Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Die wieder­ge­fun­dene Linke

Nach einer Epoche der neoliberalen Ideologie ist die soziale Frage wieder da

aus : Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3/4/2005), S.45-55

Die Linke und vor allem ihr sozialistischer Flügel hatte vor 1989 nur einen prekären und danach über lange Zeit keinen richtigen Ort im symbolischen Raum der Politik. Das staatssozialistische Projekt zog überraschenderweise auch die undogmatische, libertäre, sozialistische Linke in sein Ende mit hinein. Kritische Theoretikerinnen sahen damals eine tiefe Diskontinuität, das utopische Potential sei erschöpft, die Geschichte trete in ein postsozialistisches Zeitalter ein, in der allenfalls Gerechtigkeitsdefizite kompensiert und noch nicht anerkannte Lebensformen Anerkennung finden sollten. Das antiautoritäre Bilderverbot der Kritischen Theorie drohte dort eine affirmative Wendung zu nehmen, wo die Gegenwart keine alternative Zukunft mehr zu haben schien. Das herrschende Selbstverständnis sah in der heiligen Allianz von Markt und Demokratie ohne-hin das Ende der Geschichte erreicht. Das Älteste wird zur ewig währenden Mode, das Aktuellste als überholt verworfen: Jesus lebt, Marx ist tot. Die Einheit und die Mission des Christentums unter der Führung Roms werden zur Bewahrung und Erweiterung des Abendlands beschworen; die Einsichten Galileis und Darwins, ja die Wissenschaftlichkeit insgesamt stehen zur Disposition des Glaubenskults und des Mystizismus. Die kritische Theorie der Gesellschaft wurde in ihrer Gesamtheit für historisch obsolet erklärt, sie sei nicht mehr notwendig, denn sie habe ihre Aufgabe erfüllt und zur Normalisierung Deutschlands beigetragen. Die rot-grüne Regierung begann unter dem Vorzeichen einer Strategie des Dritten Wegs, im politisch-symbolischen Raum sah sie sich jenseits von links und rechts. Die traditionellen Koordinaten des Diskurses schienen jede Aktualität eingebüßt zu haben. Die SPD suchte die neue Mitte als Zentrum der „Berliner Republik”, die Grünen sahen sich im parlamentarischen Raum schon lange – und das war kein Zufall – weder links noch rechts, sondern vorne, also bereits in der Mitte, die die SPD noch suchte. Rot-Grün stand in der Kontinuität der 16-jährigen Kohl-Regierung, die geistigmoralische Wende setzte sich erst jetzt vollständig durch in der panischen Sorge dieser Regierung, sie könnte einen Aufbruch der Linken begünstigen und dafür von der Presse gestraft werden. Es war ein ans Pathologische grenzendes öffentliches Ritual, die politischen Verantwortungsträger an ihre ’68er-Vergangenheit zu erinnern, um so noch einmal ihre Anpassung herauszustreichen. So prägte das Parvenühafte das Bild: Anzüge, Haare, Ehefrauen, wohlgefälliges Verhalten in der Schickimicki- und Unternehmerszene; die Demonstration des stolzen Besitzes der Regierungsmacht, von Staatsmännlichkeit und zwanghafter Realitätstüchtigkeit, wie sie sich im Fall des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs im Kosovo, in der Härte der Maßnahmen gegen Arbeitslose oder in der Abwehr der Globalisierungskritik entfaltete, verkleisternde Normalitätsrhetorik, die zu einer lasziven Form der Realitätsleugnung führte, schoben sich symbolisch in den Vordergrund. Es war nicht die Regierung der Durchsetzung der sozialökologischen Ziele, der Mobilisierung der Bevölkerung und der Herstellung einer breiten Koalition für eine nachhaltige Entwicklung. Sie hätte helfen können, die Widerstände zu überwinden, die die Regierung zu vielen fragwürdigen Kompromissen veranlasst hat bei den so wichtigen Zielen des Atomausstiegs, bei der Umsteuerung in der Verkehrs- und Energiepolitik, in der Bildungspolitik, beim Staatsbürgerschaftsrecht, bei der Regelung von Partnerschaften, bei der Gesundheitsreform, der Wende in der Agrarpolitik und beim Verbraucherschutz sowie bei der Einführung der direkten Demokratie. Durchaus vorhandene gute Ansätze wurden fallen gelassen, blokkiert, ins Gegenteil verkehrt oder nur noch rudimentär durchgesetzt. Aus der demoskopischen Mehrheit in der Bevölkerung für ein solches sozial-ökologisches Projekt wurde keine handelnde Mehrheit, im Gegenteil erodierte die Grundlage des Bewegungsprojekts. In einer langen Serie von Niederlagen wurden beide Parteien aus Regierungsämtern gewählt, ohne dass die Konservativen über wahlarithmetische Erfolge hinaus an Zustimmung gewonnen hätten. Sich selbst mit der Geschichte verwechselnd, konnte Minister Fischer am Ende sagen, dass mit der Beendigung der Koalition das rot-grüne Projekt abgeschlossen sei und ein neues Kapitel der Geschichte aufgeschlagen würde. So als würden sich die Probleme nicht weiter stellen, als seien sie nur die Aufgabe einer Legislaturperiode, eines Kabinetts, einer Politikergruppe oder, wie Westerwelle es gern sehen würde, einer Generation, der ’68er gewesen. Alt-Kanzler Schröder wird nun ins Klassische emporgeredet, weil er mit der Agenda 2010 mutig die Jahrhundertreform des Umbaus und der Sicherung des Sozialstaats angestoßen habe. Aber sind diese Zeitdiagnosen angemessen? Ist das der Stand der Geschichte? Verwechseln hier nicht Akteure ihre Biographie mit umfassenderen gesellschaftlichen Prozessen?

