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Der lange Schatten der Macht

George W. Bush, der Supreme Court und die Zukunft der Bürgerrechte in den USA

aus: Vorgänge Nr.171/172 ( Heft 3-4/2005), S.260-269

„The President, who exercises a limited power,
may err without causing great urischief in the
State. Congress may decide anriss without de-
stroying the Union, because the electoral body in
which Congress originates may cause it to retract
its decision by changing its members. But if the
Supreme Court is euer composed of imprudent
men or bad citizens, the Union may be plunged
into anarchy or civil war.”

Alexis de Tocqueville, Democracy in America

Die Nominierung von Richtern für das oberste Verfassungsgericht gehört in den USA zu den entscheidenden Möglichkeiten eines Präsidenten, weit über die eigene Amtszeit hinaus Einfluss auf die politische Realität des Landes zu nehmen. Die Ernennungen für das oberste Verfassungsgericht erfolgen dort, im Gegensatz zu Deutschland, auf Lebenszeit und ohne Pensionsgrenze. Entsprechend üben die meisten Richter ihr Amt bis ins hohe Alter aus. Der heutige liberale Grandseigneur des Supreme Court, Richter John Paul Stevens, Jahrgang 1920, wurde z.B. 1975 noch von Gerald Ford nominiert. Personalentscheidungen, die heute getroffen werden, können also mehr als ein Vierteljahrhundert die Praxis der Verfassungsrechtsprechung prägen.

In seiner ersten Amtsperiode hatte George W. Bush keinen einzigen obersten Verfassungsrichter nominieren können, auch wenn der Fernsehprediger Pat Robertson 2003 öffentlich dafür beten lies, Gott möge drei der liberalen Verfassungsrichter abberufen. Vieles sprach in den letzten Jahren dafür, dass Gott doch kein Republikaner ist. Trotzdem nahm Bush bereits in seiner ersten Amtsperiode erheblichen Einfluss auf die künftigen Geschicke der Justiz: er nominierte eine große Zahl von Richtern für die Berufungsgerichte und für die Bezirksgerichte auf Bundesebene. Diese Richter werden ebenfalls auf Lebenszeit ernannt. Sie entscheiden ungleich mehr Fälle als die obersten Verfassungsrichter, sie erproben, was später häufig verfassungsgerichtliche Praxis wird und sie sind der Pool, aus dem später die obersten Verfassungsrichter gewählt werden. Bush konnte bereits rund ein Viertel dieser Richter auswählen, und auch wenn er nicht mit allen seinen Nominierungen durchsetzen konnte, sind seine Richter doch alle durchweg konservativ, unter ihnen entschiedene Abtreibungsgegner und Kritiker von Minderheitenförderung und Bürgerrechten sowie ehemalige Lobbyisten für Bergbau und Industrie.

Im Juli 2005 war es dann endlich soweit: Sandra Day O’Connor, seit 1981 Richterin am obersten Verfassungsgericht, kündigte Anfang Juli nach 24 Jahren Amtszeit an, zuriickzutreten, sobald ein Nachfolger gefunden sei. Zum ersten Mal seit 11 Jahren war eine Neubesetzung am Supreme Court möglich. Als dann noch im September der oberste Verfassungsrichter William Rehnquist (81) seinem Krebsleiden erlag, war der Weg frei für die lang ersehnte Neuausrichtung. Beide Neubesetzungen wurden in der amerikanischen Öffentlichkeit lange diskutiert, aber in unterschiedlicher Intensität: Der Tod William Rehnquists bot Bush lediglich die Gelegenheit einen alten Konservativen gegen einen jungen auszutauschen; die Nachfolge von O’Connor dagegen könnte die Urteilssprechung des Supreme Court einschneidend verändern: O’Connor war häufig die entscheidende Stimme, die swing vote, umkämpfter Urteile des Supreme Courts. Manchmal stimmte O’Connor mit dem konservativen Block – z.B. in der Entscheidung des obersten Verfassungsgerichts im Jahr 2000, die Nachzählung der Wählerstimmen in Florida zu stoppen und damit Bush zum Präsidenten zu machen oder bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Exekution Minderjähriger. In vielen Fällen aber hat O’Connor mit der liberalen Fraktion im Supreme Court gestimmt: Ihre Stimme war entscheidend für die Aufrechterhaltung der Abtreibungsrechtsprechung oder in Fragen der Verfassungsmäßigkeit der Minderheitenförderung. Im Hinblick auf die Trennung von Staat und Kirche hatte sie noch in der Woche vor ihrem Rücktritt mit entschieden, dass das Aufhängen der Zehn Gebote in einem Gerichtssaal verfassungswidrig sei.

