Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Der demokra­ti­sche Sozial­staat:

Ein Politikangebot für die Linke nach Rot-Grün*

aus: Vorgänge Nr. 171/172 (Heft 3-4/2005), S. 94-102

Krise und Kritik des Sozial­staats

Wie auch immer man es dreht und wendet: Die vergangenen sieben Jahre unter rot-grüner Regierung in Deutschland waren keine gute Zeit für den deutschen Sozialstaat. Zwar ist die Kritik am Sozialstaat so alt wie dieser selbst, und auch die Rede von seiner „Krise” gehörte früh schon – und gehört seit nunmehr drei Jahrzehnten ununterbrochen – zum guten Ton der öffentlich-politischen Debatte; Krise und Kritik sind also ständige Begleiterinnen der sozialstaatlichen Entwicklung (und dies keineswegs nur hierzulande). Und doch haben Krise und Kritik des Sozialstaats in den vergangenen Jahren einen Gestaltwandel vollzogen — in mindestens dreifacher Hinsicht.

Zum einen hat sich die objektive Geschäftsgrundlage des sozialstaatlichen Arrangements verschoben: Von der Internationalisierung der Wirtschaft bis zur Europäisierung der Politik, von der Individualisierung der Gesellschaft bis zur Entstandardisierung des Lebenslaufs ist vieles nicht mehr so, wie es im golden age des „keynesianischen Wohlfahrtsstaates” war. Zum anderen wird im Übergang zum silver age (Taylor-Gooby 2002) der wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsformation die Kritik am Sozialstaat nicht mehr nur aus dem Lager der „üblichen Verdächtigen” heraus geübt, sondern ist auch in bislang als„sozialstaatsfreundlich” geltende Milieus diffundiert. Der deutsche Sozialstaat etwa gilt nicht mehr nur Arbeitgeberpräsidenten, Wirtschaftsjournalisten und Ökonomieprofessoren, sondern galt zuletzt eben auch dem grünen Establishment, weiten Teilen der sozialdemokratischen Parteielite und wer weiß wem sonst noch alles als der Inbegriff falsch verstandener Wohltätigkeit, systematischer Fehlanreize und einer öffentlich geförderten Mitnahmementalität. Drittens schließlich kehrt in jüngster Zeit — von der politischen Linken hierzulande noch weitgehend uneingestanden – das im Zeichen der anhaltenden Ausdehnung des Sozialstaates und seiner Interventionen über-wunden geglaubte Phänomen massenhafter „Verwundbarkeit” in die gesellschaftliche Realität der reichen Industrie- bzw. Dienstleistungsnationen zurück (vgl. Castel 2000) — und damit in Gesellschaften, die auf diese Renaissance der „sozialen Frage” offenkundiaweder mental noch institutionell vorbereitet sind.

In Anbetracht dieses dreifachen Wandels kann es nach dem Ende der linken Regierungskoalition sozialpolitisch weder ein einfaches „Zurück” hinter die rot-grünen Verhältnisse noch gar ein bloßes „Weiter so” in der Hoffnung auf bessere Zeiten geben. Denn zum einen ist der herrschenden Kritik am Sozialstaat durch eine reine Verteidigung seiner bestehenden Strukturen und Instrumente nicht wirksam zu begegnen; und zum anderen verlangen die unverkennbaren Krisentendenzen des deutschen Sozialstaatsmodells in der Tat nach einer Neuausrichtung sozialpolitischer Intervention — wenn auch nicht in dem Sinne des gängigen Rufs nach „Reformen”, dem sich auch die abgetretene rot-grüne Bundesregierung nicht verschließen wollte oder, darüber mag man streiten, konnte.

