Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Paradoxien der Mehre­be­nen­de­mo­kratie

Die verspätete Große Koalition und die deutsche Gesellschaft

aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3/4/2005), S.15-22

Nun haben wir sie, die Große Koalition. Aber was bedeutet das für die deutsche Gesellschaft? Den Durchbruch zu kraftvollen weiteren Reformen, zu denen die kleinteilige Allianz von Roten und Grünen ebenso wenig in der Lage war wie zuvor das schmale Regierungsbündnis von Schwarzen und Gelben? Oder müssen wir mit dem Stillstand rechnen, dem Mehltau, dem Kompromiss auf dem kleinsten Nenner, wie es uns mürrisch dreinblickende Alt-68er und ungeduldige Neu-Liberale seit eh und je gern erzählen?

Das Prinzip des nachho­lenden Regie­rungs­wech­sels

Wahrscheinlich ist es ganz banal: Die Große Koalition wird zum Abschluss bringen, was die Regierungen davor begonnen haben. Denn so verlaufen im Grunde alle Regierungswechsel, jedenfalls in Deutschland. In der bundesdeutschen Geschichte haben Regierungswechsel nie die von den politischen Akteuren vollmundig versprochene Epochenzäsur eingeleitet, sondern im Gegenteil gesellschaftlich längst vollzogene Prozesse nur noch beendet. Neue Regierungen in Deutschland entsorgen, was als sperriger Rest aus einer vergangenen Zeit störend im Weg liegt. Doch schon zwei oder drei Jahre nach Regierungsantritt bekommen sie mit Problemen zu tun, auf die sie in keiner Weise vor-bereitet sind. All das, was so viele Menschen mittleren und fortgeschrittenen Alters sentimental-liebevoll mit dem sozialliberalen Aufbruch verbinden, passierte in den 1960er, keineswegs in den 1970er Jahren. Das Ende der Hallstein -Doktrin, die neue provozierende Popkultur, der Protest von jungen Bildungsbürgern, die Revolte von Theaterleuten und Regisseuren, das Pathos von Demokratisierung und Partizipation – die schönste und unschuldigste Zeit von alledem lag irgendwo zwischen 1962 und 1968.

Dagegen setzte schon in den frühen 1970er Jahren die sogenannte Tendenzwende ein. Die unter dem CDU-Kanzler Kiesinger noch fröhlich florierende Wertschätzung für Reformen stürzte 1973 ins Bodenlose; die Bildungsreformer verloren für Jahrzehnte die Schlachten um Gesamtschulen und „progressive” Rahmenrichtlinien; die liberale Justizreform unter Gustav Heinemann wurde während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt wieder zurückgedreht; Ordnung, Sicherheit, Berechenbarkeit waren die politischen Kernmaximen in den letzten acht Jahren der sozialliberalen Ära. Als Kohl Kanzler wurde, war die geistig moralische Wende längst exekutiert. Wirtschaftspolitisch setzte Kohl lediglich die Angebots- und Austeritätspolitik seines Vorgängers fort; sicherheitspolitisch setzte er den Nachrüstungsbeschluss um, den Schmidt ursächlich angestoßen und vorangetrieben hatte.

Die bundesdeutsche Gesellschaft während der 1980er Jahren aber war in ihren meinungsprägenden Bereichen rot-grün. Postmaterialistischer als unter Kohl – in dieser alternativ-hedonistischen Zeit „Bunter Listen”, neuer Gleichstellungsbeauftragten und rot gestrichener Fahrradwege – ging es in Deutschland nie mehr zu. Und so ereignete sich 1998 das, was wir schon bei den Regierungswechseln 1969 und 1982 erlebt hatten: da kamen Menschen in das Kabinett, über die und deren lebensgeschichtliches Programm die Zeit im Kern schon hinweggeschritten war.

