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Zur zentralen Bedeutung des Natio­nal­staates im Mehre­be­nen­system

Ein Beitrag zur gegenwärtigen Governance-Diskussion unter besonderer Berücksichtigung der Umwelt- und Energiepolitik*

aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3-4/2005), S.244-251

Dieser Text befasst sich mit der „Abschiedsliteratur zum Staat”, wie Vesting (2001) das treffend bezeichnet hat. Titel wie The Rise and Decline of the State (Creveld 1999), Regieren jenseits des Nationalstaates (Zürn 1998), Protecting the Environment in a Stateless Sociery (Young 1994), Nations without States (Guibernau 1999) The Defective State (Strange 1995) oder die beiden Veröffentlichungen von Ohmae mit den Titeln The Borderless World (1990) und The End of the Nation State (1995) stehen für für einen Trend in der politischen Wissenschaft, der den Nationalstaat zum Auslaufmodell erklärt.

Dieser Aufsatz möchte die in diesen Titeln zum Ausdruck kommende These kritisch hinterfragen und wählt dafür das Beispiel der Umwelt und Energiepolitik. Konkret lautet meine Frage: Wie sind die Wirkungen von Globalisierung und Europäisierung auf die nationalstaatliche Umwelt- und Energiepolitik? Kommt es zu einer Machtverlagerung auf die supranationale und globale Ebene? Oder bleibt alles beim Alten? Ich beziehe mich dabei auf einen in das Mehrebenensystem der EU eingebundenen Nationalstaat. Für Staaten anderer geografischer Räume und andere Politikfelder kann man zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommen.

Nationalstaatliche Machtlosigkeit wird einerseits für die politische Steuerung über Staatlichkeit, also auf internationaler und europäischer Ebene, beklagt. Andererseits wird argumentiert, Globalisierung und Europäisierung übten einen derart starken Druck auf den Nationalstaat aus, dass dieser auch im Inneren nur noch über eine stark reduzierte Steuerungsfähigkeit verfüge.

Wie lauten die Argumente derjenigen, die eine umweltpolitische Machtlosigkeit des Nationalstaates beklagen? Zum einen heißt es, der Charakter von Umweltproblemen habe sich verändert. Sie seien globaler Natur und könnten deshalb auch nur durch eine globale Politik und nicht im nationalen Zusammenhang gelöst werden. Zürn nennt als Beleg für diese Annahme folgendes Beispiel: „Die Menschen in Australien sind in besonderer Weise vom Ozonloch über der Antarktis betroffen. Auf dem fünften Kontinentliegt die Hautkrebsrate bei über 10 Prozent und ist damit so hoch wie nirgendwo sonst in der Welt. Um diesen fraglos ungewünschten Zustand zu korrigieren, könnte die australische Regierung die Produktion und Verwendung all jener Stoffe, die ozonzerstörende Wirkung haben, mit sofortiger Wirkung verbieten. Das Resultat einer solchen Maßnahme wäre aber kläglich: Die Maßnahme würde das Ziel verfehlen, die Hautkrebsrate, zu senken, da die in Australien verwendeten Halone und FCKWs und Ersatzstoffe im Weltmaßstab nur einen Bruchteil der emittierten ozonzerstörenden Stoffe ausmachen. Die stratosphärische Ozonschicht über Australien wird nämlich nicht nur von den australischen, sondern von den vereinigten FCKWs und Halonen aller Länder angegriffen” (Zürn 1998: 19).

Der Hinweis, nationale Politik könne nur einen, in den Worten von Zürn, „kläglichen” Beitrag zur Lösung globaler Probleme leisten, ist das eine Argument derjenigen, die den Niedergang nationalstaatlicher Politik erklären. Das zweite Hauptargument in der Debatte lautet, dass nationale Ökonomien im globalen Wettbewerb immer verwundbarer würden und deshalb die Kontrolle nationaler Regierungen über ökonomische Aktivitäten schwinde. Dem liegt die Annahme eines hohen Grades an Mobilität der Industrie zugrunde, die sich im Kostenwettbewerb die profitabelsten Standorte suche. Deshalb würden umweltpolitische Eingriffe nationaler Regierungen wie Umweltabgaben oder Ge- und Verbote,, die die wirtschaftliche Produktion verteuern, die Wettbewerbsfähigkeit des Landes beeinträchtigen. Einheimische Industrie wandere ab und ausländische Direktinvestitionen blieben fern. So genannte „Nationale Alleingänge” werden nach dieser Logik abgelehnt. Eine Rückgewinnung politischer Kontrolle sei nur über internationale Regelungen möglich, die nationale Eingriffe harmonisierten (vgl. de Vries 2001).