Das Prinzip der Nachhal­tig­keit wurde ins Grenzenlose verwässert

Das Ziel der nachhaltigen Entwicklung, in seinen sozialen, ökologischen, demokratischen Aspekten Ergebnis einer global geführten und konfliktreichen Diskussion zwischen sozialen Bewegungen, internationalen Institutionen und Regierungen in den 1970er und 1980er, wurde dramatisch vereinseitigt. Es setzte sich die liberale Version der Nachhaltigkeit durch, die darunter Generationengerechtigkeit versteht, also den Schutz der zukünftigen Generationen vor den angeblich egoistischen Interessen der Gegenwärtigen, und doch allein die Sanierung der öffentlichen Haushalte meint. Oberflächlich betrachtet scheint sich dies der Strategie des Dritten Weges entgegen zu stellen. Sie besagt Anthony Giddens zufolge, dass eine grenzenlose Erkundung der Zukunft auf Kosten des Schutzes der Gegenwart oder der Vergangenheit ausgeschlossen sei. Das unterwirft, gegen alle emanzipatorische und demokratische Tradition seit der amerikanischen Revolution, die Zukunft der Gegenwart; wenn die Gegenwart nicht im offenen Horizont einer zu erlangenden Zukunft gelesen wird, dann lassen sich ihre Widersprüche und Entwicklungsmöglichkeiten nicht dechiffrieren, die Zukünftigen werden an die Beschränktheiten der Gegenwart gefesselt, diese verschließt sich ihrer Erkenntnis, sie bleiben stumpf und werden Konformisten. So verspricht eine Politik der Haushaltssanierung, den zukünftigen Generationen wieder die Freiheit und demokratischen Rechte zurückzugeben, die die Verschuldungspolitik ihnen nimmt. Grundsätzliche Fragen der Ökologie, der Gerechtigkeit, der Demokratie, der Sozialstruktur entstehen hier. Real kehrt sich das Freiheitsversprechen der Entschuldung um. Die Haushaltssanierung stellt eine jener brutalen Techniken der Festlegung der Zukunft zugunsten der Kontinuität der in Vergangenheit und Gegenwart herrschenden Interessen dar: Sparen heißt herrschen. Die Möglichkeiten der Umverteilung werden eingeschränkt, Familien mit niedrigeren Einkommen werden unverhältnismäßig belastet, die Zukunft der Kinder und Kindeskinder wird dramatisch beschränkt, die Betreuung in den Kindergärten und Schulen wird schlechter, die Selektion in den Schulen schärfer, der Zugang zu den Hochschulen restriktiver, die Lerninhalte auf allen Ebenen kümmerlicher, Sportplätze und Schwimmbäder stehen in geringerem Maße zur Verfügung, das kulturelle Angebot der Kommunen wie der öffentlichen Medien wird eingeschränkt. Es erweist sich als krassester Egoismus der Gegenwärtigen, nicht in die Zukunft zu investieren und dafür auch Schulden der Allgemeinheit einzugehen. Dabei gibt es Ungereimtheiten, denn der Schuldenabbau, seit langem Programm, geht trotz aller Sparzumutungen und Veräußerungen öffentlichen Eigentums kaum voran; zudem bedeuten Schulden reale wirtschaftliche Leistungen in der Gegenwart; und mit ihnen wird eine Zukunft vorbereitet, in der die Gesellschaft die wirtschaftlichen Leistungen erbringt, um Schulden zu bedienen. Öffentliche Schulden ohne nähere Qualifizierung der Art der Schulden zu vermeiden, bedeutet nichts anderes als dass diejenigen, die heute über die Ressourcen verfügen, ihre Zukunft vorbereiten, die ihnen gemäße Zukunft festlegen und planen können, während die anderen sich in die zeitlose Dauer der Gegenwart fügen müssen. Konnte die Regierung Kohl noch weitgehend als neokonservativ gelten, so traten die neoliberalen Programmelemente unter der rot-grünen Regierung im Laufe der zwei Legislaturperioden sehr viel deutlicher hervor. Im Zentrum der Politik stand die Alternativlosigkeit des Weltmarkts, die Sachzwänge der Globalisierung, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Die komplizierten Verhältnisse der Veränderung von Unternehmen, des Verhältnisses von produktivem und finanziellem Kapital, die Entwicklung von Wissensarbeit, all dies wurde, in bester sozialdemokratischer Tradition durch ökonomistische Logik in einen ökonomischen Sachzwang transformiert und bestimmte als ideologischer Imperativ die Politik. Der Kardinalfehler dieser Politik war das Ziel der weltmarktorientierten Wettbewerbsfähigkeit, das sich mit dem Ziel der Grünen verband, die menschliche Arbeitskraft billiger zu machen – ein absurder letzter Rest von ökologischer Produktivismuskritik. Das war die Formel, unter der sich beide Partner zusammenfinden konnten.