Gerade deshalb sollten die einen für die nächsten vier Jahre nicht so viel erhoffen, die anderen nicht zu sehr in apokalyptische Schreckensszenarien verfallen. Die Große Koalition beginnt ersichtlich als zähe Veranstaltung, aber sie wird, ins Amt gekommen, auch moderne Versionen von Plisch und Plum (seinerzeit in der ersten Großen Koalition: Schiller und Strauß) hervorbringen. Müntefering und Schäuble, Steinbrück und Glos, Merkel und Steinmeier oder wer auch immer könnten entschlossen handelnde christdemokratisch-sozialdemokratische Synergiepartner werden, die das erledigen, wozu Schröder und Fischer zuletzt nicht mehr die Kraft und die Mehrheit hatten.

Kultur der politischen Feindschaft versus Zwang zur Zusam­me­n­a­r­beit

Unter meinen politikwissenschaftlichen Kollegen der 68er Generation ist die große Koalition allerdings nicht wohlgelitten. Sie argwöhnen, dass hinter dem Wunsch nach einer Allianz der beiden Großparteien zählebige Reste nichtgebrochener wilhelminischer Obrigkeitskultur stecken. Auch im linksliberalen Journalismus findet man dergleichen Interpretationen. Dabei ist die Große Koalition keineswegs Bestandteil der politischen Kultur vom Kaiserreich bis zum Ende der alten Bundesrepublik. Die große Koalition war historisch durchweg eine Rarität, die von links bis rechts stets bekämpfte Ausnahme. Die politische Kultur der Deutschen ist nicht durch die Allianz, nicht durch die Kooperation, nicht durch die Konkordanz zwischen den Weltanschauungen gekennzeichnet. Das fatale Charakteristikum der politischen Kultur in der deutschen Moderne ist vielmehr die Konfrontation, das Lagerdenken, die ideologische Verabsolutierung der eigenen Klasse und Grundüberzeugungen. In Deutschland waren die Parteien ganz im Unterschied zu anderen europäischen Ländern dezidierte Programm- und Weltanschauungsparteien, denen jeder Sprung über das eigene Milieu hinweg denkbar schwer fiel. Deutschland gehört zu den wenigen Ländern Mitteleuropas, in denen es nie einen langen Zeitraum römisch roter Koalitionen gab, wie man die Zusammenarbeit von Christdemokraten und Sozialdemokraten in den 1950er Jahren zu nennen pflegte.

Daher fiel die Annäherung zwischen Union und Sozialdemokraten zunächst mühselig aus. Die deutsche Politik ist durchformt von einem ungemein harten und – wegen der ungewöhnlichen Vielzahl von Regionalwahlen – nahezu chronischen Parteienwettbewerb in Wahlkämpfen. In kaum einem anderen Land dieser Welt werden die Parteien in derart viele Wahlschlachten hineingedrängt. Die Permanenz dieser Wahlauseinandersetzungen hat die schon im 19. Jahrhundert entstandene Mentalität des antagonistischen Gegner Hasses konserviert. Der Abend des 18. September 2005 hat dafür ein schönes, besser: deprimierendes Beispiel geboten. Man sah die Anhängerschaften von Parteien, die im Grunde gerade bitter verloren hatten, in frenetischen Jubel ausbrechen und sich enthusiastisch in den Armen liegen: einzig und allein, weil der Gegner ebenfalls taumelte. Das ist übriggeblieben von den ideologischen Kämpfen der Vergangenheit: die Häme, die Schadenfreude, die Herabsetzung des Gegners. Demgegenüber ist die Sicherheit der eigenen, positiv formulierten politischen Ziele längst zerronnen und perdu.

Doch die Kultur der politischen Feindschaft im permanenten Parteienwettbewerb beißt sich mit der anderen harten Realität deutscher Politik: dem allgegenwärtigen Zwang zur Zusammenarbeit. Die deutsche Republik ist institutionell verflochtener als nahezu jedes andere Regime unter den Demokratien Europas. Insofern sind die großen gesellschaftlichen Kräfte, ob sie es nun wollen oder nicht, zur Zusammenarbeit verdammt. Politik gelingt in Deutschland nur durch Konzertierung, Koordinierung, Kooperation. Die Konfliktrhetorik, gar eine reale, entschlossene Konfrontationsstrategie erzeugen lediglich Obstruktion und Paralyse. Die klare Entscheidung, das konzise Durchregieren, die „Politik aus einem Guss” (Angela Merkel) ist in diesem System gänzlich unmöglich.