Die Argumente der Sozial­staats­gegner

Die in den vergangenen Jahren zunehmend gebräuchliche Semantik „notwendiger”, ja „unausweichlicher” Reformen des deutschen Sozialstaats hat zwei Varianten. Die pragmatische Position verlässt sich ganz auf den diskreten Charme des finanzpolitischen Arguments und sucht mit einem schlichten „das können wir uns nicht mehr leisten” den Rückbau des Sozialstaats zu entproblematisieren. Die fundamentalistische Version verlässt sich nicht auf die normative Kraft des Fiskalischen, sondern überzieht den Sozialstaat zusätzlich mit einer moralisierenden Missachtung, weil dieser die Menschen entmündige, ihre Eigenverantwortung untergrabe, Selbständigkeit verhindere, ja sich seine „sozialen Probleme” überhaupt erst selbst schaffe. Diese radikalisierte Kritik am Sozialstaat – die die zunehmend sichtbar werdenden Funktionsprobleme der sozial-staatlichen Institutionen zum Teil verschärft, zu einem guten Teil aber wohl auch erst selbst herbeigeführt hat – ist Ausdruck eines tief liegenden, politisch gewendeten sozialen Ressentiments: eines Ressentiments gegen die sozialhistorisch revolutionäre Überwindung des Widerspruchs von Arbeit und Eigentum durch den (und im) modernen Sozialstaat. Dieser nämlich zielt von seiner Idee her – was auch immer man gegen die konkreten Realisationsformen dieser Idee sagen mag – darauf ab, neben und außerhalb des Privateigentums eine  „Sozialeigentums” (vgl. Castel 2005) zu errichten, die (bzw. das) auch den Nicht Besitzenden ein Leben in Würde und sozialer Sicherheit ermöglicht.

Der Sozialstaat der westlichen Industriegesellschaften der Nachkriegszeit hat die Politik des Sozial- bzw. Transfereigentums auf beeindruckende Weise vorantreiben können – bis zu jenem Punkt, an dem ökonomische Daten und politische Interessen, soweit man beides auseinander halten kann, dieser Bewegung Einhalt geboten bzw. zu gebieten versucht haben. Die aus diesem Versuch geborene Kritik am Sozialstaat aber ist sowohl in ihrer pragmatischen („der Sozialstaat ist zu teuer“) wie auch in ihrer fundamentalistischen („der Sozialstaat ist asozial“) Variante gleichermaßen grenzenlos und unersättlich: Sie ist in ihrem Drang nach Abbau von Sozialeigentum und damit nach Reprivatisierung von sozialen Risiken strukturell nicht zu befriedigen oder aufzuhalten, weder durch vorauseilenden „Reform“-Gehorsam noch durch wohlmeinende „Reform”- Verweigerung. Es gibt keine Stoppregeln für eine zunehmend enthemmte, verselbständigte, „automobile” (vgl. Luhmann 1981) Sozialstaatskritik: Auch nach der x-ten Kürzung kann der Lohnersatz immer noch als „zu hoch” kritisiert, bis zum letzten Arbeitslosen die Arbeitsanreizfunktion des sozialen Sicherungssystems als „unzureichend” dis-qualifiziert werden. Die wahren Freunde und Freundinnen des Sozialstaats werden sich also auf die prinzipielle Unendlichkeit sozialstaatsfeindlicher Bedürfnisse einstellen müssen.

Die politische Antwort auf die immer massiver werdende Kritik am bestehenden Sozialstaat kann sich schon aus diesem Grunde nicht auf eine bloße Verteidigung desselben beschränken. Sie kann dies darüber hinaus aber auch deshalb nicht, weil besagte Kritik trotz allem einen rationalen Kern hat, den zu leugnen nicht nur falsch, sondern auch unklug — weil letztlich selbstschädigend — wäre. Denn tatsächlich haften ja den Systemen sozialstaatlicher Sicherung und Fürsorge hierzulande Leistungsmängel, Finanzierungsprobleme und Gerechtigkeitsdefizite an, die sich nur schwerlich bestreiten lassen.

Der real existierende Sozialstaat in Deutschland leistet nicht das, was man von ihm erwartet. Er ist, gemessen an seiner Problemlösungsfähigkeit, in der Tat „zu teuer”, denn er kann seine Leistungsbezieher, insbesondere Langzeitarbeitslose und Familien mit Kindern, keineswegs immer über die Armutsschwelle heben. Er ist in seinen Leistungen, sei es bei der sozialpolitischen Bewertung unvollständiger Erwerbskarrieren, mit Blick auf faktische Rationierungsmaßnahmen im Gesundheitswesen oder hinsichtlich der Missachtung des Bedarfsprinzips in der Pflegeversicherung, ebenso ungerecht wie bei der Finanzierung seiner Ausgaben, die er in übermäßiger Weise und in Absehung vom Prinzip der Leistungsfähigkeit den abhängig Beschäftigten aufbürdet. Er verletzt den Gedanken der Leistungsgerechtigkeit nicht zuletzt auch dadurch, dass er faktisch die Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit duldet und damit vielen Millionen Menschen die Möglichkeit verwehrt, in einer durch Einkommensansprüche anerkannten Weise am System gesellschaftlicher Arbeitsteilung teilzuhaben. Mehr noch: Er trägt, zumal mit seinen jüngsten Umbaumaßnahmen, aktiv dazu bei, entsprechende individuelle Teilhaberechte in soziale Beteiligungspflichten umzudefinieren, und erzeugt systematisch Lebenslagen, die von materieller Prekarität und existenzieller Ungewissheit geprägt sind.

