen zu können, soll hier der zwar komplexe, aber nicht zu leugnende Gesamtzusammenhang betont werden.

Mit anderen Worten: Das Konzept, in einem hochindustrialisierten westeuropäischen Land, einer trotz aller Anfechtungen etablierten parlamentarischen Demokratie wie der Bundesrepublik eine eigene Guerilla-Gruppe aufbauen zu wollen, ist nicht ein-fach als das Zerfalls- und Verzweiflungsprodukt der 68er-Bewegung zu erklären.

Demgegenüber ist aber der genau entgegengesetzte Versuch, die Jahre zwischen 1967 und 1977 einzuklammern, ihnen die Bauchbinde Das rote Jahrzehnt umzulegen und alles mehr oder weniger zum Produkt einer Wahnvorstellung zu deklarieren, allerdings ebenfalls zum Scheitern verurteilt (Koenen 2001).

Die Diskrepanz zwischen der APO (1967 und 1969) auf der einen und der RAF (1970-1998) auf der anderen Seite ist zu stark. In der ersten Phase ging es um eine breite Oppositionsbewegung, die sich im Kern gegen die Große Koalition und deren politische Zielsetzungen richtete. In der zweiten Phase, die ja angesichts der Entstehung von Frauen-, Öko- und neuer Friedensbewegung ohnehin nicht mit der RAF identifiziert werden kann, ging es um kleine, abgeschottete, klandestin operierende Gruppierungen, die jedoch mit ihrer Absicht, dem Staat und den Funktionseliten den Krieg zu erklären, über einen nicht unerheblichen Resonanzboden verfügten.

Diese merkwürdige, nur schwer zu fassende Interaktion zwischen einer terroristischen Sekte wie der RAF und einer Unterstützer- und Sympathisanten-Szene, die meinte, sich im vermeintlichen Opferstatus von RAF-Häftlingen wiedererkennen zu müssen, ist das bislang am schwierigsten zu durchschauende und zu beurteilende Kraftfeld.

Ein nicht unerheblicher Teil der Linken links von der SPD ist diesen Imaginationen seinerzeit auf den Leim gegangen. Den qualitativen Unterschied zwischen einer öffentlich agierenden Oppositionsbewegung auf der einen und der Fixierung auf eine klandestin operierende Terror-Sekte einebnen zu wollen, ist das Ideologische an der Formel vom „roten Jahrzehnt”.

Divergenzen und Diffusion: Die Wurzeln der RAF in den 1960er Jahren

Die Tatsache, dass es eine Beziehung zwischen 1968 und der RAF gegeben hat, lässt sich also nicht bestreiten. Es geht unter der Bestätigung dieser Voraussetzung eher dar-um, das Beziehungsgeflecht nach unterschiedlichen Gesichtspunkten zu entwirren und zu bewerten. Das Ergebnis der hier angestellten Überlegungen lautet:

  1. Was die Ideologien und Theorien anbelangt, so stammen einige der wichtigsten Denkfiguren der späteren Untergrund-Gruppierungen aus dem Arsenal einiger führender SDS-Mitglieder, insbesondere von Rudi Dutschke. Zu nennen sind hier die Idee der direkten Aktion, die Adaption von Guevaras Focustheorie und insbesondere
    die Propagierung einer spezifischen Form der Stadtguerilla, einer – wie es im Organisationsreferat heißt – „Sabotage- und Verweigerungsguerilla”. Der Schritt zur Gründung einer bewaffneten Organisation ist zumindest in konzeptioneller Hinsicht nicht mehr weit.

  • Hinsichtlich der personellen Verbindungen ist eine pauschale Zuordnung zwischen der 68er-Bewegung und der RAF nicht zulässig. Erst auf dem Wege einer doppelten Ausdifferenzierung ist es möglich, jene Akteure und Akteursgruppen ins Blickfeld zu bekommen, die den Schritt in den Untergrund vollzogen haben. Innerhalb der Bewegung geht es zunächst einmal um den SDS und darin wiederum um die antiautoritäre Fraktion, aus der eine In-group um Dutschke in Richtung auf eine Eskalation der Gewalt gedrängt und diesen Weg schließlich auch eingeschlagen hat. Obgleich es sich hier einerseits nur um die Minorität innerhalb einer bestimmten Fraktion handelt, so ist andererseits das Gewicht der betreffenden Einzelakteure besonders groß gewesen.
  • Bei der Analyse der verwendeten Aktionsformen werden zwei Momente unübersehbar: die Steigerung und die Grenzüberschreitung. Zum einen hat sich innerhalb eines nur kurzen Zeitraumes eine ständige Eskalation der Gewaltmittel vollzogen, die bereits vor dem Dutschke-Attentat im April 1968 so weit vorangeschritten war, dass mit Rudi Dutschke der charismatische Wortführer der 68er-Bewegung sich nicht da-von abhalten ließ, mit einer Bombe im Handgepäck eine Flugreise anzutreten, um einen Anschlag auf einen AFN-Sendemast zu ermöglichen (Nirumand 1989: 112-114). Zum anderen ging es nach einer kurzen Phase der begrenzten Regelverletzungen, in der noch Methoden des gewaltfreien Widerstands praktiziert wurden, nicht nur um illegale Aktionen, sondern zugleich um solche, die als terroristisch qualifiziert werden können.
  • Bereits auf dem Höhepunkt der 68er-Bewegung lassen sich also Linien erkennen, die in den Untergrund erster klandestin operierender terroristischer Gruppierungen führten. Diese Linien repräsentieren jedoch nicht die 68er-Bewegung in ihrer Gesamtheit, auch nicht den SDS als vergleichsweise singuläre Gruppierung und nicht einmal dessen antiautoritäre Fraktion als solche, sondern nur einzelne Wortführer und deren unmittelbares persönliches Umfeld. Insofern sollte sich jede Pauschalisierung verbieten – sowohl im Hinblick auf eine völlige Verleugnung des thematisierten Zusammenhanges als auch im Hinblick auf eine undifferenzierte Bestätigung.