Eben darin liegt die unzweifelhafte Berechtigung der Bildung einer Großen Koalition. Sie exekutiert auch formell, was sonst lediglich verdeckt und unter tausend taktischen Umwegen informell vonstatten geht. Doch was wird das Ziel, was der Kitt dieses Bündnisses sein? Allianzen brauchen das, wenn sie Handlungsfähigkeit und Bestand herstellen wollen: ein spezifisches Ethos, einen politischen Fluchtpunkt, eine verbindende Norm. Bündnisse werden zusammengehalten entweder durch einen starken gemeinsamen ideologischer Gegner oder eben eine affine Wertehaltung, auch durch den Mythos einer kollektiv geteilten großen Vergangenheit, natürlich: durch eine ähnliche soziale Interessenstruktur. Die neue Koalition hat kaum etwas von alledem. Der gemeinsame Stolz auf die ungewöhnlichen Leistungen der alten Bonner Republik, des katholisch-sozialdemokratischen Sozialstaats hätte ein solcher Bezugspunkt sein können. Doch haben sich die Politikereliten beider Parteien bizarrerweise in den letzten Jahren unisono von dieser keineswegs schmählichen Vergangenheit gelöst, ja sie nachgerade verächtlich gemacht. Leicht wird es daher nicht, aber unumgänglich ist es doch, dass die große Koalition nicht nur eine Gegenwartsallianz zweier sich misstrauisch beäugender Partner ist, sondern Ziele vereinbart, die weiter in die Zukunft reichen und so etwas wie ein Sinnzentrum besitzen. Pure Realpolitiker pflegen sich darüber lustig zu machen, aber eben an diesem Mangel an Begründungsfähigkeit scheitern sie deshalb in schöner Regelmäßigkeit.

Entpa­r­la­men­ta­ri­sie­rung und Oligarchie als Struk­tur­not­wen­dig­keit

Hier nun kommt der Bundestag ins Spiel. Was wird aus ihm in den nächsten vier Jahren der Elefantenhochzeit werden? Das Ansehen der Abgeordneten ist denkbar gering; ihr Einfluss auf die großen Entscheidungen ebenfalls. Jedenfalls schreiben die publizistischen und wissenschaftlichen Experten seit Jahren über den Machtverlust des Parlaments. In der Ära Kohl fielen die Würfel in exklusiven Koalitionsrunden; während der Kanzlerschaft Schröders stellten Expertenkommissionen die inhaltlichen Weichen. Die Abgeordneten hatten nur noch abzunicken, was die exekutiven Oligarchen unter sich ausmachten. Und der Prozess der Entparlamentarisierung, so die feste Überzeugung der meisten hauptamtlichen Exegeten des Politischen, dürfte unter einer Großen Koalition erst recht und noch forciert weitergehen. In dieser Allianz werde es allein auf die Arrangements der Merkels, Münteferings, Kauders, Strucks, Stoibers und Steinbrücks ankommen, nicht auf das, was die übrigen gut 600 Abgeordneten für richtig oder falsch halten.

Ganz abwegig ist die düstere Prognose über die zunehmende Entdemokratisierung des bundesdeutschen Parlamentarismus nicht. In den nächsten Wochen werden sich zwei Parteien zu einer gouvernementalen Allianz zusammenschließen, die das politisch bekanntermaßen keineswegs anstrebten, die überdies unterschiedliche materielle Interessen vertreten, kulturell weiterhin stark differieren, in verschiedenen sozialen Räumen dieser Gesellschaft präsent und verwurzelt sind. Bei einer Großen Koalition wird kein soziokulturell zusammenhängendes Lager binnenintegriert, sondern hier werden sehr heterogene Herkünfte, Deutungen und Perspektiven schwierig gebündelt. Will eine solche Koalition erfolgreich sein, dann müssen die gegensätzlichen Parteien einen konstruktiven Kommunikationskanal für Kooperation, Kompromiss und Konkordanz finden. Der Erwartungsdruck der Wahlbürger ist nicht gering. Sie wollen, dass — endlich — effizient und lösungsbezogen regiert wird. Die beiden Volksparteien müssen also eine rationale Verhandlungsstruktur finden, um zügig zu handlungsorientierten Kondenspunkten zu finden, bei denen keine der beiden Parteien das Gesicht verliert.