In der Summe all dieser Defizite ist die überwunden geglaubte „soziale Frage” auf paradoxe Weise, nämlich dem manifesten gesellschaftlichen Reichtum und einem gigantischen Sozialbudget zum Trotz, wieder aktuell geworden. Armut, Unsicherheit und die „Kultur des Zufalls” (Castel) sind in die wohlfahrtsstaatlich verfasste Gesellschaft zurückgekehrt — und zwar bis in deren von sozialer Verwundbarkeit und prekärem Wohlstand gezeichnete Mitte. Der leistende, sichernde, „sorgende” Staat der Nachkriegsindustriegesellschaft hat seinen Zenit überschritten – und ist doch noch nicht am Ende seiner Tage. Am „Nachmittag des Wohlfahrtsstaats” (Vogel 2004) – und am Morgen nach sieben Jahren rot-grüner Politik weniger mit ihm als gegen ihn – wird es für die demokratische Linke Zeit, aktiv zu werden: Zeit für einen Aufbruch im Namen der sozialstaatlichen Idee und ihrer offensiven Wiederbelebung.

Ein neues Leitbild für den Sozialstaat

Wer den Sozialstaat als Sphäre des „Sozialeigentums” erhalten und erneuern möchte, wird einer intellektuellen und politischen Doppelstrategie folgen müssen, die sich gleichermaßen gegen eine problemunangemessene Fundamentalkritik am Sozialstaat „an sich” wie auch gegen eine verzweifelte Rückwärtsverteidigung des deutschen Sozialstaats „wie wir ihn kannten” wendet. Es gibt gute Gründe für ein Festhalten an der sozialstaatlichen Idee — und ebenso gute Gründe für eine Abkehr von der konkreten Gestalt, die sie in den vergangenen Jahrzehnten in der Bundesrepublik angenommen hat. Was in dieser Konstellation Not tut, ist ein neues Leitbild für den Sozialstaat: ein Leitbild, das zum einen als Maßstab der Kritik am bestehenden sozialstaatlichen Arrangement wie auch an seinen entfesselten Kritikern dienen kann und das zum anderen als Orientierungsrahmen einer Neuausrichtung sozialstaatlicher Politik auf Seiten der demokratischen Linken zu fungieren vermag. Ein neues, positives Leitbild des Sozialstaats, das die Begründung seiner Notwendigkeit, die Kritik seiner Wirklichkeit und die Anleitung seiner Umgestaltung erlaubt.

Der normative, „positive” Bezugspunkt eines solchen Leitbildes muss im demokratischen Charakter des Gemeinwesens, sein funktionaler Bezugspunkt in der Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts gesucht werden (vgl. zum Folgenden Lessenich/Möhring-Hesse 2004). Der Sozialstaat bedarf einer starken, überzeugenden Legitimation, soll er heute und in Zukunft eine hinreichend große soziale Akzeptanz genießen. Eine solche Legitimation muss allgemein verfangen, also über die verschiedensten sozialen Gruppen und Weltanschauungen hinweg akzeptiert werden. Der grundlegenden Bestimmung des Sozialstaats, seiner Leistungen für und seiner Ansprüche an die Bürgerinnen und Bürger, von der demokratischen Idee her — und nur ihr allein — ist eine solch allgemeine und deswegen hinreichend starke und zuverlässige Legitimationskraft zuzutrauen. Denkt man also den Sozialstaat von der demokratischen Idee her, dann lässt er sich charakterisieren und legitimieren als Ausdruck und Garant der wechselseitigen Anerkennung und gegenseitigen Solidarität einander verpflichteter, politisch gleicher und sozialpolitisch gleich berechtigter Bürgerinnen und Bürger. Als solcher ist er dann, in klassisch soziologischer Terminologie, auch Ausdruck und Garant des „sozialen Bandes”, das die Bürgerinnen und Bürger, als Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens, eint.