Der von Bush zunächst nominierte Nach folger John Roberts, Richter am Berufungsge rieht in Washington D.C, schien ein ideale Kandidat. Roberts war öffentlich nie beson ders hervorgetreten, hatte wenig publiziert schien keiner bekannten konservativen Orga nisation anzugehören und hatte zudem dis Bilderbuchkarriere eines Juristen hinter sich – Ausbildung in Harvard, Referendariat am Su preme Court, Mitarbeiter im Beraterstab de Regierung, Posten bei der Generalstaatsan waltschaft. Kommentatoren wie David Brooke in der New York Times stellten Roberts als fachlich hervorragenden und politisch zurück haltenden Juristen dar, dessen Nominierun€ nur auf seinen tatsächlichen Qualifikationen beruhe und lediglich die Linke versuchte, dar aus eine politische Kontroverse zu machen Nur mühsam kam die Bewegung gegen Roberts in Gang – zunächst war da nicht mehr als ein tiefes Misstrauen, dass etwas an ihn faul sein müsse, wenn seine Nominierung vor den Konservativen, die einen politischer Wechsel im Supreme Court herbeiführen, wollten, so einhellig gutgeheißen wurde.

Dennoch wurde Bushs Ankündigung im September 2005, Roberts nun nicht als Nachfolger O’Connors, sondern als Nachfolger füg Rehnquist einsetzen zu wollen, von Seiten der Demokraten begrüßt. Dass der neue oberste Richter ein Konservativer sein würde, war unzweifelhaft; wichtig schien nur die Frage, welcher Typus von Konservativem es sein würde. Im Bereich des Verfassungsrechts lassen sich hier in den USA unterschiedliche Positionen ausmachen: Originalist Conservatives (manchmal auch als Textualists bezeichnet),die meinen, man habe sich an den ursprünglichen Absichten der Verfassungsväter zu orientieren (im derzeitigen Supreme Court durch Antonin Scalia vertreten); Libertarian Conservatives, die für individuelle Freiheitsrechte und gegen staatliches Handeln sind (vertreten durch Clarence Thomas); Traditionalist Conservatives, deren Rechtsauffassung sich an der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes orientiert (David Souter); Pragmatic Conservatives, die weniger an der Geschichte der Rechtsprechung oder dem Buchstaben der Verfassung interessiert sind als an pragmatischen Entscheidungen; und Deferential Conservatives, die meinen, das Verfassungsgericht solle sich nach Möglichkeit nicht in die Regierungsgeschäfte der Bundesregierung und der Einzelstaaten einmischen.

Roberts galt – wie auch sein Vorgänger Rehnquist – eher als pragmatischer Konservativer und wurde daher am 29. September mit großer Mehrheit bestätigt. Dass Roberts im Verlauf seiner Karriere Berater von Reagan und Mitarbeiter im Büro des Generalstaatsanwaltes Kenneth Starr in der Regierung von Bush Senior war, bevor ihn Bush Junior 2003 als Richter an das Berufungsgericht in Washington D.C. berief – all dies zählte nichts mehr angesichts der Erleichterung, dass es sich bei ihm zumindest nicht um einen religiösen Fundamentalisten handelte, dass er also kein extreme Supreme sei und sich mit seiner Wahl die Mehrheitsverhältnisse nicht entscheidend veränderten.