Die Logik solcher Verhandlungsstrukturen aber ist eindeutig: Besonders demokratisch geht es dort nicht zu, darf und kann es auch nicht. Würde man unter den idealtypisch optimalen Demokratiebedingungen – uneingeschränkte Transparenz, kritisch intervenierende Öffentlichkeit, beteiligungsintensive Basis – einen Großkoalitionären Ausgleich suchen, dann könnte man es auch gleich sein lassen, weil ein vernünftiges Ergebnis so nicht zu erzielen ist. Der demokratische Marktplatz, die Volksversammlung, die öffentlichen Foren gegensätzlicher Parteien prämieren Brandreden, Rhetorikdonner, die laut vorgetragene Überzeugungstreue, die Devotion vor den Essentials der eigenen Kerntruppen. Der Diskurs in der demokratischen Öffentlichkeit also fördert das Pathos der Grundsatzfestigkeit, die unerschütterliche Fixierung auf die Beschlusslage. Die Einsicht in die Motive des Anderen, der Willen, auf den Verhandlungspartner zu-zugehen, die Fähigkeit, von starren Ursprungspositionen zu lassen, dogmatische Fesseln aufzulösen, den Ausgleich zu suchen — all das entsteht am wenigsten in der öffentlichen Arena fundamentalistisch-demokratischer Auseinandersetzung.

Daher sollten am Ort kompromissorientierter Verhandlungen keine Scheinwerfer stehen, sollten keine hochmotivierten Kernanhängerschaften das Publikum bilden. Wenn die Vertreter sehr unterschiedlicher Parteien verhandeln, dann hat man in der Tat die Türen fest zu verschließen, alle Zuschauer rigide zu verbannen, den eigenen Kreis denkbar klein zu halten. Intransparenz fördert die Vernunft, mäßigt die schrille Konfliktrhetorik, rüstet den politischen Volkstribunen ab. Natürlich, säuselnde Sonntagsredner der demokratischen Tugendhaftigkeit wird das empören. Aber der koalitionspolitische Kompromiss entsteht am ehesten und besten in oligarchischen, elitären, der Öffentlichkeit strikt entzogenen Entscheidungszirkeln, die über politische Autonomie und ausreichend Spielraum verfügen. Marionetten des Basiswillens und Tempelhüter von Parteiidentitäten sind für Verhandlungs- und Ausgleichssysteme — wie eben die Kompromissbildung in einer Großen Koalition — gänzlich ungeeignet.

In kluger Arbeits­tei­lung: Kompro­miss­ma­schi­nisten und Ideen­pro­du­zenten

Es ist in der Tat damit zu rechnen, dass ein Koalitionsausschuss von etwa acht bis zehn Menschen in den nächsten Jahren die politischen Großkompromisse schmiedet und die Gesetzesmechanik bedient. Aber was bleibt dann noch von der Grundsatzdebatte im Parlament, von der Orientierungsfunktion der Parteien, vom aufklärerischen Ethos der Demokratie? Eben all dies: Aufklärung, Orientierung und Generaldebatte. Denn in den Koalitionsrunden tummeln sich lediglich die Maschinisten des Kompromisses, die Techniker der Konsensfindung. Dort arbeiten sie allein das klein, was andere an großen Konzeptionen und Perspektiven entworfen haben. Die Kauders, Münteferings, Strucks und de Maizieres dieser Welt mögen perfekte Organisatoren des politischen Prozederes sein, aber irgendeine interessante Idee, eine originäre Vorstellung von Zukunft, gar eine politische Gestaltungsarchitektur hat man von diesen politischen Administratoren des Hier und Jetzt noch nie vernommen. Über dergleichen Begabungen verfügen sie nicht, müssen sie auch nicht verfügen. Sie sind pure Handwerker der Macht, keine Konzeptionalisten, keine Visionäre, auch keine charismatischen Redner. Im Grunde führen sie nur aus, machen machbar, was andere geprägt und — oft zugegebenermaßen undeutlich — vorgezeichnet haben. Prägen, konzipieren, entwerfen, vordenken, Ideen hervorbringen, die große Debatte führen, Zukunft antizipieren, Themen setzen, die wesentlichen Inhalte von Gesellschaft und Politik definieren – das ist die Aufgabe von brillanten Parlamentariern und anspruchsvollen Parteileuten. Keine Koalitionsrunde kann ihnen diese Funktion wegnehmen.

