Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Pink Tide regiert Latein­ame­rika

Verändert eine andere Linke die südamerikanische Politik?

aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3-4/2005 ), S.139-145

Drei Viertel der 350 Millionen Einwohner Südamerikas werden gegenwärtig von „linken” Präsidenten regiert, die in den letzten vier Jahren gewählt worden sind. Hierzu werden die Regierungen in Argentinien, Brasilien, Chile, Panama, Uruguay, und Venezuela gezählt, eine Gruppe, für die die New York Times den Namen Pink Tide (rosa Flut) geprägt hat. Die Betonung der Farbe „rosa” (und nicht „rot”) macht bereits deutlich, dass im Gegensatz zur früheren linken Politik in Lateinamerika heute weniger ein doktrinärer Sozialismus das Bild bestimmt als vielmehr ein pragmatischer Kurs (Mai-hold 1998). Mit ihm geht die Erkenntnis einher, dass nach dem Scheitern der marktorientierten Reformen der 1990er Jahre in der Region nunmehr die Betonung von Gleichheit und sozialer Absicherung in den Vordergrund rücken muss. Das Interesse der lateinamerikanischen Linken in den 1960er Jahren, ein eigenes Entwicklungs- und Gesellschaftsmodell auch auf Kosten der Demokratie zu begründen (Castaiieda 1993: 90ff.), erscheint in der heutigen Konjunktur nur noch vereinzelt durch (Arocena 2005: 157f.). Es dominiert das Motiv, zu einer besseren Regierungsführung mit einer realen Verbesserung der Lebenssituation und Beteiligung der breiten Bevölkerung beizutragen. Dass dabei ideologische Konzepte wie die „bolivarische Alternative” des venezolanischen Präsidenten Hugo Chävez auftauchen, zeigt die Breite der „anderen Linken” von heute auf – ein gemeinsamer politischer Nenner für die Linke ist dessen Programm allerdings nicht.

Pink Tide – Gemein­sam­keiten und Unter­schiede in einzelnen Ländern

Doch jenseits der schönen Pink Tide-Formel scheint die Realität in eine andere Richtung zu weisen. Man kann unterschiedliche Gruppierungen und Linien identifizieren, die sich teilweise auf gemeinsame Erfahrungen in der Zeit der Militärregime und erste demokratische Prägungen in der Amtsführung auf kommunaler und nationaler Ebene (z.B. Chile) zurückführen lassen. Dieser Gruppierung werden die Regierungen in Brasilien („Lula“ da Silva), Argentinien (Nestor Kirchner), Chile (Ricardo Lagos) und Uruguay (Tabare Väzquez) sowie die Präsidenten Panamas und der Dominikanischen Re-publik zugerechnet. Ihnen steht eine andere, radikalere Gruppe gegenüber: der — durch-aus einem romantischen Appeal folgend — venezolanische Präsident Hugo Chävez und der kubanische Regierungschef Fidel Castro (Petkoff 2005:119). Hierzu gehören dann auch zivilgesellschaftliche Strömungen wie die argentinische Sozialbewegung der Piqueteros und das Movimento Sem Terra der brasilianischen Landlosenbewegung. Ergänzt wird diese Gruppe durch die früheren Befreiungsbewegungen in EI Salvador (FMLN) und die sandinistische FSLN in Nicaragua. Hinzu kommt die auch von Indio-Bewegungen getragene Partei des bolivianischen Bauernführers Evo Morales, die insoweit ein neues, massenwirksames Element der Parteiengeschichte im Andenbereich darstellt.