Dieser eher skeptischen Sichtweise will ich eine andere Hypothese gegenüber stellen: Der Nationalstaat bleibt die wichtigste politische Handlungsebene.

Diese Annahme soll zunächst für die globale Ebene begründet werden: Nationale Regierungen bringen ihre Positionen in internationale Verhandlungsprozesse ein und sorgen für eine Umsetzung der Beschlüsse im nationalen Kontext. Ohne ihr Zutun bleibt die Umsetzung auf der Strecke. Nuscheler spricht in diesem Zusammenhang vom Staat als „Interdependenzmanager” in der Mehrebenen-Architektur. Regieren finde demnach nicht ,jenseits des Nationalstaates“, sondern durch das Zusammenspiel verschiedener Entscheidungsebenen statt, und auf jeder dieser drei Ebenen spielt der Staat eine entscheidende Rolle. Von einer „staatenlosen Gesellschaft” kann somit auch im internationalen Raum keine Rede sein.

Auch und gerade im Zusammenhang mit der Verweigerungshaltung der USA, das Kyoto-Protokoll zu ratifizieren, wird noch einmal die Bedeutung von Nationalstaaten deutlich: „Es ist eine Tragödie der Weltumweltpolitik, dass diese kooperative Politikgestaltung aufgrund der unilateralistischen Verweigerung einer Supermacht, die aus einem an mächtigen Interessengruppen orientierten nationalen Interesse handelt und diesem kurzsichtigen Partikularinteresse die Bewahrung globaler öffentlicher Güter […] hinten anstellt, nur punktuell funktioniert. Doch auch diese Erfahrung bestätigt die These, dass der Nationalstaat noch kein Auslaufmodell ist.” (Nuscheler 2003:53)

Das Kyoto-Protokoll ist im Februar 2005 in Kraft getreten. Der seit 1998 andauernde Verhandlungsmarathon fand damit erst sieben Jahre später ein Ende, nachdem die Ratifizierung durch Russland erfolgt war und damit das im Protokoll vereinbarte Quorum (55 Staaten, die mindestens 55 Prozent der Treibhausgase der Industrieländer verantworten) erfüllt war. In diesem Zusammenhang soll ein Koppelgeschäft mit Russland erfolgt sein: Unterzeichnet es das Kyoto-Protokoll, unterstützt die EU den WTO-Beitritt des Landes. Ein weiterer, nur anekdotischer Hinweis dafür, welche Bedeutung einzelnen Staaten in der globalen Politikarena zukommen kann und wie sie dies auch für sich nutzen können.

Unauf­halt­sames race to the bottom?

Breiten Raum nimmt die Debatte ein, ob Globalisierung und Europäisierung ein race to the bottom bewirkten. Aus der Umweltpolitikforschung wird dem entgegen gesetzt, dass die Entwicklung der internationalen Umweltpolitik wesentlich von Vorreiterländern geprägt werde. Striktere Umweltpolitik führt demnach nicht zu einer abnehmenden Wettbewerbsfähigkeit eines Landes, sondern zum „Mechanismus der überkompensierenden Innovation”, wie Porter (1990) das nennt, das heißt Mehrkosten für die Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien werden schon nach kurzer Zeit durch Einsparung von Energie und anderen Ressourcen überkompensiert. Zudem kann umwelttechnischer Forschritt im Inland auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern (vgl. Taistra 2001). Dabei bedarf es zunächst der Bereitschaft industrialisierter Länder, einen Lead-Markt zu bilden, das heißt die Entwicklungskosten von Umweltinnovationen zu tragen. Wenn solche Innovationen in den Bereich einer potenziellen globalen Nachfrage stoßen, kann die Vorreiterrolle eines Landes mit first mover advantages, mit Vorteilen
für jene, die sich zuerst auf einen Markt bewegen, belohnt werden: Exportmärkte wer-den erschlossen und volkswirtschaftliche Vorteile gesichert. Zudem führt Pionierpolitik nicht in einen politischen Isolationismus, sondern kann den Charakter eines Demonstrationseffektes haben und einen internationalen Trend hervorrufen (vgl. Jänicke 2005).