Und der politische Bewegungsraum dafür ist im Deutschen Bundestag unter den Bedingungen der Großen Koalition breiter als sonst. Große Koalitionen lockern die Fesseln der Disziplin, lösen den Druck der Uniformität. Die Möglichkeiten für abweichende Positionen, gesonderte Gruppierungen, unorthodoxe Anträge und eigensinnige Redebeiträge sind größer als in Zeiten kleiner Koalitionen mit knappen, also prekären Mehrheiten. Zwischen 1966 und 1969 war das Selbstbewusstsein der Deutschen Bundestagsabgeordneten deshalb erheblich angewachsen. Die Regierungsfraktionen sahen sich nicht mehr ausschließlich als parlamentarische Exekutive des Kabinetts, sondern als primärer Ort der Willensbildung und Themensetzung.

So sollte sich auch der Deutsche Bundestag in den kommenden vier Jahren verstehen: als Zentrum der politischen Entwürfe. Eben daran hat es in den letzten Legislaturperioden gemangelt. Das Parlament hat nicht an Einfluss verloren, weil parakonstitutionelle Koalitionsrunden und Expertenkommissionen auftraten; komplexe Gesellschaften kommen ohne solche informellen Strukturen und Verhandlungssysteme längst nicht mehr aus. Das Parlament hat an Bedeutung eingebüßt, weil die Abgeordneten zuletzt nicht mehr fähig waren, große Ziele zu umreißen, Normen zu begründen, Maßstäbe und Prioritäten zu bestimmen, sinnstiftende Zusammenhänge zu komponieren. Der Verlust an inhaltlicher, auch oratorischer und imaginativer Substanz hat die Stellung des Bundestages beschädigt.

Moderne, fragmentierte, aufgeklärte Gesellschaften sind auf beides angewiesen: auf kompromissfähige Effizienz und auf charismatisch-programmatische Überzeugungskraft. Beides gedeiht in unterschiedlichen Arenen mit gegensätzlichen Logiken. Eben das macht Politik so schwierig, oft auch schwer verständlich. Politische Koalitionen benötigen effektiv, verlässlich und verschwiegen operierende Elitezirkel für die Kompromissbildung. Sie brauchen aber auch selbstbewusste, öffentlich agierende Parlamentarier, die die großen Linien ziehen, einprägsame Begriffe kreieren, mehr noch: die dem politischen Bündnis orientierende Leitvorstellungen voranstellen können. Es liegt an den Parlamentariern selber, ob sie in der Verhandlungsdemokratie mit ihren Aushandlungszwängen in informellen Runden weiterhin ihren Platz behaupten beziehungsweise gar erweitern.

Eine Große Koalition gegen den Radika­lismus des Neuli­be­ra­lis­mus?