Bushs Debakel: Harriet Miers

Anfang Oktober 2005 hat unter der Führung des neuen Obersten Richters John Roberts die neue Sitzungsperiode des Supreme Courts begonnen. Der neue Roberts Court – dem zur Zeit bis zur Bestätigung ihres Nachfolgers auch noch O’Connor angehört – wird dabei Fälle hören, die sich u.a. mit Abtreibung, Religion, Meinungsfreiheit und der Todesstrafe beschäftigen. Derweil ist die Auseinandersetzung um die Nachfolge O’Connors noch heftiger entflammt. Bush nominierte zunächst Anfang Oktober Harriet Miers, Rechtsberaterin im Weißen Haus, als zukünftige Nachfolgerin Sandra Day O’Connors. Miers Kandidatur war von Anbeginn an heftiger Kritik von allen Seiten ausgesetzt. Man warf ihr mangelnde Erfahrung, unzureichende Kenntnisse des Verfassungsrechts und eine zu große Nähe zum Präsidenten vor. Von der religiösen Rechten wurde Miers trotz ihrer Loyalität zu Präsident Bush abgelehnt, weil ihre Haltung zur Abtreibungsfrage nicht eindeutig genug schien. Ende September zog Miers ihre Kandidatur zurück und einen Monat später nominierte Bush Samuel Alito, einen konservativen Bundesrichter am Bundesberufungsgericht für den 3. Gerichtskreis, dessen Anhörung für An-fang Januar 2006 geplant ist.

In der öffentlichen Diskussion um Alitos Nominierung spielt die Abtreibungsfrage ebenfalls eine große Rolle. Seit langer Zeit ist es erklärtes Ziel der Konservativen in den USA, die Entscheidung Roe v. Wade, die seit 1973 die Grundlage legaler Abtreibungen bildet, zu revidieren. Die Roe v. Wade begründete kein gerichtlich festgestelltes Recht auf Schwangerschaftsabbruch, sondern stellte fest, dass die Entscheidung eine Schwangerschaft auszutragen oder zu beenden eine so private, in die intimsten Lebensbereiche eingreifende ist, dass der Staat kein Recht habe, sich einzumischen.[1] Seit vielen Jahren gibt es Versuche, Roe v. Wade wenn nicht vollständig zu revidieren, so doch zumindest einzuschränken. Das ist in einigen Fällen auch gelungen (z.B. Webster v. Casey), aber das grundsätzliche Recht auf Abtreibungen besteht weiterhin – zum Ärger der religiösen Rechten.

Kampf um die Auslegung der neuen Sicher­heits­ge­setze

Auch wenn sich das öffentliche Interesse in den USA primär daran festmachte, dass eine Neubesetzung des Supreme Courts mit Alito ein Ende der bisherigen Abtreibungspraxis bzw. der Rechtsprechung hierzu bedeutet[2], stehen doch auch ganz andere Fragen zur Diskussion. Sandra Day O’Connor spielte nämlich auch wegen ihrer Haltung zu Bürgerrechten in Zeiten der Terrorismusbekämpfung eine wichtige Rolle. Sie war es, die die Urteilsbegründung des Supreme Courts formulierte, als dieser im letzten Jahr entschied, dassder Präsident amerikanische Bürger nicht ohne rechtliches Verfahren als „feindliche Kämpfer” klassifizieren und unbegrenzt in Haft halten könne. O’Connor stellte klar, dass Bürgerrechte auch in Kriegszeiten zu gelten haben und dass „state of war is not a blank check for the President” (Urteilsbegründung Hamdi v. Rumsfeld). O’Connor wies darauf hin, dass gerade in Kriegszeiten dem Schutz der Bürgerrechte eine besondere Bedeutung zukommt: „It is during our most challenging and uncertain moments that our nation’s commitment to due process is most severely tested, and it is in those times that we must preserve our commitment at home to the principles for which we fight abroad” (ebd.).

Due process, das Recht auf ein ordentliches Verfahren, ist aber nicht das einzige Grundrecht, das in den USA seit Beginn des War on Terror in Gefahr geraten ist. Die im sog. PATRIOT Act (Provide Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism) gebündelten Sicherheitsgesetze, die sechs Wochen nach den Anschlägen 2001 verabschiedet wurden, enthalten eine Vielzahl von problematischen Erweiterungen staatlicher Überwachungsbefugnisse (vgl. Rürup 2002; Rürup 2003; Rürup 2004a; Rürup 2004b).[3] Noch hat es keine Verfahren vor dem Supreme Court aus diesem Rechtsbereich gegeben. Anders als in Deutschland nimmt das Oberste Verfassungsgericht in den USA keine Normenkontrollfunktion wahr, d.h. Gesetze werden nicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft, sondern es muss ein konkreter Fall durch die Instanzen gehen, bis er schlussendlich beim Supreme Court angelangt, der dann prüft, ob das angewendete Gesetz verfassungskonform ist. Es gibt also grundsätzlich eine zeitliche Verzögerung, bis Streitfragen vor dem Supreme Court entschieden werden. Langsam aber bewegen sich die anhängigen Verfahren aus dem Anwendungsbereich des PATRIOTAct vorwärts durch die Instanzen.[4]