Dieser „demokratische Sozialstaat” unterscheidet sich mit seiner veränderten Funktionszuschreibung, seinem erweiterten Adressatenkreis sowie seinem neu gewichteten Leistungsangebot in wesentlichen Aspekten vom überkommenen Sozialstaat. Der „demokratische Sozialstaat” steht für eine stärkere Entkoppelung sozialer Sicherheit vom System der Erwerbsarbeit, für eine Ausweitung der bislang auf Arbeitnehmer beschränkten Solidaritätsbeziehungen in den Sozialversicherungen sowie für eine Erweiterung des Leistungskatalogs im Bereich der sozialen Fürsorge. Denn es ist nicht mehr und nicht weniger als ein Gebot gelebter Demokratie, (a) die Sicherungsverbürgungen des Sozialstaates auch all jenen Menschen zukommen zu lassen, die vom Zugang zu Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind; (b) das bislang kategorial beschränkte Solidaritätsprinzip der Sozialversicherungen im Sinne einer bislang nur im Bereich der Fürsorge bekannten Allgemeinheit auszuweiten; (c) das Leistungsvermögen der sozialen Fürsorge im Gegenzug zu stärken und auf das bislang nur von den Adressaten der Sozialversicherungen erreichbare Niveau solidarischer Versorgung zu heben; sowie (d) allen Bürgerinnen und Bürgern – gleich in welcher Lebenslage sie sich befinden – einen vergleichbaren Sockel an Einkommensansprüchen und Dienstleistungsangeboten zu gewährleisten und auf diese Weise ihnen allen die gleiche Chance auf gesellschaftliche Partizipation zu bieten. Dabei ist der „demokratische Sozialstaat” insbesondere mit Blick auf die Verbreiterung und Verbesserung des Angebotes an sozialen Diensten gefordert – Diensten der Beratung, Begleitung, Bildung, Erziehung und Unterstützung. Denn nur als öffentliche Güter können entsprechende Dienstleistungen in dem erforderlichen Umfang und in der gebotenen Allgemeinheit bereitgestellt werden, und erst im allgemeinen und gleichen Zugang zu solch zunehmend lebenschancenrelevanten sozialen Diensten erfüllt sich der soziale Sicherungs- und Integrationsauftrag des „demokratischen Sozialstaats”.

Was der neue Sozialstaat leisten kann

Um falschen Erwartungen (seien es Hoffnungen oder Befürchtungen) sogleich vorzubeugen: Der demokratische Sozialstaat wird nicht „billiger” sein als der bestehende. Gleichwohl wird er gegenüber dem existierenden Arrangement zahlreiche Vorteile haben. Der demokratische Sozialstaat wird, erstens, problemlösungsfähiger sein: Programmatisch der effektiven Sicherung der finanziellen Mindestbedarfe aller Bürgerinnen und Bürger sowie der Gewährleistung ihres gleichen Zugangs zu öffentlichen sozialen Diensten verpflichtet, beseitigt er zuverlässig soziale Probleme der Unterversorgung und sichert damit die materiellen Voraussetzungen der Demokratie. Der demokratische Sozialstaat wird, zweitens, komplexitätsangemessener sein, indem er die Bildungs-, Familien- und Infrastrukturpolitik als konstitutive Elemente sozialpolitischer Gestaltung in seine Programme und Interventionen mit einbezieht und bei der Bereitstellung öffentlicher Güter die offene Kooperation mit nicht-staatlichen Akteuren sucht. Der demokratische Sozialstaat wird, drittens, gesellschaftlich besser legitimiert sein, weil er mit der Gewährleistung der allgemeinen und gleichen Teilhabe aller Menschen an seinen Leistungen und Diensten, mit der Förderung einer geschlechtergerechten Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit, mit dem gleichwertigen Schutz aller Arbeits- und Lebensformen, schließlich mit der Sorge um eine angemessene Balance von Arbeit und Leben den Gerechtigkeitsvorstellungen und Lebensentwürfen seiner Bürge-rinnen und Bürger genügt oder jedenfalls entgegenkommt. Der demokratische Sozialstaat wird, viertens, besser finanzierbar sein – und zwar zum einen gerade wegen seiner erhöhten sozialen Akzeptanz, zum anderen deshalb, weil er seine Finanzierungsbasis durch die Verallgemeinerung der Beitragspflicht zu den Sozialversicherungen und durch die Durchsetzung des Prinzips der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit konsequent ausweitet und egalisiert. Der demokratische Sozialstaat wird, fünftens, wirtschaftlich und sozial produktiver sein. Denn mit der Verschiebung seiner Aktivitäten hin zur Produktion öffentlicher Güter ist er ein Instrument sozialer Vorsorge und wirtschaftlichen Wachstums sowie erweiterter Beschäftigungschancen gleichermaßen, und indem er den Interessen aller Bürgerinnen und Bürger an einem lebenswerten Gemeinwesen und einer lebendigen Demokratie Geltung verschafft, sichert er letztlich die nicht ökonomischen Voraussetzungen der Ökonomie gegen diese selbst. Der demokratische Sozialstaat wird schließlich, sechstens, erwartungsstabiler sein und damit eines der höchsten (und empfindlichsten) sozialen Güter in modernen Gesellschaften zu gewährleisten vermögen. Über Mindestsicherungen, öffentliche Güter und kollektive Vorsorge organisiert er eine gesellschaftliche Solidarität, die in gleicher Weise die Erwartung auf akute wechselseitige Hilfe zu erfüllen und die Erwartung auf die Dauerhaftigkeit dieser verallgemeinerten Gegenseitigkeit – auch über die eigene Lebenszeit hinaus – zu stützen vermag. Der demokratische Sozialstaat ist somit Ausdruck und Garant nicht nur des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Gegenwart, sondern zugleich auch des gemeinsamen Interesses aller Bürgerinnen und Bürger, genau diesen sozialen Zusammenhalt auf Dauer zu stellen.