Um die deutsche Wirtschaft auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu machen, sollten die Löhne gesenkt werden. Erwartet wurde, dass niedrige, untertarifliche Löhne, die Aufweichung des Kündigungsschutzes, die Flexibilisierung der Arbeitszeiten dazu beitragen würden, Arbeitsplätze zu schaffen; mit den eintretenden Beschäftigungseffekten würden die sozialen Sicherungssysteme entlastet und die Steuereinnahmen wachsen. Nie war von Profiten die Rede, immer nur von Arbeitsplätzen, diese waren der Fetisch und Allgemeinplatz der Politik bis hin zu der Absurdität, dass auch Arbeitsplätze nur vernichtet wurden, um den Standort und Arbeitsplätze zu sichern. Diese Strategie hatte Erfolg. Die Unternehmen machen seit Jahren große Gewinne — nach dem bekannten Prinzip, dass der Reichtum der einen die Armut der anderen ist. Diese bezahlen den Erfolg durch überlange Arbeitszeiten, körperliche Erschöpfung, schlechte Bezahlung, Senkung des Lebenshaltungsniveaus. Die Senkung des Lohnniveaus exportiert Arbeitslosigkeit und zerstört den Produktionsapparat in anderen Ländern. Diese können ihrerseits nur mit Senkung der Löhne antworten. In der Tendenz kommt es zu Deflation. Investitionen lohnen für die Unternehmen nicht, die Produktivität sinkt, damit wird aber ein wichtiger Standortfaktor geschwächt, nämlich Wissen, das sich nur in einem Hochlohnland und auf hohem technologischen Niveau zur Entfaltung bringen lässt. Mit weniger will man nun auch in diesem Bereich mehr erreichen, die Kampagnen zu Innovation und Wissensvermehrung überbieten sich und bringen doch nur Verschlechterung.

Ein Standort wird kaputt gemacht

Die rot-grüne Regierung glaubte, die Kritik an dieser Strategie, die noch durch den sie umgebenden breiten Kranz journalistischer und wissenschaftlicher Ja-Sager durchkam, sei die Moserei der früheren Gesinnungsgenossen, die ihnen Ämter, öffentliches Ansehen, Altervorsorge neideten, geäußert von Anhängern überholter Wirtschaftsdoktrinen und Reformziele. Doch diese Politik führte dazu, dass Kapital konzentriert wurde, dass viele Unternehmen übernommen und gewinnbringend ausgeschlachtet wurden, so dass die Zahl der Insolvenzen stieg und bis in die Mittelklassen hinein Unruhe entstand. Geringere Reallöhne ließen die Kaufkraft und damit die Nachfrage sinken; die noch vorhandenen Mittel müssen jetzt für mehr Eigenvorsorge verwendet werden, werden also zwangsläufig in andere Wirtschaftsbereiche umgelenkt als erwartet wurde; und selbst hier, in den Finanzinstitutionen kommt es zu den Synergieeffekt genannten Rationalisierungen durch die verstärkte Ausrichtung auf Investmentbanking, Unternehmensreorganisation und Kapitalkonzentration. Die Niedriglohnjobs vermehren zwar die Zahl der Arbeitsplätze, gleichzeitig jedoch müssen die einzelnen mehrere Jobs (oder Schwarzarbeit) ausüben, um ihre Existenz zu sichern, so dass am Ende der größeren Zahl von Arbeitsplätzen auch eine größere Zahl von Arbeitslosen gegenüberstehen. Die Steuergeschenke für die Wohlhabenden und die systematische Bereicherung der Kapitaleigner sind mit dramatischen zusätzlichen Belastungen für die Lohnsteuerpflichtigen verbunden — die ihre Steuern nicht freiwillig deklarieren, die nichts absetzen und nichts hinter-ziehen können, also vom Gesetzgeber fundamental ungleich behandelt werden. Die sozialstaatlichen Leistungen verschlechtern sich, die Kontrollen von Leistungsempfängern werden verschärft. Die Erwartung, dass die Sozialdemokraten aufgrund ihrer Nähe zu den Gewerkschaften und manche Grüne aufgrund eigener biographischer Erfahrungen mit diskontinuierlichem Erwerb und prekärer Beschäftigung Verständnis für Arbeitslose, auch ihre eigenen Diskussionen zu Grundeinkommen noch in Erinnerung haben würden, wurde fundamental enttäuscht. Anstatt Arbeitslosigkeit und Frühverrentung als arbeitsfreie Zeit und gesellschaftlichen Reichtum zu thematisieren, wurden die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger abgewertet, die RentnerInnen als Last definiert. Die an sich gute Idee, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen, wurde wie so vieles andere pervertiert. Am Ende stand wieder einmal das Stigma des ,Sozialschmarotzers`, während die Kritik an der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums als Neiddiskurs diskreditiert wurde. Sozialstaatliche Rechte wurden hinter Pflichten, Selbstverantwortung und Eigenaktivität zurückgestellt — so als sei das bisher nicht auch der Fall gewesen, als seien die Apparate der Sozialversicherung nicht ohnehin schon eine weltfremd-bürokratische Disziplinareinrichtung; auf trübe Weise wurde insinuiert, dass „wir uns das nicht mehr leisten können” — so als seien die sozialen Absicherungen nicht durch Versicherungsbeiträge und durch Steuern, also von den gegenwärtig lebenden Bürgern, finanziert, und als könnten sie sich als Einzelne leisten, was sie angeblich kollektiv nicht mehr vollbringen können. Die entscheidenden Reformen des Gesundheitssystems blieben aus: Bürgerversicherung, Kontrollrechte der Patienten, Umstellung auf Vorsorge und effizientere Nutzung des medizinischen Geräteparks, Preiskontrolle der Pharmaprodukte. Ganz in der Kontinuität der Kohl-Regierung wurde öffentliches Eigentum privatisiert, verkauft oder aus der öffentlichen Kontrolle entlassen: öffentliche Verkehrsmittel und -wege, Telekommunikation und Postdienste, Krankenhäuser, öffentlicher Raum und Bildung. Dabei besagt Artikel 14 Grundgesetz ausdrücklich, dass Eigentum — und das schließt ja öffentliches Eigentum ein — gewährleistet und dem Wohle der Allgemeinheit verpflichtet sei. Die Politik der Privatisierung stellt geradezu einen Verstoß gegen diese grundrechtliche Regelung dar. Die Ansätze zum Protest, statt dass sie von SPD und Grünen unterstützt worden wären, wurden beschwiegen, lächerlich gemacht oder bekämpft.