Allerdings ignoriert eine solche Einteilung die Breite der inneren Strömungen der jeweiligen Parteien der Linken, die gerade in der brasilianischen Partido dos Trabalhadores (PT) extrem weit reichen (Branford et al. 2003: 23ff.). Der argentinische Peronismus, dem Nestor Kirchner entstammt, hat sich ohnedies als extrem mannigfaltige Bewegung erwiesen, in der sehr unterschiedliche politische Kräfte ihre Heimat finden (Medina 2003). Zudem bewegen sich die genannten Regierungen ordnungspolitisch auf völlig unterschiedlichen Bahnen: Während die chilenische Regierung mit dem sozialistischen Präsidenten Ricardo Lagos an der Spitze ein Offenmarktmodell mit hoher Weltmarktintegration erfolgreich betreibt, sind die Regierungen in Argentinien und Venezuela bemüht, neue staatszentrierte Wirtschaftskonzepte (wieder)zu erfinden, die an Konzepten des Entwicklungsstaates der Vergangenheit orientiert sind. Allerdings eint die Mehrzahl der „linken” Regierungen die Ablehnung der wirtschaftsliberalen und außenpolitischen Initiativen der US-Regierung gegenüber der Region (Petkoff 2005: 127), die insbesondere von der maßgeblichen außenpolitischen Kraft in Südamerika, der brasilianischen Regierung unter Präsident Luiz Inäcio „Lula” da Silva, gebremst werden konnten. Der Rolle von „Lula” als Leitbild der Linken in Lateinamerika kommt dabei besondere Bedeutung zu. Sein Erfolg oder Scheitern wird über die Grenzen seines Landes hinaus politische Folgen für Attraktivität linker Politik auf dem Subkontinent zeitigen (Paramio 2003: 19). Der gemeinsame Nenner der Pink Tide besteht insoweit vor allem in der negativen Position gegenüber den USA; die positive Bestimmung eines gemeinsamen Programms erscheint demgegenüber wegen der extremen Differenzen unmöglich.

Die Regierungen der neuen Linken suchen eine vorsichtige Distanzierung von der US-amerikanischen Position, insbesondere bei der Bildung eines kontinentalen Systems des Freihandels, die als FTAA (Free Trade Area of the Americas) bekannt geworden ist. Dieses Projekt, das eigentlich bis zum Jahre 2005 abgeschlossen sein sollte, hat sich nicht zuletzt wegen des brasilianischen Widerstandes verzögert; für den venezolanischen Präsidenten Chävez ist es bereits definitiv gescheitert (Maihold/Zilla 2005). Die USA haben darauf mit einer Veränderung ihrer wirtschaftspolitischen Strategie in der Region reagiert und versuchen nunmehr, durch bilaterale Freihandelsabkommen mit einzelnen Ländern, insbesondere in Zentralamerikas und dem Andenbereich, ihr Modellder wirtschaftlichen Kooperation weiter zu entwickeln. Insoweit stimmen wirtschaftliche Interessen und sicherheitspolitische Erwägungen Washingtons im Sinne der stärkeren US-Präsenz im großkaribischen Raum überein.

Damit verbunden ist der zweite Bezugspunkt der linken Regierungen des Kontinents, der sich auf die Wiederherstellung diplomatischer Beziehungen mit Kuba bezieht — vollzogen zuletzt vom neuen Präsidenten Uruguays Tabare Väzquez bei seiner Amtseinführung im März 2005. Der Umgang mit dem Regime Fidel Castros stellt einen Identifikationspunkt dar, der für die Gestaltung der Kontinentalbeziehungen eine immer größere Bedeutung erhält. Dabei spielt weniger eine Sympathie mit dem politischen System Kubas eine zentrale Rolle, als vielmehr die symbolische Bezugnahme auf die kubanische Revolution und ihren legendären Führer. Hinzu kommt die Ablehnung der US-amerikanischen Kuba-Politik als sichtbarstes außenpolitisches Zeichen der Regierung Bush, bezogen auf Lateinamerika.

Mit den 2006 bevorstehenden Wahlen in Mexiko und Nicaragua könnte bei entsprechenden Ergebnissen schon bald mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas „links” regiert werden, insbesondere wenn der in den Umfragen führende Kandidat der PRD (Partido de la Revoluciön Democrätica) Andres Manuel Löpez Obrador als neuer mexikanischer Präsident vereidigt würde. Damit erlebte Lateinamerika eine weitere Variante jener schon laufenden Welle von rot gefärbten Regierungen, die sich in den vergangenen Jahren etabliert haben. Parallel zum Aufstieg dieser links orientierten Regierungen verläuft der beinahe vollständige Zusammenbruch der traditionellen Kräfte sozialdemokratischer und christdemokratischer Art im politischen Spektrum Lateinamerikas, die sich nur noch in ausgewählten Ländern wie Chile oder Mexiko als tragende Pfeiler des politischen Systems behaupten können (Mainwaring 2003). Die Bedeutung des europäischen Bezugspunktes für die Entwicklung der politischen Parteien Lateinamerikas ist erkennbar verblasst. Vor allem in weiten Teilen der Andenregion manifestiert sich die Auflösung des überkommenen Parteiensystems und die Konversion von Parteien in Sammlungsbewegungen, die durch eine Führungspersönlichkeit, ethnische Identitäten oder neopopulistische Strukturen zusammengehalten werden (Steinhauf 2004). Paradigmatisch dafür steht der Anführer der Coca-Bauern in Bolivien Evo Morales, der im Dezember 2005 Präsident seines — nicht zuletzt durch sein eigenes Handeln — krisengeschüttelten Landes wurde.