Zu den Teilen der Sicherheitsgesetze, die sich auf dem Weg durch die Instanzen befinden, gehören die erweiterte Durchsuchungsund Überwachungsmöglichkeiten durch die National Security Letters. Bereits vor 2001 enthielten alle Gesetze in den USA, die die Privatsphäre vor staatlichen Übergriffen schützen, Ausnahmeregelungen, die dem FBI unter Berufung auf die nationale Sicherheit den Zugriff auf vertrauliche Daten ermöglichten. Grundlage dafür waren die sog. National Security Letters, eine Art außerordentlicher Durchsuchungsbefehle. Im PATRIOTAct wurde in Abschnitt 505 (Removing Obstacles to Investigating Terrorism) die Ausstellung und der Geltungsbereich dieser National Security Letters neu geregelt. Nun können National Security Letters nicht nur vom Generalstaatsanwalt ausgestellt werden, sondern auch von einfachen FBI-Beamten. Die Unterlagen müssen auch nicht mehr im Kontext einer konkreten Ermittlung stehen, sondern es reicht, dass sie „relevant” sind für eine „authorized investigation to protect against international terrorism or clandestine intelligence.”

In einem Verfahren, das die American Civil Liberties Union (ACLU) gegen das NSLStatut angestrengt hat, urteilte ein Bundesgericht, dass die National Security Letters in ihrer jetzigen Form den ersten und vierten Verfassungszusatz verletzen (ACLU v. John Ashcroft). Die amerikanische Regierung ging in Berufung und im November 2005 kam der Fall vor das Bundesberufungsgericht des Zweiten Gerichtskreises.[5] Im nächsten Jahr könnte der Fall vor dem Supreme Court verhandelt werden und die Entscheidung (auch) von O’Connors Nachfolger abhängen.

Ein weiterer Themenbereich aus dem Zusammenhang des PATRIOT Act, der sicherlich in näherer Zukunft vor dem Supreme Court verhandelt wird, ist die Überwachung und Durchsuchung nach dem Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA). Während der Regierung Nixon hatte der Supreme Court klargestellt, dass auch der Präsident kein Recht hat, die Privatsphäre seiner Bürger zu verletzen, Nixon hatte behauptet, er habe das Recht, jeden elektronisch überwachen zu lassen, den er als „Feind” definiere, was durch das Gericht abgelehnt wurde,6 Gleichzeitig stellte das Gericht aber auch fest, dass der Auslandsgeheimdienst eine Ausnahme darstelle und also sehr viel geringere Hürden für die Genehmigung von Abhöraktionen oder Durchsuchungen nötig seien, wenn es sich nicht um straf-rechtliche Ermittlungen, sondern lediglich um nachrichtendienstliches Sammeln von Informationen über Agenten fremder Mächte handelt. Durch die Erweiterung der Definition dessen, was es heißt, im Dienst einer fremden Macht zu stehen, kann FISA jetzt auch bei regulären Ermittlungen im War on Terror ein-gesetzt werden. Die Standards hierbei sind weitaus niedriger als die regulären — so sind z.B. Durchsuchungen und Lauschangriff möglich ohne nachgewiesenen „hinreichenden Verdacht”. Auch in diesem Bereich sind einige Verfahren anhängig, die u.U, in naher Zukunft vor dem Supreme Court verhandelt werden.