Grassie­render Reali­täts­ver­lust?

Die Realitätsleugnung der Regierung Kohl war schon bemerkenswert, doch bei Schröder und Fischer fühlte man sich immerzu an das Märchen von Andersen über des Kaisers neue Kleider erinnert. Sie glaubten, dass der Protest gegen ihre Politik verschwinden würde, wenn sie ihn ignorieren oder als Kritik von Ewiggestrigen diskreditieren würden, jenen Unverbesserlichen, die aus ihrer Sicht immer noch dort waren, wo sie selbst einmal herkamen, und sich in utopische Ziele verbohrt hatten. Sie verstanden offensichtlich nicht, dass auch ihre Distanznahme eine verändernde Praxis war, dass auch die Linke, die sie als „Fundis” hinter sich gelassen zu haben glaubten, sich schon längst geändert hatte. Was sie übersahen war, dass eine neue historische Formation entstand.Die Kämpfe nahmen eine andere Form an und wurden mit anderen Themen, anderen Akteuren, anderen Aktionen und anderen Ziele geführt. Es entstanden seit dem Auf-stand der Zapatisten und den Protesten in Seattle Ende der 1990er Jahre auch in Deutschland global vernetzte, altermondialistische soziale Bewegungen und Organisationen. Sie entwickelten sich im Protest zum rot-grünen Projekt und lösten sich von diesem ab, weil sie begriffen, dass es ein aktives, treibendes Moment im Reorganisationsprozess der kapitalistischen Produktionsweise geworden war und sich insofern die Bedeutung von SPD und Grünen und ihrer Politik – bei einem Teil der Akteure sicherlich auch gegen bessere Absichten – grundlegend gewandelt hatte und nicht mehr als ein Beitrag zu einer Reformpolitik in einer linken Perspektive betrachtet werden konnte. Da war keine Öffnung, kein verheißungsvolles Projekt, das Wagnis der Demokratie radikal fortzusetzen, sondern nur Abwehr und Arroganz. Die SPD verlor deutlich Mitglieder, sie hatte Verluste bei Wahlen, programmatisch versank sie in die Bedeutungslosigkeit, die linke Strömung in der SPD versickerte fast vollständig und war fortan nur noch in nicht nachvollziehbaren personalpolitischen Manövern sichtbar. Es kam zur Erosion bei den Grünen und zu einem Austausch der Mitgliedschaft, die Zunahme der Wählerstimmen für die grüne Partei fand ein Ende, sie verlor zunehmend an Unterstützung und damit auch an Regierungspositionen. Es wurde gleichsam offiziell, dass sie sich zu einer zweiten liberalen Partei neben der FDP entwickelt hatte. Die Grünen, als Kompromisspartei gegründet, in der linksradikale Gruppen der neuen Linken, Bürgerinitiativen und konservative Lebensschützer in den Auseinandersetzungen der 1970er Jahre aufgegangen waren, erwiesen sich zunehmend als unfähig, um ökologische Themen, die sie selbst kaum noch ernst nahmen, noch linke Tendenzen zu bündeln. Dies stellt eine historische Zäsur dar.