Statt demokratischer Normalität scheinen viele Länder Lateinamerikas zu schon überwunden geglaubten Mustern politischer Organisation zurückzukehren. Diese Entwicklung macht auch vor den linken Kräften nicht halt. Sie werden immer mehr in die-sen Strudel der Abkehr von institutionellen Regeln der Demokratie hineingezogen. Allerdings gilt dies nicht für alle Fälle in gleichem Maße. Hinter der vordergründigen Gemeinsamkeit verbirgt sich eine Fülle unterschiedlicher Kräfte, die bis heute das politische Spektrum der Linken in Lateinamerika geprägt haben. Linke Dominanz nach dem Scheitern der Lateinamerikapolitik der USA?

Diese neue Dynamik in Lateinamerika belegt die tiefe Krise, in die die Politik der USA gegenüber Lateinamerika geraten ist. Wenn es noch eines weiteren Beweises dafür bedurfte, so hat das Scheitern des jüngsten Amerikagipfels in Mar del Plata/Argentinien der Öffentlichkeit dies nachhaltig vor Augen geführt (Nolte 2005). Nicht zuletzt die Konzentration auf den „Krieg gegen den Terror” hat zu einer Vernachlässigung der Außenpolitik der USA gegenüber dem Subkontinent geführt, der traditionell ein Hauptbezugspunkt eigner Sicherheitsinteressen gewesen war. Noch in den 1960er Jahren dominierte die an Entwicklungshilfe orientierte „Allianz für den Fortschritt” John F. Kennedys die Beziehungen der USA zu Lateinamerika. Mit den 1970er Jahren setzte sich als Handlungsmaxime die nationale Sicherheitsdoktrin zur Abwehr des Kommunismus durch. Die USA waren bereit, in der Region mit „freundlichen Tyrannen” zusammen zu arbeiten, die politische Stabilität auch auf Kosten demokratischer Regierungsformen und durch massive Verletzung der Menschenrechte sicherstellten. Die Kooperation mit den südamerikanischen Militärregierungen und Diktaturen prägte diese Ära. Militärische Interventionen in Zentralamerika waren Ausdruck des in der Tradition der Monroe-Doktrin stehenden US-Interesses, ausländische Mächte (insbesondere die Sowjetunion — vermittelt über Kuba) aus dem eigenen Einflussbereich fernzuhalten (Birle 2003). Die Konflikte in Zentralamerika nach dem Erfolg der Revolution in Nicaragua (1979) schienen in der Sicht der Regierung Reagan als unmittelbare Bedrohung und machten Gegenmaßnahmen erforderlich.

Mit dem Ende des Kalten Krieges wandelten sich die Prioritäten der Lateinamerikapolitik der USA. Es setzten sich ökonomische Themen durch, die von der Bewältigung der Schuldenkrise bis zum Vorschlag eines kontinentalen Freihandelsabkommens (FTAA) reichen (Russell 2003). Das verbindende Element war der „Washington-Konsens”, der die Reduzierung des Staatssektors und die Öffnung der Märkte im Rahmen der Kreditvergabe durch die internationalen Finanzorganisationen wie die Weltbank bedeutete. Die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die Strukturanpassungsprogramme wurden zum Muster dieses Konzepts. Mit dem Inkrafttreten des NAFTA-Abkommens zwischen Kanada, den USA und Mexiko im Jahre 1994 wurde ein Modell vorgegeben, das die USA in bilateralen Abkommen mit Chile, Zentralamerika und nun auch den anderen Ländern weiter entwickeln.