All dies sind, je für sich genommen und zumal in ihrer Summe, bedeutsame Argumente für den demokratischen Sozialstaat. Ein letztes, abschließendes Argument aber ist, in Anbetracht der gegenwärtigen Debatten um die Zukunft des Sozialstaats und im Kontext einer Neudefinition linker Sozialpolitik in Deutschland, vielleicht das entscheidende: Der demokratische Sozialstaat wird ehrlicher sein. Denn seine Idee gründet auf einer einfachen Erkenntnis: dass nämlich (a) die soziale Integration hochdifferenzierter Gesellschaften ihren Preis hat, dass (b) dieser Preis – in monetären Größen bemessen – hoch ist, und dass er (c) in Zukunft – im Zeichen weiter um sich greifender Tendenzen der Individualisierung, Flexibilisierung und Prekarisierung – jedenfalls nicht geringer werden wird. Der demokratische Sozialstaat wird aus einer politischen Debatte über die Frage hervorgehen müssen, ob diese Gesellschaft, ob ihre Bürgerinnen und Bürger, den Preis ihres sozialen Zusammenhalts zu zahlen bereit sind – oder anders gesagt: was es ihnen wert ist, ihre Demokratie mit Leben zu erfüllen. Der demokratische Sozialstaat wird dann in Umfang und Gestalt nicht mehr und nicht weniger sein als das Symbol und Instrument dieser gesellschaftlichen Wertschätzung der Demokratie.

Struk­tur­pro­bleme des „demo­kra­ti­schen Sozial­staats”

Der demokratische Sozialstaat als Vermittler, Organisator und Garant des sozialen Zusammenhalts ist – so die Behauptung – eine gute Idee mit Blick auf die programmatische Wiederbelebung linker Sozialpolitik in Deutschland. Aber jede gute Idee hat ihren Haken, und nicht jede gute Idee wird auch verwirklicht. Insofern weist das Leitbild des demokratischen Sozialstaats offene Flanken auf, die keineswegs verheimlicht werden sollen. Vielmehr gilt es zwei zentrale und unumgehbare Konfliktfelder einer veränderten, demokratischen Politik mit dem Sozialstaat zu benennen.