Eine Linke jenseits von Rot-Grün entsteht

Diese Zäsur ist verknüpft mit anderen Vorgängen, die den Raum für neue Konstellationen schaffen. Gab es schon beim Kampf gegen die Rechte in den 1990er Jahren, bei Fragen der nachhaltigen Entwicklung Berührungspunkte zwischen linken und Bewegungsgruppen und Gewerkschaften, so verbanden sich nun zum ersten Mal seit den 1960er Jahren die sozialen Bewegungen wieder mit den Gewerkschaften und versuchten, teilweise erfolgreich, mit ihnen Allianzen gegen die neoliberale Politik zu bilden. Vielleicht wurde damit noch nicht die Distanz zwischen beiden Kräften überwunden – was auch wegen unterschiedlicher Interessenlagen, Haltungen und Organisationsformen nur in einem begrenzten Umfang zu erwarten war –, aber es besteht nicht mehr die häufig blockierende Gewerkschaftsfeindlichkeit, deren Kontinuität sich bei einem wichtigen Teil des grünen Personals vom Linksradikalismus der 1970er Jahre über die antiproduktivistische Haltung der neuen sozialen Bewegungen bis in die Politik der grünen Partei hinein trotz aller sonstigen Veränderungen verfolgen lässt. Im Gegenteil: Es ist eine neue Form internationalistischer Solidarität entstanden, die weniger illusorisch auf militante Kämpfe anderswo hofft als sich genauer mit den weltgesellschaftlichen Zusammenhängen und der Lebenslage der Menschen, also Arbeitssituation, Armut, Kämpfen um Ent- und Aneignung zu befassen. Das hat auch in verstärktem Maße mit den Akteuren in den Ländern des Südens zu tun, mit Bewegungen wie den Zapatisten, der Bewegung der sozialen Foren, die die emanzipatorischen Akteure des Südens selbst miteinander in Kontakt bringt, die damit mehr und mehr die koloniale Situation über-winden und sich nicht mehr subaltern dem Entwicklungsgedanken der nordatlantischen kapitalistischen Moderne unterordnen, sondern selbstbewusst von den OECD-Staaten verlangen, einem anderen Entwicklungsmodell zu folgen. Dies relativiert auch im Selbstverständnis der sozialen Bewegungen in den führenden kapitalistischen Ländern deren eigene Bedeutung.

Die zweite Veränderung resultierte daraus, dass aufgrund der Politik von Schröder, dem „Genossen der Bosse”, das historische Bündnis zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften Risse bekam. Die rot-grüne Regierung ging in ihrer Politik auf Distanz zu den Gewerkschaften, insbesondere die Agenda 2010 löste zahlreiche Proteste auch von Gewerkschaftsmitgliedern aus. Dies führte schließlich zur Gründung der Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit durch Gewerkschaftslinke, darunter Gewerkschaftsfunktionäre insbesondere der IG Metall. Ein vergleichbares Projekt gab es historisch lange nicht, dass nämlich aus Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik und einer Verschlechterung der Lebenslage der Lohnabhängigen aus der Arbeiterbewegung heraus die Initiative zur Bildung einer neuen politischen Formation links von der SPD entstand. Ihr Ziel war die Vertretung von Lohnarbeitsinteressen und die Verteidigung des Sozialstaats. Nach der Niederlage der rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen wurde deutlich, dass WASG und die PDS sich darüber bewusst werden mussten, welche Verantwortung sie für die Situation der Linken in Deutschland tragen. Strategisch war klar: Nur gemeinsam konnten sie die 5-Prozent-Hürde bei den vorgezogenen Bundestagswahlen überspringen. Doch gab es auf beiden Seiten große Vorbehalte. Die Sorge von Mitgliedern der Wahlalternative ist nach wie vor, dass die PDS, sobald sie an die Regierung kommt, eine ähnlich neoliberale Sanierungspolitik verfolgt wie die SPD — mit allen Folgen der Einschnitte im öffentlichen Angebot. Kritisiert wird neben abstraktem Marxismus die konzeptionslose Politik der PDS, die häufig nicht mehr ist als Interessenpolitik für Regionen in Ostdeutschland. Der PDS wiederum fehlt bei der WASG die sozialistische Perspektive. Ob das Bündnis und die Fusion zu einer Partei gelingt, ist gegenwärtig offen, obwohl in beiden Parteien wichtige Vorentscheidungen dafür gefallen sind. Viel wichtiger aber ist die Frage, ob es der neuen Parteiformation gelingt, sich zu einer linken und sozialistischen Partei für die Phase des Postfordismus zu entwickeln,