Ein Beispiel dafür ist die deutsche Politik zur Förderung erneuerbarer Energien, deren Erfolg unter anderem daran ablesbar ist, dass das Land trotz vergleichsweise ungünstiger geografischer Voraussetzungen Weltmarktführer in Bezug auf die absolut installierte Windkapazität ist und weltweit nach Japan über die zweitgrößte installierte Photovoltaik-Kapazität verfügt. Inzwischen arbeiten in den verschiedenen Sparten der erneuerbaren Energien in Deutschland über 100.000 Menschen, der Gesamtumsatz mit erneuerbaren Energien lag im Jahr 2003 bei zehn Mrd. Euro. 18 der 25 EU-Länder setzen inzwischen wie Deutschland auf eine Einspeisevergütung zur Förderung von Ökostrom (Bechberger/Reiche 2006; Reiche 2004).

Auch die führenden Märkte in Asien und Südamerika, Brasilien und China, haben jüngst das deutsche Förder-Modell adaptiert. Statt eines race to the bottom kommt es wie in diesem Fall häufig zur Diffusion umweltpolitischer Innovationen, nationale Vorreiterpolitik wird belohnt. Von einer generellen Schwächung und Abwärtsspirale kannkeine Rede sein. Wenn sich solche nationalen Ansätze ausbreiten, können damit auch nationale Regierungen zur Lösung globaler Umweltprobleme beitragen.

Zahlreiche empirische Studien widerlegen inzwischen das race-to-the-bottom-Modell und die These eines Rückzugs des Staates aus der Umweltpolitik. Laut einer Studie der Weltbank beeinflussen Umweltregulierungen das Investitionsverhalten von Unternehmen zu keinem statistisch signifikanten Grad. Die Einhaltung von Umweltstandards sei kein entscheidender Kostenfaktor für die meisten Unternehmen. Die Mehrzahl multinationaler Unternehmen würde sogar freiwillig in Entwicklungsländern jene Umweltstandards einhalten, die sie aus der OECD-Welt gewohnt seien (Drezner 2001; Levinson 1996).

Hinzu kommt, dass nationale Regierungen in der Regel überaus sensibilisiert sind für jene wenigen Branchen, die durch Umweltregulierungen – etwa wegen einem weit überdurchschnittlichen Energiekostenanteil – tatsächlich Wettbewerbsnachteile zu befürchten hätten. Beispiele sind Ausnahme- und Härtefallregelungen bei der Ökologischen Steuerreform und dem Erneuerbare-Energien-Gesetz in Deutschland (Reiche/ Krebs 1999; Reiche 2004).

Innerhalb der Europäischen Union ist ein Steuerungsmuster entstanden, dass nationales Pionierverhalten begünstigt. In diesem Zusammenhang wird auch von der Methode der offenen Koordination gesprochen (vgl. Bisopoulos 2003; Holzinger/Knilll Lehmkuhl 2003). Dies meint die Abkehr von klassischen Formen gemeinschaftlicher Politikgestaltung auf der Basis rechtlich verbindlicher Richtlinien oder Verordnungen. Statt dessen hat sich ein Mechanismus durchgesetzt, der die Vereinbarung rechtlich nicht verbindlicher Zielvorgaben, die jährliche Berichterstattung und Evaluation sowie die Analyse und Förderung des EU-weiten Transfers von Policies, die sich in einzelnen Mitgliedsstaaten als erfolgreich erwiesen haben, vorsieht.