Der Umgang mit den Enemy Combatants

Von entscheidender Bedeutung werden auch die Fälle sein, die sich mit der Internierung der enemy combatants und den Befugnissen des Präsidenten im War on Terror beschäftigen. Einer der wichtigsten Fälle betrifft jedoch nicht die in Guantanamo (oder anderswo) inhaftierten Angehörigen unterschiedlicher Nationen, sondern den US-Staatsbürger Jose Padilla. Padilla war 2002 in Chicago festgenommen worden, unter dem Vorwurf, er habe eine radioaktiv verseuchte Bombe (dirty bomb) zünden wollen. Als er seine Inhaftierung vor einem Gericht in New York anfechten wollte, wurde er flugs zum enemy combatant erklärt und der Jurisdiktion der zivilen Gerichte entzogen. Seither sitzt er in Isolationshaft auf einem Schiff der US-Marine. 2004 wurde ein Verfahren vor dem Supreme Court aus formalen Gründen abgewiesen — die Klage hätte nicht in New York, wo Padilla zunächst inhaftiert war, sondern in South Carolina, wo das Schiff, auf dem er inhaftiert ist, ihren Heimathafen hat, eingereicht werden müssen. Nun ist das Verfahren wieder auf dem Weg durch die Instanzen. Zwei untere Gerichte haben festgestellt, dass Bush Padilla nicht als enemy combatant einstufen dürfe; das Bundesberufungsgericht des vierten Gerichtsbezirkes hat im September einstimmig Bushs Recht bestätigt, Padilla als enemy combatant in Militärgewahrsam zu halten; als nächster Schritt stand das neue Verfahren vor dem Supreme Court an. Im letzten — abgelehnten — Verfahren vor dem Supreme Court hatten fünf Richter angedeutet, dass sie zu Gunsten Padillas entschieden hätten, und die Regierung Bush war nicht erpicht auf eine Niederlage vor dem Supreme Court. Prompt wurde Padilla jetzt wieder einem zivilen Gericht über-antwortet, das jetzt aber nicht mehr über dirty bombs, sondern nur noch über Unterstützung einer terroristischen Organisation entschieden soll. Das Berufungsgericht will aber dem nicht zustimmen, weil der berechtigte Eindruck entstanden ist, dass sich die US-Regierung hier ausschließlich nach taktischen Gesichtspunkten verhält und zudem nicht auszuschließen ist, dass die Regierung ihn zu einem späteren Zeitpunkt erneut zum enemy combatant erklärt.

Die Wahrung der Rechte von Nicht-­Stats­bür­gern

Padillas Fall ist ungewöhnlich, weil es sich um einen US-Staatsbürger handelt, während die Mehrzahl der Fälle, z.B. in Guantanamo, Angehörige anderer Staaten betrifft. In den hier laufenden Prozessen geht es also um die Rechte von Nicht-Staatsbürgern. Gängige Rechtsauffassung in den USA — die seit den 1970er Jahren auch verschiedentlich vom Supreme Court bestätigt wurde — ist, dass verfassungsmäßige Rechte nicht nur für Staatsbürger, sondern auch für alle sich legal im Landeaufhaltenden Ausländer gelten. Der Verfassungsrichter Harry Blackmun schrieb 1971 in der Urteilsbegründung eines Falles, indem es um Sozialhilfe für Nicht-Staatsbürger ging: „classifications based on alienage, like those based on nationality or race, are inherently suspect” (in der Urteilsbegründung Graham v. Richardson). In den 1980er Jahren ging der Supreme Court noch weiter und stellte fest, dass grundlegende Verfassungsgarantien, wie der gleiche Schutz vor dem Gesetz und das Recht auf ein ordentliches Verfahren, für alle Menschen unabhängig von ihrem Einwanderungsstatus gälte, also auch für sich illegal im Land Aufhaltende (z. B. Plyler v. Doe 1982). Diese Rechtsauffassung wird von der US-Regierung in den Guantanamo-Fällen in Frage gestellt. Im Fall Rasul v. Bush stellte der Supreme Court fest, dass ausschlaggebend lediglich die Frage sei, ob Guantanamo amerikanischer Jurisdiktion unterliege (was der Supreme Court bestätigte), nicht jedoch, ob die Inhaftierten die amerikanische Staatsbürgerschaft besäßen. „They are not nationals of countries at war with the United States, and they deny that they have engaged in or plotted acts of aggression against this country; they have never been afforded access to any tribunal, much less charged with and convicted of wrongdoing.” (John Paul Stevens in der Urteilsbegründung) Das Gericht urteile daher, dass die Gefangenen in Guantanamo ein Recht hätten, ihre Internierung gerichtlich anzufechten.