Die Rückkehr der sozialen Frage

Mit der Dynamik des sozialen Protests, mit der Entfaltung neuer theoretischer Diskussionen, schließlich durch das Auftreten der neuen Parteiformation kommt es zu Veränderungen im symbolischen Raum. Das Tabu, das zwischenzeitlich über jede Form von
Die Kämpfe nahmen eine andere Form an und wurden mit anderen Themen, anderen Akteuren, anderen Aktionen und anderen Ziele geführt. Es entstanden seit dem Aufstand der Zapatisten und den Protesten in Seattle Ende der 1990er Jahre auch in Deutschland global vernetzte, altermondialistische soziale Bewegungen und Organisationen. Sie entwickelten sich im Protest zum rot-grünen Projekt und lösten sich von diesem ab, weil sie begriffen, dass es ein aktives, treibendes Moment im Reorganisationsprozess der kapitalistischen Produktionsweise geworden war und sich insofern die Bedeutung von SPD und Grünen und ihrer Politik – bei einem Teil der Akteure sicherlich auch gegen bessere Absichten – grundlegend gewandelt hatte und nicht mehr als ein Beitrag zu einer Reformpolitik in einer linken Perspektive betrachtet werden konnte. Da war keine Öffnung, kein verheißungsvolles Projekt, das Wagnis der Demokratie radikal fortzusetzen, sondern nur Abwehr und Arroganz. Die SPD verlor deutlich Mitglieder, sie hatte Verluste bei Wahlen, programmatisch versank sie in die Bedeutungslosigkeit, die linke Strömung in der SPD versickerte fast vollständig und war fortan nur noch in nicht nachvollziehbaren personalpolitischen Manövern sichtbar. Es kam zur Erosion bei den Grünen und zu einem Austausch der Mitgliedschaft, die Zunahme der Wählerstimmen für die grüne Partei fand ein Ende, sie verlor zunehmend an Unterstützung und damit auch an Regierungspositionen. Es wurde gleichsam offiziell, dass sie sich zu einer zweiten liberalen Partei neben der FDP entwickelt hatte. Die Grünen, als Kompromisspartei gegründet, in der linksradikale Gruppen der neuen Linken, Bürgerinitiativen und konservative Lebensschützer in den Auseinandersetzungen der 1970er Jahre aufgegangen waren, erwiesen sich zunehmend als unfähig, um ökologische Themen, die sie selbst kaum noch ernst nahmen, noch linke Tendenzen zu bündeln. Dies stellt eine historische Zäsur dar.

Eine Linke jenseits von Rot-Grün entsteht

Diese Zäsur ist verknüpft mit anderen Vorgängen, die den Raum für neue Konstellationen schaffen. Gab es schon beim Kampf gegen die Rechte in den 1990er Jahren, bei Fragen der nachhaltigen Entwicklung Berührungspunkte zwischen linken und Bewegungsgruppen und Gewerkschaften, so verbanden sich nun zum ersten Mal seit den 1960er Jahren die sozialen Bewegungen wieder mit den Gewerkschaften und versuchten, teilweise erfolgreich, mit ihnen Allianzen gegen die neoliberale Politik zu bilden. Vielleicht wurde damit noch nicht die Distanz zwischen beiden Kräften überwunden – was auch wegen unterschiedlicher Interessenlagen, Haltungen und Organisationsformen nur in einem begrenzten Umfang zu erwarten war –, aber es besteht nicht mehr die häufig blockierende Gewerkschaftsfeindlichkeit, deren Kontinuität sich bei einem wichtigen Teil des grünen Personals vom Linksradikalismus der 1970er Jahre über die antiproduktivistische Haltung der neuen sozialen Bewegungen bis in die Politik der grünen Partei hinein trotz aller sonstigen Veränderungen verfolgen lässt. Im Gegenteil: Es ist eine neue Form internationalistischer Solidarität entstanden, die weniger illusorisch auf militante Kämpfe anderswo hofft als sich genauer mit den weltgesellschaftlichen Zusammenhängen und der Lebenslage der Menschen, also Arbeitssituation, Armut, Kämpfen um Ent- und Aneignung zu befassen. Das hat auch in verstärktem Maße mit den Akteuren in den Ländern des Südens zu tun, mit Bewegungen wie den Zapatisten, der Bewegung der sozialen Foren, die die emanzipatorischen Akteure des Südens selbst miteinander in Kontakt bringt, die damit mehr und mehr die koloniale Situation überwinden und sich nicht mehr subaltern dem Entwicklungsgedanken der nordatlantischen kapitalistischen Moderne unterordnen, sondern selbstbewusst von den OECD-Staaten verlangen, einem anderen Entwicklungsmodell zu folgen. Dies relativiert auch im Selbstverständnis der sozialen Bewegungen in den führenden kapitalistischen Ländern deren eigene Bedeutung.