Zum einen geht es dabei um das „Arbeitsregime” des — genauer: eines jeden — Sozialstaats der Zukunft. Der französische Soziologe Robert Castel (2000) hat eine beeindruckende „Chronik der Lohnarbeit” geschrieben, die mit der Krise der Lohnarbeitsgesellschaft im ausgehenden 20. Jahrhundert endet. Man wird Castel in drei zentralen Schlussfolgerungen seiner Analyse zustimmen können: (a) dass die von ihm konstatierte Erosion der Lohnarbeitsgesellschaft und die damit einhergehende Auflösung der Lohnarbeiterlage irreversibel ist; (b) dass bis auf den heutigen Tag noch keine glaub-würdige Alternative zur Lohnarbeitsgesellschaft existiert; und (c) dass die logische Antwort auf diese Situation in einer Strategie der Umverteilung von Arbeit besteht, so dass jeder einen Platz im Kontinuum der gesellschaftlich anerkannten Positionen findet, behält oder wieder findet — Positionen, die auf einer „echten Arbeit” (Castel) fußen und Voraussetzungen „für ein würdiges Dasein und soziale Rechte sind”. Man wird aber auch sagen müssen, dass diese Politik der gerechteren Verteilung der „produktiven Arbeit” nur die eine Seite der Arbeitsgesellschaft der Zukunft sein kann. Die andere Seite wird realistischerweise in einer Relativierung der Lohnarbeitsgesellschaft in dem Sinne bestehen müssen, dass das von Castel angesprochene Kontinuum der gesellschaftlich anerkannten, mit dem Anspruch auf ein würdiges Dasein und soziale Rechte verbundenen Positionen über das System der Erwerbsarbeit hinaus ausgeweitet wird. In diesem umstrittenen und (angesichts der jahrhundertealten Geschichte der Lohnarbeit selbstverständlich) umkämpften Prozess werden Idee und Politik des demokratischen Sozialstaats auf eine entscheidende Probe gestellt werden.

Das zweite zentrale Konfliktfeld eines jeden zukünftigen Sozialstaats wird dessen „Grenzregime” sein. Dass die dem demokratischen Sozialstaat zugrunde liegende Idee einer verallgemeinerten wechselseitigen Garantie gesellschaftlicher Teilhabechancen in Zeiten zunehmender (und zunehmend globaler) Armutsmigration eine normativ wie politisch anspruchsvolle Konzeption darstellt, ist nur schwerlich von der Hand zu weisen. In einer weltgesellschaftlichen Konstellation, in der Solidargemeinschaften nach wie vor national definiert werden, die auf Inklusionschancen spekulierende transnationale Mobilitätsbereitschaft jedoch tendenziell zunimmt, wird die Frage der Grenzen von gesellschaftlicher Zugehörigkeit und sozialer Berechtigung zu einem politischen Problem erster Ordnung. Das damit verbundene Dilemma des demokratischen Sozialstaates ist offenkundig: Seinem Selbstverständnis und seiner Begründungslogik gemäß auf universalistische Weise inklusiv, ist er zugleich in seinen Wirkeffekten und seiner Konstruktionslogik ein territorial auf die Bundesrepublik Deutschland begrenztes Arrangement, dessen Inklusivität nach innen mit Exklusivität nach außen erkauft wird. An dieser Stelle ist Leugnen tatsächlich zwecklos: Die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung über die Grenzen und Grenzziehungen des demokratischen Sozialstaats und seines universalistischen Inklusionsanspruchs wird einer der konfliktträchtigsten Prüfsteine einer — einer jeden — veränderten Politik mit dem Sozialstaat sein.

Wie auch immer also die politische Auseinandersetzung um den Sozialstaat und sei-ne Zukunft hierzulande weitergehen mag: Diese Gesellschaft wird — als demokratische — nicht darum herum kommen, sich den genannten Fragen zu stellen, Fragen der Erosi-on der Lohnarbeit, der Definition von Mitgliedschaft, Fragen letztlich immer des Preises der sozialen Integration unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Niemand, so stellt Castel (2000: 400) zum Abschluss seiner großen Studie in offensichtlicher Plausibilität fest, „besitzt Einfluss auf die Gesamtheit der Parameter, welche die gegenwärtig sich vollziehenden Wandlungen bestimmen”. Doch „zwei Variablen” benennt Castel, die sich „mit Sicherheit” als ausschlaggebend erweisen werden „bei dem Versuch, auf den Lauf der Dinge Einfluss zu nehmen”: „intellektuelle Anstrengung” und „politischer Wille”.