Seither hat es aber neue Prozesse gegeben und die wichtigste Entscheidung im Hinblick auf das Maß präsidialer Macht und im Hin-blick auf die Zukunft der Internierten in Guntanamo ist die im Juli 2005 gefällte Entscheidung des District Court in Washington, im Fall Hamdan v. Rumsfeld. Das Hamdan-Urteil bestätigte das Recht des Präsidenten, Gefangene außerhalb der Jurisdiktion der zivilen Gerichte und ohne Schutz durch Militärgerichte unter Missachtung der Genfer Konventionen festzuhalten. Das Gericht unter Führung von John Roberts stellte die Nichtzuständigkeit der US-Gerichte fest.

Bei Hamdan wie bei Padilla geht es maßgeblich um die Machtbefugnisse des Präsidenten in Kriegszeiten. Hier gilt eben nicht nur O’Connors Aussage, dass es keinen Blankoscheck für den Präsidenten gäbe, sondern auch Feststellungen wie die von Rehnquist, der schrieb „In time of war, presidents may act in ways that push their legal authority to its outer limits, if not beyon.” (zit, nach Hentoff 2003). Die Besetzungen, die Bush jetzt vornimmt, werden alle Hamdan-, Hamdi- und Padilla-Fälle der kommenden Jahre oder Jahrzehnte entscheiden. Das ist der Kern der gegenwärtig ausgetragenen Konflikte.

Bürger­rechte in Kriegs­zeiten

Die Tatsache, dass der Kongress und die Exekutive in Kriegs- und Krisenzeiten im Namen der nationalen Sicherheit Maßnahmen ergreifen, die die Machtbefugnisse der Regierung vergrößern und die Rechte der Bürger ein-schränken, ist an sich nichts Neues (vgl. Ignatieff 2004). Auch dass die Gerichte ihrer Funktion als Kontrollinstanz gegen Machtmissbrauch von Exekutive oder Legislative nur mangelhaft nachkommen, ist bereits häufiger vorgekommen. Das bekannteste Beispiel ist die Zustimmung des Supreme Court zur Internierung der Amerikaner japanischer Herkunft durch die Executive Order 9066 während des Zweiten Weltkrieges (z.B. in Korematsu v. United States, 1944). Bisher jedoch hat der Supreme Court zumeist nach Ende der akuten Bedrohungen seine Entscheidungen korrigiert.[7] So befand er 1866 in Ex parte Milligan nach Ende des amerikanischen Bürgerkrieges, dass die zeitweilige Aussetzung des Habeas Corpus Gesetzess [8]durch Präsident Lincoln während des Bürgerkrieges, die dazu führte, dass ca. 38.000 Bürger ohne Haftbefehl inhaftiert wurden, verfassungswidrig gewesen sei. — Ex parte Milligan wird in den letzten Jahren häufiger zitiert, weil der Supreme Court in seiner Urteilbegründung fest-stellte, dass Militärtribunale, dort wo „the courts are open and their process unobstructed”, nicht zulässig seien. Und noch sehr viel grundsätzlicher stellt der Supreme Court fest, dass die Verfassung auch für die Herrschenden gälte und dass sie in Kriegs- wie in Friedenszeiten gleichermaßen Anwendung finde: „The Constitution of the United States is a law for rulers and people, equally in war and in peace, and covers with the shield of its protection all classes of men, at all times, and under all circumstances.” (Richter Davis in der Urteilsbegründung Ex Parte Milligan) Das tatsächlich Neue an der jetzigen Bedrohung ist, dass ihr Ende nicht abzusehen ist. Wir können also nicht vom „normalen” Pendelschlag zwischen restriktiverer Gesetzgebung und Auslegung der Gesetze in Kriegszeiten und der Revision und Wiederherstellung der Bürgerrechte in der Zeit nach den Konflikten ausgehen. Der War on Terror ist zeitlich unbefristet und es ist nicht vermessen anzunehmen, dass er die gesamte Amtszeit von John Roberts andauern wird.