Doch wohin wird die Große Koalition die Gesellschaft nun führen? Den Aufbruch zu den neuen Ufern einer deregulierten Republik und der permanenten Reform werden wir natürlich nicht erleben. Denn, auch wenn es kaum einer in diesem missmutigen Land wahr-haben will: Das hatten wir schon. Seit zwei Jahrzehnten erzählen uns schließlich die professoralen und kommentierenden Meinungseliten Tag für Tag, Stunde für Stunde, dass das Land krank sei, dass allein die bittere Medizin tiefer und schmerzhafter Einschnitte in den Sozialstaat Remedur verschaffen könne. Jeder kennt diesen Refrain. Und im Laufe der Zeit konnte sich kaum jemand dem suggestiven Trommelfeuer entziehen, auch die rot-grünen Halblinken von ehedem nicht. Da aber das Lamento über the German Disease unverdrossen anhielt, hat niemand bemerkt, wie sehr sich das Land verändert hat. Bald ein Fünftel der Deutschen arbeitet mittlerweile im Niedriglohnsektor. Streiks gibt es in diesem Land so gut wie nicht mehr. Die Lohnstückkosten sind drastisch gesunken, stärker als in den weithin gerühmten angelsächsischen Ländern. Der Telekommunikations- und Energiesektor ist natürlich privatisiert. Die Ausgabenquoten für die Rentenversicherung und den Gesundheitsbereich rangieren ebenfalls unter dem EU-Mittel. Die sozialstaatlichen Ansprüche für den einzelnen Bürger sind in den letzten Jahren keineswegs gewachsen, sondern rapide zurückgefahren worden. Für Kapitalgesellschaften ist Deutschland nahezuein Steuerparadies. Jahr für Jahr wird ein Anteil von einem Prozent der öffentlichen Bediensteten abgebaut, so dass von einer krakenhaft wuchernden Bürokratisierung ernsthaft nicht die Rede sein kann. Und so sind auch die internationalen Expertengremien neuliberaler Provenienz außerordentlich zufrieden mit den Deutschen, die mittlerweile gar als die Musterknaben der „Reform” gelten. Natürlich, die deutsche Republik ächzt unter den riesigen Lasten der Vereinigung, genauer: unter der verschwenderischen Bedenkenlosigkeit, mit der seinerzeit der christdemokratische Bundeskanzler die Einheit zutiefst populistisch geschmiert und die Sozialkassen ausgeplündert hatte. Doch mit einem Mangel an Reformen haben die Riesendefizite, die seither das Land plagen, nicht das Geringste zu tun. Auch im Jahr 2005 lag die Arbeitslosigkeit im Westen Deutschland unter dem Durchschnitt der Länder in der Europäischen Union, lag die ökonomische Performance im oberen Mittelfeld der modernen Volkswirtschaften.

Eben das macht das neu-liberale Dauerschwadronieren im täglichen Zeitungskommentar so anachronistisch. Die Radikalinnovateure schreien nach dem Aufbruch, während die Republik ganz unspektakulär, aber handfest längst schon unterwegs ist — und dabei längst weiter als die Rhetoren und Macher der Politik. Recht eigentlich beginnt jetzt schon eine neue Wegstrecke, die aber die Kardinäle des unentwegten Marktreformismus gar nicht im Visier haben. Man kann das Problem in wohlfeiler BWL -Sprache formulieren: Der neu-liberale Dauerdiskurs der letzten zwanzig Jahre und die Veränderung in Politik und Wirtschaft, die dadurch entstanden sind, haben gewissermaßen zu einer Überproduktion in manchen Bereichen der Gesellschaft geführt, zu einer Unterversorgung aber in anderen Sektoren. Es gibt in Deutschland wie in den meisten Teilen der modernen Welt keineswegs einen weiteren riesigen Bedarf an Wettbewerb, Markt, an Autonomie des Einzelnen, an Destrukturierung. Von alledem haben die modernen Gesellschaften mehr als genug. Daher beklagen jetzt schon die meisten „refornüerten” Gesellschaften und bald gewiss auch die Deutschen den jämmerlichen, maroden Zustand der öffentlichen Güter. Die puristische Marktobsession der Meinungs-, Wissenschafts- und Wirtschaftseliten mag diesen Zerfallsprozess noch beschleunigen. Denn der Markt ist gänzlich uninteressiert an einer Sicherung sozialer, ökologischer und kultureller Güter.