Beispiele für eine solche offene Koordination sind die beiden Richtlinien der EU zu Biokraftstoffen und zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, die indikative Ziele vorsehen und nicht von oben Instrumente zur Zielerreichung vorgeben. Dies befördert einerseits regulativen Wettbewerb und andererseits die Verallgemeinerung von best practice, nach der sich die besten Lösungen durchsetzen. Allein die Ankündigung von Harmonisierungsbestrebungen seitens der EU-Kommission kann zu regulativen Wettbewerb führen. Nach der von Heritier (Heritier et al. 1994) geprägten These vom regulativen Wettbewerb findet ein Wettstreit zwischen den Mitgliedsländern der EU um Konzepte und Instrumente statt, weil als Belohnung die Vergemeinschaftlichung des eigenen Steuerungsansatzes winkt und damit Anpassungskosten vermieden werden. Ein Beispiel ist die EU-Richtlinie zur Kennzeichnung des Energieverbrauchs von Haushaltsgeräten, das sich exakt am dänischen Modell orientiert.

Gute Beispiele machen Schule

Neben dem regulativen Wettbewerb ist es auch die Effizienzlogik vieler Länder – auch best practice genannt –, die nationales Vorreiterverhalten begünstigt. Denn viele Staaten orientieren sich an Pionierländern. Als Motive nennt Tews (2004) die Vermeidung von Misserfolgen, geringere Kosten für Informationsbeschaffung, Reputationsmaximierung bei Orientierung an erfolgreichen Vorbildern und die nationale Legitimierung von Politikwandel.

Auch innerhalb der Europäischen Union verfügen die Nationalstaaten weiterhin über eine zentrale Bedeutung. Zum einen, weil sie im Ministerrat die Letztentscheidungsbefugnis haben. Zum anderen, weil die Umsetzung in ihre Verantwortung fällt. Gerade im Umweltbereich gibt es ein Implementationsdefizit. Die EU hat einen Mangel an Kontrollmöglichkeiten, so dass die Durchführung primär vom Mitgliedsland abhängt. Wichtigster Bestimmungsfaktor effektiver Implementation ist dabei die institutionelle Kompatibilität, wie Börzel und Risse (2002) betonen. Danach gilt die Faustregel: Je anschlussfähiger europäische Regeln, Normen und Praktiken an mitgliedsstaatliche Gepflogenheiten sind, desto eher werden sie integriert. Treten hingegen größere Inkompatibilitäten auf, hängt die nationale Umsetzung europäischer Politik davon ab, ob Akteure wie zum Beispiel NGO’s vorhanden sind, die das einfordern und/oder unterstützende Institutionen Hilfestellungen bei der Durchsetzung von Veränderungen geben.

Selbst dann, wenn EU-Vorgaben umgesetzt werden, bleibt der Nationalstaat sichtbar. Denn in der Regel werden, wie unter Hinweis auf den Mechanismus der offenen Koordination bereits ausgeführt, nur konvergierende Politikergebnisse vorgegeben. Die innenpolitische Anpassung erfolgt dann in den Worten von Cowles und Risse (2002) „in nationalen Farben”, das heißt nationale Verwaltungsstile, Rechtskulturen, Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft sowie kollektive Identitäten bleiben erkennbar.

Die EU hat es nicht geschafft, einen einheitlichen Regelungsstil durchzusetzen. Heritier (Heritier et al. 1994) bescheinigt der Gemeinschaft statt dessen einen „regulatorischen Flickenteppich”, der verschiedene Problemlösungsansätze und Politikinstrumente miteinander verknüpft. Der Hintergrund ist das übliche Schnüren von Verhandlungspaketen. Der jeweilige Regelungsstil ist davon abhängig, welcher Mitgliedsstaat und welcher Teil der Kommission gerade seine Präferenzen auf der europäischen Ebene durchsetzen konnte.