Die Stagnation in den Verhandlungen über das kontinentale Freihandelsabkommen ist eng mit dem Aufstieg Brasiliens als zentraler Führungsmacht in Südamerika verbunden. Dieses Rollenverständnis Brasiliens erlaubte es auch den USA nach den Attentaten vom 11. September 2001, sich auf den Kampf gegen weltweiten Terrorismus zu konzentrieren und nur noch ein sehr selektives Interesse für die Region aufzubringen. Dieses gilt vor allem dem Drogenkrieg, insbesondere im Fall Kolumbiens, wo durch interne Konflikte zwischen Guerillagruppen und Paramilitärs sowie deren Beteiligung an der Drogenökonomie eine friedliche Entwicklung blockiert ist. Die USA haben sich am „Plan Colombia” mit der Unterstützung militärischer Aktionen beteiligt, die auch die anderen Nachbarstaaten im Kampf gegen den Drogenanbau einschließt. Darüber hinaus hat sich die US-Politik bis in das Jahr 2004 wegen ihrer anderen weltpolitischen Prioritäten auf ein „freundlichen Desinteresse” gegenüber Lateinamerika beschränkt. Dies gilt vor allem gegenüber jenen Ländern der Region, die nicht aus innenpolitischen Gründen oder außenpolitischen Krisen in das Blickfeld des Präsidenten geraten sind. Somit ergaben sich neue Freiräume, die eine größere Autonomie von Führungsmächten in verschiedenen Gravitationszentren ermöglicht haben. Eine zentrale Rolle hat dabei Brasilien übernommen.

Brasilien — Partner oder Gegen­spieler der USA?

Bereits unter der Regierung von Präsident Fernando-Henrique Cardoso (1995-2002) versuchte sich das Land stärker in die Rolle einer Regionalmacht zu bringen, die auch Verantwortung für die Lösung politischer Konflikte übernimmt. Mit dieser Hinwendung zu den übrigen Ländern des Subkontinents, zu denen traditionell große Distanz bestand, hat sich Brasilien als zentrale Vormacht in Südamerika etabliert. Dies vollzog sich durchaus in Übereinstimmung mit den Interessen Washingtons, das im Rahmen seines steigenden disengagements in Südamerika (Coll 1997) bzw. des benign neglect gegenüber der Region (Wiarda 2001) Brasilien gerne als Ordnungsmacht zur eigenen Entlastung sah. Die Vertiefung des Integrationsprozesses im MERCOSUR, dem wirtschaftlichen Zusammenschluss von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, versprach eine Stabilisierung auf dem Subkontinent. Zudem gelang es Brasilien, erfolgreich in dem zwischenstaatlichen Konflikt zwischen Peru und Ecuador sowie den innenpolitischen Krisen Boliviens zusammen mit anderen Nachbarn zu vermitteln. Das Engagement des Landes mit Friedens- und Wiederaufbautruppen in Haiti hat dies noch weiter unterstrichen (Gratius 2004). Diese aktive brasilianische Nachbarschaftspolitik hat neue Möglichkeiten auch für den Gestaltungsanspruch des Landes auf weltpolitischer Bühne geschaffen: Gerade bei seinem Bemühen, erfolgreicher als neue Führungsmacht des Südens aufzutreten, geriet Brasilien unter der Führung von Präsident „Lula” da Silva in ei-ne internationale Konfrontationsstellung mit den USA, die es im interamerikanischen Verhältnis immer zu vermeiden gesucht hatte. Als Anführer der G20-Gruppe im Rahmen der WTO-Handelsrunde, als Führer einer Allianz von Mittelmächten des Südens gemeinsam mit Südafrika und Indien sowie mit seinem Anspruch auf einen permanenten Sitz im Weltsicherheitsrat wurde Brasiliens Ambition als gestaltende Kraft in der internationalen Politik erkennbar. Diese Initiative hat jedoch das Verhältnis zu den USA und insbesondere deren Erwartung an Brasilien, sich als stabilisierende Kraft in der Subregion durch Einbindung radikalerer Regierungen zu bewähren, nicht beeinträchtigt (Falcoff 2004: 2). Dies bewies auch der jüngste Besuch von Präsident Bush in Brasilia, der sich durch deutlich freundlichere Töne auszeichnete, als auf dem vorausgegangenen Amerika-Gipfel in Mar del Plata.