Die Nominierung des neuen Verfas­sungs­rich­ters

Anfang Januar begannen die Anhörungen im Justizausschuss des Senates, nachdem sich dessen Mitglieder versucht haben, sich ein möglichst umfassendes Bild von Samuel Alito zu machen. Die Demokraten begannen damit, möglichst viele Unterlagen aus Alitos beruflicher Vergangenheit anzufordern und durchzuarbeiten. Jedes Gutachten, jedes interne Memo und jede Urteilsbegründung, die er verfasst hat, wurde untersucht. Zwar hat Alito in seiner Zeit als Richter keinen Fall entschieden, der eindeutig aus sensiblen Themenbereichen wie Bürgerrechte oder innere Sicherheit stammt, aber es gibt durchaus einige Fälle in seiner Karriere, die mit den Rechten von Einwanderern und Ausländern zu tun hatten. Seit Mitte November begannen auch Bürgerrechtsgruppen, die Auseinandersetzung mit Alitos Kandidatur über die Abtreibungsfrage hinaus zu suchen. Zu dieser Allianz gehören Gruppen wie People for the American Way, die Gewerkschaft A.F.L.-C.LO., Bürgerrechtsorganisationen wie National Association für the Advancement of Colored People, die ACLU und der Sierra Club.

Die Demokraten können — auch wenn sie nicht über Mehrheiten im Kongress verfügen, um Wechsel am Supreme Court aufzuhalten — zumindest einzelne Kandidaten für den Richterstuhl durch „Filibuster” verhindern. „Filibustem” nennt man das Blockieren der Gesetzgebung durch endlose Debatten, z.B. redete Senator Strom Thurmond 1957 geschlagene 24 Stunden und 18 Minuten, um die Verabschiedung des Civil Rights Acts zu blokkieren. Die Filibuster der Demokraten in den letzten Jahren waren weniger dramatisch: es wurden weder Bibelverse zitiert noch Telephonbücher vorgelesen; es gab keine schlafenden Abgeordneten und keine unrasierten, übernächtigten Redner. Dennoch haben die Demokraten zehn von 200 Kandidaten Bushs für Richterämter effektiv verhindert — zum Ärger der Republikaner, die nun damit drohen, die Verfahrensordnung zu ändern, um solche Blockaden zukünftig zu verhindern. Die Republikaner sehen sich offensichtlich langfristig in der Mehrheitsrolle — sonst würden sie kaum das wirkungsmächtigste Mittel der Opposition abschaffen wollen. Es ist aber fraglich, ob die Demokraten tatsächlich wegen der Meinungsverschiedenheiten über den War on Terror eine Totalblockade riskieren würden: Bei der Abtreibungsfrage wüssten sie wenigstens, dass sie dafür in der Wählergunst punkten; bei der inneren Sicherheit ist das fraglich. Aller Wahrscheinlichkeit nach — sollten nicht noch unerwartete Dinge aus den Akten auftauchen — werden die Demokraten Alito bestätigen, wie sie zuvor Roberts bestätigt haben.

Fazit

Wie weitreichend werden die Auswirkungen der Neubesetzung des Supreme Court auf die künftige Lage der Bürgerrechte in den USA tatsächlich sein? In der jetzigen politischen Situation, in der die Republikaner Senat und Abgeordnetenhaus kontrollieren, schien häufig allein der Supreme Court dem Abbau bürgerlicher Freiheitsrechte Einhalt gebieten zu können. Auch wenn der Supreme Court (im Durchschnitt der letzten zehn Jahre) nur 82 Fälle pro Jahr entscheidet und viele dieser Fällen politisch nicht umstritten sind und da-her einstimmig entschieden werden (2003 immerhin 36 Prozent), ist sein Einfluss auch auf die Rechtsprechung der unteren Instanzen nicht zu unterschätzen.

Eine gewisse Hoffnung besteht darin, dass Richter keineswegs immer den Erwartungen derjenigen gerecht werden, die sie nominiert haben. Sandra Day O’Connor beispielsweise wurde von Reagan nominiert, wie auch Anthony Kennedy, der 1989 im Fall Texas v. Johnson dafür stimmte, dass das Verbrennen der amerikanischen Flagge durch den ersten Verfassungszusatz (das Grundrecht auf Meinungsfreiheit) geschützt sei — zum Entsetzen aller Konservativen. Ein anderer, aktueller Fall ist Henry F. Floyd, von Präsident Bush 2003 nominierter Richter am Bezirksgericht auf Bundesebene in South Carolina, der im Februar 2005 urteilte, dass Präsident Bush amerikanische Bürger nicht zu feindlichen Kämpfern erklären könne.