Nachfolgend ein Beispiel für ein EU-typisches Koppelgeschäft, das aus dem Juni 2002 stammt: Die EU-Regierungen billigten gegen das negative Votum der EU-Kommission die umstrittenen Steuererleichterungen für Spediteure in Frankreich, Italien und den Niederlanden. Als Gegenleistung wurde Deutschland und Spanien eine Verlängerung ihrer Beihilferegelung für den Steinkohlebergbau ermöglicht, für welche die EU-Genehmigung im Juni 2002 ausgelaufen wäre. Österreich wiederum machte seine Zustimmung davon abhängig, dass Italien und Frankreich ihren Widerstand gegen das so genannte Ökopunktesystem für den Alpentransit aufgeben. Belgien soll angeblich Zu-sagen für Erleichterungen bei der Besteuerung bestimmter Versicherungen bekommen haben (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Mai 2002: 13). Dies zeigt, wie auf europäischer Ebene inhaltlich in keiner Weise zusammenhängende Themen miteinander verknüpft werden und der „regulatorische Flickenteppich” entstanden ist.
Im bisher Gesagten sind die Möglichkeiten der Nationalstaaten in den Vordergrund gerückt worden, wo aber liegen ihre Grenzen?
Die Europäische Zentralbank (EZB) und der Europäische Gerichtshof (EuGH) verfügen über Kompetenzen, die vollständig dem Einfluss demokratisch verantwortlicher politischer Akteure entzogen sind. Scharpf (2002) bezeichnet dies als „Modus der supranationalen Zentralisierung”, der aber engen Beschränkungen unterliege. Die Integration ist nicht so weit fortgeschritten, dass von einem supranationalen Staat gesprochen werden könnte. Risse und Börzel (2002) sprechen statt dessen vom „Prinzip offener Staatlichkeit”, das heißt Nationalstaaten haben ihre Rechtsordnungen für das Einwirken supranationalen Rechts geöffnet. Dabei gilt die Regel, dass europäisches Gemeinschaftsrecht Vorrang vor nationalem Recht genießt — ein entscheidender Unterschied zu internationalen Organisationen und Regimen, die auf zwischenstaatlichen Vereinbarungen freiwilliger Art beruhen.

Deutschland verfügt im Übrigen über gewisse Erfahrungen, was die Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof angeht. Als Beispiel sei die Trinkwasser-Richtlinie genannt, deren vollständige Umsetzung erst mit zehnjähriger Verspätung nach einem Verfahren vor dem EuGH erfolgte (Börzel 2000).

Durch den Übergang zu qualifizierten Mehrheitsbeschlüssen im EU-Ministerrat gibt es keine Blockademöglichkeit für einzelne Staaten mehr. Während eine europaweite Energie-/CO2-Steuer in den 1990er Jahren noch am Einstimmigkeitsprinzip scheiterte, konnte der Anfang 2005 gestartete europäische Emissionshandel mit einem qualifizierten Mehrheitsbeschluss auf den Weg gebracht werden. Das heißt, es wird die Anzahl von Politiken zunehmen, die national umzusetzen sind, auch wenn sie von dem entsprechenden Land im EU-Ministerrat abgelehnt worden sind (Steuwer 2005).

Aus diesen Beispielen lässt sich folgern: „Man muss sich vorher eine ganz übertriebene Vorstellung von der Macht des Staates gemacht haben, um nachher mit dem Geist des Entdeckers seine Machtlosigkeit proklamieren zu können” (Höffe 1999: 154).

Dazu ist anzumerken: Es ist keineswegs so, dass sich nichts verändert hätte. Es gibt inzwischen mehrere Hundert internationale Umweltabkommen und der Umweltausschuss im Deutschen Bundestag beschäftigt sich einen Großteil seiner Zeit mit der Umsetzung von Vorgaben der Europäischen Union. Der Nationalstaat agiert in einem veränderten Umfeld, ohne dass dies mit einem Bedeutungsverlust verbunden wäre. Der Nationalstaat bleibt vielmehr auf allen politischen Ebenen die wichtigste Instanz. Und partiellen Souveränitätsverlusten steht der positive Effekt der Globalisierung gegenüber, dass diese eine Arena für Pionierländer geschaffen hat und sich Vorreiter-Politiken in transnationalen Diffusionsprozessen ausbreiten können.

* Leicht modifizierte Version eines Habilitationsvortrags, gehalten am 26. Oktober 2005 am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin.

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