    Die Überzeugung, dass es eine scharfgezogene Grenze zwischen der 68er-Bewegung und der RAF gegeben habe, eine Art „Brandmauer”, ist immer noch weit verbreitet. Nicht zu Unrecht kann sich die große Mehrheit all jener, die zwischen 1967 und 1969 gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg auf die Straße gegangen sind, darauf berufen, dass sie terroristischen Ambitionen gegenüber immun geblieben seien. Gleichwohl ist diese angebliche Mauer porös.
    Heute, Jahrzehnte danach, muss man sich auf der Linken einem Faktum stellen: Die Praxis der RAF, von den einen als Stadtguerilla, von den anderen als Terrorismus bezeichnet, hat Wurzeln, die bis in die Mitte der 1960er Jahre zurückreichen. Sie betreffen die wohl wirkungsmächtigste Strömung in SDS und APO — die antiautoritäre Bewegung, mit einigen ihrer wichtigsten Protagonisten.

    [1] Auslöser dieser Debatte war Kraushaar 2005c. Vgl. die Diskussionsbeiträge in der tageszeitung: Dirk Knipphals, Nach den Projektionen (23. Februar 2005); Klaus Meschkat, Rudi Dutschke und die Gewalt (5. März 2005); Wolfgang Kraushaar, Der Eskalationsstratege (8. März 2005); Robert Misik, Lob der Guerilla-Mentalität (15. März 2005); Arno Widmann, Auf dem Trip namens Revolution (22. März 2005); Stephan Schlak, Der Nicht-Anschlußfähige (30. März 2005); Christoph Bautz, Überholter Zündstoff (5. April 2005); Isolde Charim, Kampf um Sehnsüchte (13. April 2005); Jürgen Busche, Der schwankende Hintergrund (26. April 2005); Claus Leggewie, Entmystifiziert Euch! (3. Mai 2005); Gretchen Dutschke, Überdachte Positionen (8. August 2005).

    Literatur

    Baumann, Michael 1975: Wie alles anfing, München
    Bude, Heinz 2004: Erbschaft dieser Zeit. Der Terror von 1968 und die Geschichte der Bundesrepublik (unveröff. Ms.)
    Dahrendorf, Ralf 2001: Argumente von `68 können Militanz nicht verteidigen. Ein Gespräch mit Ralf Dahrendorf; in: Die Welt vom 18. Januar
    Dutschke, Rudi A: Notizen, Mappe 3, Fokustheorie i. d. 3. Welt und ihre Neubestimmung in den Metropolen, Blatt 1-3, undatiert, K 21/48, Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung
    Dutschke, Rudi 2002 [1966]: Referat von vom 13. Februar 1966, handschriftliche Aufzeichnungen; in: Lönnendonker, Siegward/Rabehl, Bernd/Staadt, Jochen: Die antiautoritäre Revolte, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD, Bd. 1: 1960-1967, Wiesbaden, S. 235-237
    Dutschke, RudilKrahl, Hans-Jürgen 1980 [1967]: Organisationsreferat; in: diskus – Frankfurter Studentenzeitung, 30. Jg., Nr. 1/2, Februar, S. 6-9
    Enzensberger, Ulrich 2004: Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967-1969, Köln
    Koenen, Gerd 2001: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine Kulturrevolution, Köln
    Koenen, Gerd 2003: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln
    Kraushaar, Wolfgang 1987: Autoritärer Staat und antiautoritäre Bewegung. Zum Organisationsreferat
    von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl; in: 1999 – Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und
    21. Jahrhunderts, 2. Jg., Heft 3, S. 76-104
    Kraushaar, Wolfgang 1998: 1968 – Das Jahr, das alles verändert hat, München
    Kraushaar, Wolfgang 2001: Fischer in Frankfurt. Karriere eines Außenseiters, Hamburg
    Kraushaar, Wolfgang 2005a: Im Schatten der RAF. Zur Entstehungsgeschichte der „Revolutionären
    Zellen”; in: Klaus Biesenbach (Hg.), Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung, Göttin-
    gen, S. 72-76
    Kraushaar, Wolfgang 2005b: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg
    Kraushaar, Wolfgang 2005c: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf; in: Wolfgang Kraushaar/ Karin WielandlJan Philipp Reemtsma: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg, S. 13-50
    Langguth, Gerd 2001: Mythos 68. Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke – Ursachen und Folgen der Studentenbewegung
    Meinhof, Ulrike 1997 [1971]: Das Konzept Stadtguerilla; in: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin, S. 27-48
    Millot, Lorraine 1998: Allemagne: un nouveau pouvoir marque par 68; in: Liberation vom 2. Oktober Nirumand, Bahman 1989: Leben mit den Deutschen. Briefe an Leila, Reinbek
    Reinecke, Stefan 2003: Otto Schily. Vom RAF-Anwalt zum Innenminister, Hamburg

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