Der wichtigste Punkt aber ist, dass die Gerichte — und also auch der Supreme Court — nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum operieren, weil Urteile des Verfassungsgerichtes auch kodifizieren, was denn nun nach Auffassung der Gesellschaft recht und billig sei, also teilweise einen nachholenden Charakter haben, der die rechtliche Wirklichkeit der gesellschaftlichen anpasst. Insoweit hat Tocqueville mit seiner Beobachtung recht: „[The Supreme Court Judges‘] power isenormous, but it is the power of public opinion. They are all-powerful as long as the people respect the law; but they would be impotent against popular neglect or contempt of the law. The force of public opinion is the most intractable of agents, because its exact limits cannot be defined; and it is not less dangerous to exceed than to remain below the boundary prescribed.”

[1] Das ist die übliche Praxis bei Supreme-Court-Verfahren: die Beteiligten versuchen jeweils einen möglichst erfolgsversprechenden Rahmen für ihre Anliegen zu finden, auch wenn die rechtliche Konstruktion mit dem eigentlichen Anliegen nicht viel zu tun hat. Zum Beispiel sind die meisten Auseinandersetzungen um die Trennung von Staat und Kirche in den letzten Jahren eingekleidet in den Kontext verfassungsmäßiger Garantien für die Meinungsfreiheit, deren Ausübung Konservative durch das Verbot der Religionsausübung in öffentlichen Räumen bedroht sehen.

[2] Eine mögliche Lesart der Fokussierung auf den Fall Roe v. Wade und die Abtreibungsfrage ist, dass Umfragen immer wieder zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner für Roe ist und sich daher mit der Zuspitzung darauf Stimmen gewinnen lassen. Wenn man also Alito nachweisen kann, eindeutig gegen Roe v. Wade zu sein, kann man damit Mehrheiten gegen ihn mobilisieren, die bei Fragen der inneren Sicherheit sonst so nicht gegeben wären.
[3] Aber in den nächsten Jahren steht genau das an, wahrscheinlich noch wichtiger als bisher angenommen, weil gerade die besonders problematischen Teile des PATRIOT Act, die nach Einwänden von Bürgerrechtlern bis 2001 befristet worden waren. Ende 2005 sollten diese entfristet werden.
[4] Eine Übersicht aller Verfahren im Zusammenhang mit dem Patriot Act in: Chang 2004.
[5] Während der Diskussionen im Kongress über die Entfristung des Patriot Acts auf Er-suchen der Regierung ausgesetzt.
[6] Angesichts neuer Enthüllungen über von Präsident Bush angeordnete Überwachungsmaßnahmen und seine Verteidigung dersel-
268 vorgänge Heft 3-4/2005, S. 260-269 Katharina Sophie Rürup: Der lange Schatten der Macht 2t
ben wird deutlich, dass seine Rechtsauffassung in diesem Punkt der von Richard Nixon näher ist als der Rechtsprechung des Supreme Court – oder der Verfassung.
[7] Auch die unglückliche Korematsu-Entscheidung wurde zu einem späteren Zeitpunkt revidiert (Korematsu v. United States 1984).
[8] Der Habeas Corpus Act ist das aus dem englischen Recht stammende verfassungsmäßig verankerte Recht eines jeden Bürgers, nicht ohne gerichtliche Untersuchung in Haft gehalten zu werden, und das Recht, den Grund der Verhaftung zu erfahren.

Literatur

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Sonstige Verfahren:
John Doe and ACLU v. Ashcroft, 2004 WL 218557 1 (SDNY) (Sept. 28, 2004)
Die Supreme-Court-Urteile, Urteilsbegründungen und Minderheitenvoten finden sich alle unter
http://www.supremecourtus.gov/opinions. Die meisten Urteile anderer Instanzen können über http:/llawcrawler.findlaw.com, http;/lwww.law.uchicago.edu oder http://www.law.cornell,edu erschlossen werden. Die zitierten Gesetze finden sich unter http://thomas.loc.gov
Zitierte Gesetze:
Uniting and Strengthening America by Providi
Appropriate Tools Required to Intercept a
Obstruct Terrorism (USA PATRIOT) ~
(2001). Pub. L. No. 107-56, 115 Stat. 272 FISA – Foreign Intelligence Surveillance Act
1978 (1978). Pub. L. No. 95- 511

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