Die zweite Veränderung resultierte daraus, dass aufgrund der Politik von Schröder, dem „Genossen der Bosse”, das historische Bündnis zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften Risse bekam. Die rot-grüne Regierung ging in ihrer Politik auf Distanz zu den Gewerkschaften, insbesondere die Agenda 2010 löste zahlreiche Proteste auch von Gewerkschaftsmitgliedern aus. Dies führte schließlich zur Gründung der Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit durch Gewerkschaftslinke, darunter Gewerkschaftsfunktionäre insbesondere der IG Metall. Ein vergleichbares Projekt gab es historisch lange nicht, dass nämlich aus Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik und einer Verschlechterung der Lebenslage der Lohnabhängigen aus der Arbeiterbewegung heraus die Initiative zur Bildung einer neuen politischen Formation links von der SPD entstand. Ihr Ziel war die Vertretung von Lohnarbeitsinteressen und die Verteidigung des Sozialstaats. Nach der Niederlage der rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen wurde deutlich, dass WASG und die PDS sich darüber bewusst werden mussten, welche Verantwortung sie für die Situation der Linken in Deutschland tragen. Strategisch war klar: Nur gemeinsam konnten sie die 5-Prozent-Hürde bei den vorgezogenen Bundestagswahlen überspringen. Doch gab es auf beiden Seiten große Vorbehalte. Die Sorge von Mitgliedern der Wahlalternative ist nach wie vor, dass die PDS, sobald sie an die Regierung kommt, eine ähnlich neoliberale Sanierungspolitik verfolgt wie die SPD – mit allen Folgen der Einschnitte im öffentlichen Angebot. Kritisiert wird neben abstraktem Marxismus die konzeptionslose Politik der PDS, die häufig nicht mehr ist als Interessenpolitik für Regionen in Ostdeutschland. Der PDS wiederum fehlt bei der WASG die sozialistische Perspektive. Ob das Bündnis und die Fusion zu einer Partei gelingt, ist gegenwärtig offen, obwohl in beiden Parteien wichtige Vorentscheidungen dafür gefallen sind. Viel wichtiger aber ist die Frage, ob es der neuen Parteiformation gelingt, sich zu einer linken und sozialistischen Partei für die Phase des Postfordismus zu entwickeln.

Die Rückkehr der sozialen Frage

Mit der Dynamik des sozialen Protests, mit der Entfaltung neuer theoretischer Diskussionen, schließlich durch das Auftreten der neuen Parteiformation kommt es zu Veränderungen im symbolischen Raum. Das Tabu, das zwischenzeitlich über jede Form von
Sozialkritik verhängt worden war, scheint in Ansätzen gebrochen. Bestand eine der fragwürdigen Leistungen der Regierung von Schröder und Fischer darin, die sozialen Proteste und Bewegungen zu neutralisieren, so zeigte die Sozialdemokratie nach der Gründung der WASG ziemlich bald Nerven. SPD und Grüne nahmen für sich plötzlich wieder in Anspruch, linke Parteien zu sein. Müntefering, der neue Parteivorsitzende der SPD, ging auf vorsichtige Distanz zur Agenda 2010, indem er Nachbesserungen versprach. Er wies auf eines der Phänomene der finanzgetriebenen Akkumulationsdynamik hin, die Übernahme von Unternehmen zu spekulativen Zwecken. Münteferings zaghafte, einseitige und nationalistisch getönte Kritik an den über deutsche Arbeitsplätze herfallenden Heuschrecken löste Beunruhigung aus. Der grüne Koalitionspartner verwahrte sich dagegen, dass der Kapitalismus kritisiert werde. So heruntergekommen war der offizielle Bewusstseinsstand in der Bundesrepublik schon, dass nicht einmal mehr Kritik auf Hollywoodniveau akzeptabel erschien. Vergleichbar nämlich hatte sich die Romanze Pretry Woman den skrupellosen Yuppie vorgenommen, der Unternehmen aufkauft, zerlegt und Einzelteile gewinnbringend weiterverkauft, bis er auf die von Julia Roberts gespielte „Bordsteinschwalbe” stößt, die ihm das Bedürfnis nach fester Bindung und Familienglück eingibt. Mittlerweile, nach den Wahlniederlagen und dem Verlust der Bundesregierung, suggeriert die SPD eine kleine Öffnung nach links: Mindestlohn, Bürgerversicherung, Verteidigung der Gewerkschaften, aktive Beschäftigungspolitik. Auch die öffentliche Meinung gewinnt in geringem Maße wieder Realitätstüchtigkeit zurück. So stellt Die Zeit überraschend fest, dass Aldi und andere Discounter ihre Gewinne rücksichtslos auf dem Rücken der Beschäftigten machen: miserable Arbeitsverhältnisse, geringe Entlohnung, Verhinderung von Interessenvertretungen; die Privatisierung der Bahn und ihre Orientierung am Gewinn, so befinden wirtschaftsliberale Autoren in der Zeit ganz überrascht, führen nicht zur bürgerfreundlichen Bahn. Schließlich wird sogar in die Stichwortzentrale neoliberaler Öffentlichkeitsformierung, die Talkrunde von Sabine Christiansen, mit Rudolf Hickel einer der Sprecher einer keynesianisch orientierten Wirtschaftspolitik eingeladen.