Die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung „Lula” und ihre prekäre parlamentarische Basis könnten den Impetus des brasilianischen Gestaltungsinteresses auf der Ebene der internationalen Ordnungspolitik abschwächen. Gleichwohl verstärken sich die Zeichen für ein kritisches partnerschaftliches Verhältnis mit den USA. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass mit Venezuela unter Präsident Hugo Chävez ein weiterer Akteur in das Handlungsfeld drängt, der aufgrund des strategischen Rohstoffes Öl und eines ideologisch überhöhten Programms zum Konfliktpunkt in den interamerikanischen Beziehungen geworden ist.

Hugo Chävez als Kristal­li­sa­ti­ons­punkt eines regionalen linken Projekts?

Die Öl-Bonanza hat Venezuela und der Regierung von Hugo Chävez eine zusätzliche Dynamik für die Erzielung internationalen politischen Gewichts verschafft. Getragen von einer bolivarischen Integrationsideologie, die die Einheit Lateinamerikas im Anschluss an Simon Bolivar definiert, hat sich Hugo Chävez zu einem zentralen Bezugspunkt der lateinamerikanischen Politik entwickelt. Seine Konfrontationsposition gegen-über den USA, die sich durch seine engen Verbindungen zu Kubas Staatschef Fidel Castro noch verstärkte, hat unmittelbare Rückwirkungen auf die lateinamerikanischen Gesellschaften. Angetrieben von einer Revolutionsrhetorik, die die Beteiligung und Verbesserung der Lage der benachteiligten Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt stellt, hat sich Chävez zum Wortführer einer populistischen lateinamerikanischen Linken entwickelt, die in ihm ihr neues Idol sieht. Mit einem gegen die traditionellen politischen Parteien gerichteten Diskurs und der direkten Ansprache des Volkes im überkommenen populistischen Stil (Werz 2003) hat sich Chävez eine Basis für ein an traditionelle Muster anknüpfendes Entwicklungskonzept verschafft (Diehl 2005), das den Kern politischen Handelns in der staatlichen Verfügung über die Erdölressourcen und deren Einsatz für innen- und außenpolitische Zwecke sieht. In Anlehnung an staatssozialistische Forme(l)n treibt Chävez die gestalterische Rolle Venezuelas in Südamerika voran: Unter dem Namen ALBA (Bolivarische Alternative der Amerikas) versucht er ein Modell sozialer Integration dem nordamerikanischen Freihandelskonzept entgegen-zusetzen. Gemeinsame südamerikanische Firmen im Erdöl-, Energie- und Telekommunikationsbereich sollen die Unabhängigkeit Lateinamerikas von den USA sichern und Gegenmacht schaffen. Durch Sonderkonditionen bei Erdöllieferungen und Tauschgeschäfte zwischen den Ländern Lateinamerikas wird versucht, einen alternativen wirtschaftlichen Integrationsraum zu schaffen und Allianzen zu bilden. Chävez hat auf diese Weise eine regionale Bedeutung gewonnen, die es den anderen Regierungen der Pink Tide schwierig macht, sich seinen Angeboten zu entziehen. Die bevorstehende Aufnahme von Venezuela in den südamerikanischen Integrationsverbund MERCOSUR könnte in dieser Hinsicht diese Probleme einer politisch teilweise gewünschten, aber politisch nicht durch-setzbaren Distanz zu Chävez eher noch verstärken als steuerbar machen.

Insofern dürfte der Bezug auf die Gemeinsamkeiten der „anderen Linken” in Lateinamerika sich sehr bald weniger enthusiastisch gestalten, laufen doch Kräfte wie Chävez und seine Unterstützer in Lateinamerika Gefahr, auf alte Wege zu geraten, die sich schon in vergangenen Jahrzehnten als Sackgassen erwiesen haben. Der Versuch, durch Rekurs auf populistische Traditionen den Ausweg aus den Strukturproblemen der lateinamerikanischen Gesellschaften zu finden, dürfte mit Chävez die bekannten Katastrophen populistischer Verirrung in der Region noch verstärken, die einst unter dem Titel der „Makroökonomie des Populismus” bekannt wurden (Dornbusch/Edwards 1991).

Spätestens an diesem Punkt dürfte dann die behauptete Gemeinschaft der Pink Tide auseinanderbrechen, da maßgebliche Kräfte der Linken in Chile und Brasilien diesen Weg nicht mitgehen werden.

Literatur

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