Die politische Agenda: Rekon­struk­tion von Normen und Insti­tu­ti­onen

Doch dadurch wird die Polarisierung in der Gesellschaft weiter und sprunghaft anwachsen. Die großindustrielle Gesellschaft, von der wir uns gerade verabschieden, hat in seiner entwickelten und sozialstaatlich gebändigten Form im 20. Jahrhundert noch zu einer starken Angleichung der Lebenslagen zwischen den Schichten geführt, zu Öffnungen und Durchlässigkeiten für den sozialen Aufstieg, zu einem Abbau elementarer Ungleichheiten. Die postindustrielle Gesellschaft der bürgerlichen Globalisierungseliten funktioniert anders. Die Eliten in der Wirtschaft, der Justiz und an den Universitäten rekrutieren sich seit einigen Jahren wieder — leistungswidrig! — in erheblichem Maß aus sich selbst, nach den Indikatoren von vertrauter Zugehörigkeit, kulturellen Codes und distinktem Habitus. Die Bildungs-, ja selbst Heiratsmuster vollziehen sich erneut endogen, innerhalb des eigenen Klassenmilieus. Noch berühren sich in Deutschland — anders als in den USA — die sozial heterogenen Stadtteilviertel, aber sie mischen sich nicht mehr. Die sozialkulturelle Segregation des urbanen Raums schreitet jedenfalls massiv und bedrohlich voran. In den einen Stadtquartieren nimmt der Wohlstand, die Lebens-und Freizeitqualität signifikant zu; während andere Stadtteile regelrecht abrutschen. Schon jetzt zieht sich ein Wohlstandgraben durch die Gesellschaft. Und sollte tatsächlich — wofür in der Tat einiges spricht — in Bälde ein konjunktureller Aufschwung auch die deutsche Republik erreichen, dann werden die Kontraste zwischen Verlierern und Gewinnern noch stärker sichtbar, noch unmittelbarer erlebbar. Dann werden wir in eine Gleichzeitigkeit der sinnlich erfahrbaren Ungleichzeitigkeit hineinrutschen, die für den Bestand eines Gemeinwesens, wie wir aus der Geschichte wissen, hochbrisant ist. Die einen genießen die Optionen, erweiterten Perspektiven, facettenreichen Chancen der Globalgesellschaft, die anderen — und keineswegs wenige — sind abgehängt, fühlen sich entbehrlich, durch Arbeitsagenturen gedemütigt, ohne die geringsten sozialen Mobilitäts – und Aufstiegschancen, die einst sowohl den sozialen Katholizismus als auch der sozialistischen Arbeiterbewegung programmatische Leitidee war.

Die postindustrielle Gesellschaft des Neuliberalismus indes ist tribalistischer als die alte katholisch-sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatlichkeit. Die Zusammenhänge zwischen den Gruppen sind poröser, die gesellschaftlichen Bindungen fragiler. Die diskursive Interaktion zwischen oben und unten nimmt ab. Der Trend in den fachbrüderlichen Seilschaften an der Spitze der Globalisierungseliten geht keineswegs zu flacheren Hierarchien und Mitarbeiterbeteiligung. Unter den hoch beschleunigten Bedingungen dynamischer Informationsvermittlung und Finanztransfers gilt ihnen Teilhabe als störend und daher ineffizient.

Das Land steht in der Tat vor bitter ernsten Problemen. Doch keines dieser Probleme — die neue Klassenbildung und soziale Polarisierung, die Tribalisierung der Gesellschaft, die neue, allein durch omnipotenten Besitz konstituierte Machtzentralisierung — steht auf der Agenda der beiden Großparteien und damit der neuen Regierung. Sie ist, wie auch die Meinungseliten, geistig darauf nicht im geringsten vorbereitet. Die Republik aber braucht eine intelligente, sicher effiziente, gewiss moderne, aber doch auch robuste Re-Regulierung von Institutionen, braucht die empathische Rekonstruktion von integrativer Sozialmoral und kooperationsdemokratischen Normen des Gemeinwohls. Ein großer Teil der bundesdeutschen Gesellschaft wird all dies in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zunehmend und heftig einfordern. Man kann diesen Mentalitätswechsel schon jetzt in anderen europäischen Staaten prägnant beobachten. Irgendwann mag aus einer solchen neuen Mentalität auch in Deutschland wieder eine ganz neue politische Koalitionsmehrheit erwachsen. Doch auch dann wird der Regierungswechsel keine Epochenzäsur begründen. Denn das ist ein markantes Signum der Moderne: Die Politik kommt ganz überwiegend zu spät.

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