Was die eine Variable angeht, so ist mit der positiven Vision einer neuen Wohlfahrtsarchitektur, die dem hier skizzierten Leitbild des demokratischen Sozialstaats zugrunde liegt, eine erste intellektuelle Anstrengung vollbracht — der, soviel ist gewiss, viele weitere folgen werden müssen.[1] Was andererseits den politischen Willen betrifft, so stößt der wissenschaftliche Diskurs hier an manifeste — und schmerzlich bewusste — Grenzen. Intellektuelle Anstrengung muss an dieser Stelle mit appellativer Energie verbunden werden — der Rest ist Hoffnung. „Wir tragen die Risiken der Diagnose”, so hat Franz-Xaver Kaufmann (2002: 258) das Kalkül soziologischer Analysen auf den Punkt gebracht, „andere die Risiken der Entscheidung”. Der demokratische Sozialstaat, so viel ist sicher, steht und fällt mit der gesellschaftlich-politischen Parteinahme für seine Idee. Und er stellt ein Projekt dar, das sich die demokratische Linke hierzulande durchaus mit Gewinn zu eigen machen könnte. Im sozialpolitischen „Kampf der Leitbilder” könnte sie sich komparative Vorteile verschaffen, indem sie sich weder der „neoliberalen” Sprache des Sachzwangs und Anspruchsüberhangs noch einer sozialdefensiven Logik der Bewahrung und des Abwehrkampfs unterwerfen müsste — sobald sie den Mut hätte, neue Wege zu beschreiten und sich eine positive Utopie des Sozialstaats sowie eine politische Strategie seiner Vorwärtsverteidigung zu eigen zu machen.

In diesem Sinne gälte es, offensiv für den Sozialstaat zu streiten — aber für den Sozialstaat in veränderter, attraktiver Gestalt. Für einen Sozialstaat, der den zunehmenden Tendenzen gesellschaftlicher Individualisierung als politische Idee und sozialpolitisches Prinzip die wechselseitige Berechtigung und Verpflichtung der Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft entgegensetzt. Für einen Sozialstaat, der der Überzeugung entspringt und Rechnung trägt, dass sich die Bürgerinnen und Bürger einer demokratischen Gesellschaft — nicht moralisch, aber politisch — wechselseitige Anerkennung und den Ausgleich ihrer Lebenslagen „schulden”. Für einen Sozialstaat, der die Rückkehr der Unsicherheit als allgemeines soziales Risiko und die zunehmende soziale Verwundbarkeit bis in die „Mitte” der Gesellschaft hinein mit der Einbindung eines und einer jeden einzelnen in ein institutionelles Arrangement der verallgemeinerten Gegenseitigkeit beantwortet. Kurzum: Für einen Sozialstaat, der Ausdruck und Garant der Zugehörigkeit aller Bürgerinnen und Bürger zur demokratischen Gesellschaft gleichermaßen Berechtigter und Verpflichteter ist.

Manch einer oder eine auf der Linken wird meinen, es sei nicht die Zeit für eine sozialstaatliche Offensive, die Verteidigung des Erreichten gegen seine Verächter sei der-zeit hierzulande das höchste der sozialpolitischen Gefühle. Dieser Auffassung gilt es mit Nachdruck zu widersprechen. Die sozialstaatliche Idee wird sich nur behaupten, wenn sie auf innovative Weise, gleichsam „nach vorne hin”, in die Zukunft hinein, verteidigt wird. Ein Anfang eben hierfür ist gemacht, die Debatte ist eröffnet. Der „demokratische Sozialstaat” steht als Vorstellung im Raum. Jetzt muss man ihn „nur” noch wollen.

* Überarbeitete Fassung eines Beitrags in dem von der Otto Brenner Stiftung herausgegebenen Band Den Sozialstaat neu denken, Hamburg 2005.

[1] Die ausführliche Begründung, Beschreibung und politische Operationalisierung dieses Leitbildes findet sich in Lessenich/Möhring-Hesse 2005. Diese Veröffentlichung kann unter www.ottobrenner-stiftung.de kostenlos bezogen werden.

Literatur

Castel, Robert 2000: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz Castel, Robert 2005: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg Kaufmann, Franz-Xaver 2002: Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analysen, Opladen Lessenich, StephanlMöhring-Hesse, Matthias 2004: Ein neues Leitbild für den Sozialstaat. Eine Exper-
tise im Auftrag der Otto Brenner Stiftung und auf Initiative ihres wissenschaftlichen Gesprächs-
kreises, Berlin
Luhmann, Niklas 1981: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München/Wien
Taylor-Gooby, Peter 2002: The Silver Age of the Welfare State: Perspectives on Resilience; in: Journal of Social Policy 31 (4), S. 597-622
Vogel, Berthold 2004: Der Nachmittag des Wohlfahrtsstaats. Zur politischen Ordnung gesellschaftlicher Ungleichheit; in: Mittelweg 36 13 (4), S. 36-55

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