Die Linkspartei als Heimat der Linken und Garantin des linken Projekts?

Die sozialen Bewegungen und die Strömungen der außerparlamentarischen Linken haben sicherlich einiges erreicht, die symbolischen Koordinaten des Diskurses zu verschieben, den Horizont der Geschichte wieder zu öffnen und für Gesellschaftsanalyse und -kritik ein neues Terrain zu schaffen. Für die Linke könnte es eine gewisse Bedeutung haben, wenn sich mit der Fusion von WASG und PDS eine linke Partei als stabiler Faktor in der bundesdeutschen Politik etablieren würde. Es sind zahlreiche Aufgaben, zu deren Erfüllung eine solche Partei beitragen könnte: den Skandal der Verarmung der einen und der Bereicherung der anderen durch fiskalpolitische Maßnahmen und Lohnentwicklung ins öffentliche Bewusstsein zu bringen; friedenspolitische Konzepte gegen die verantwortungsethischen Kriegstreiber geltend zu machen; dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung Nachdruck zu verleihen und ihm seine soziale, ökologische und demokratische Bedeutung wiederzugeben; soziale Gerechtigkeit gegen die Fanatiker der Leistungsgerechtigkeit in den Bereichen der Arbeit, der Bildung, der Migration einzufordern, den Gewerkschaften verlässlichen politischen Rückhalt gegen die Angriffe von liberaler und konservativer Seite zu bieten; den Rassismus und den Antisemitismus anzuprangern und für eine Unterstützung der gesellschaftlichen Gruppen einzutreten, die ihn bekämpfen; die Bürgerrechte gegen ihre scheibchenweise Aushöhlung zu verteidigen und Demokratisierungsprozesse anzuregen: durch Vorschläge zum Ausbau der Wirtschaftsdemokratie und durch die Einführung von Elementen der direkten Demokratie; schließlich die Europäisierung und Internationalisierung der Linken und sozialer Bewegungsgruppen zu stützen und voranzutreiben, wie sie sich in zahlreichen Netzwerken schon andeutet.

Mit der Etablierung der Linkspartei sind aber Prozesse verbunden, die aus der Sicht der Linken und der sozialen Bewegungen gewisse Gefahren darstellen. Worin bestehen diese? Die erste Gefahr ist, dass die Fusion der beiden Strömungen an der Engstirnigkeit und dem Partikularismus einzelner Personen oder Gruppen scheitert und damit die Möglichkeit zur Selbstorganisation eines wichtigen Teil der bundesdeutschen Linken vertan und die Etablierung einer stabilen parlamentarischen Vertretung der Linken auf Jahre hinaus unmöglich wird. Eine solche parlamentarische Repräsentation ist aber notwendig, weil nur so in die Parlamente ein Minimum an Kenntnisnahme der Realität hineinkommt. Allein eine linke Partei stellt die Ressourcen zur Verfügung, die notwendig sind, um kritische Expertise über die gesellschaftliche Entwicklung zu fördern oder zur Geltung zu bringen. Das setzt aber den Willen der Linkspartei voraus, tatsächlich ultrarealistisch (nicht: realpolitisch) zu sein, also den kritischen Gesellschaftsanalysen der Linken (also nicht: Gesinnungsphraseologie) ein verbindliches Forum zu bieten. Dies ist voraussetzungsvoll, denn es bedeutet, Politik auf der Grundlage von Heterogenität und Vielfalt der feministischen, queeren, migrantischen, antirassistischen, akademischen, internationalistischen, linken und sozialistischen Zusammenhängen zu machen und sich gegen die Dynamik zu stellen, sie auf ein Thema zu reduzieren. Ob dies angesichts der politischen Kulturen, aus denen heraus WASG und PDS hervorgegangen sind, möglich ist, ob sie wirklich ein innovatives Parteikonzept zu entwickeln vermögen, ist gegenwärtig wenn nicht geradezu bezweifelbar, dann doch immerhin noch unklar.

Die zweite Gefahr besteht darin, dass die Linkspartei sich als Bewegungspartei vergleichbar den Grünen in früheren Phasen missversteht, in diesem Fall als Ergebnis sozialer Proteste gegen Sozialstaatsabbau. Die Linkspartei sollte den sozialen Protestbewegungen Foren bieten, aber weder diese Bewegungen und ihre Sprecher absorbieren noch sie usurpieren. Dies würde bedeuten, die gewählten Politiker setzten sich mit der sozialen Bewegung gleich und neutralisierten dadurch deren Kritik. Die Dialektik zwischen Bewegung, Partei und Parlamentariern dürfte nicht still gestellt, sondern müsste aktiv organisiert werden. ParlamentarierInnen sollten sich also nicht beleidigt in ihre privilegierten Positionen einigeln und sich der Dynamik der Berufspolitik überlassen, die kaum noch Zeit lässt, die Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen. Noch schlimmer wäre, wenn die Linkspartei sich mit der Linken verwechselt. Vielleicht ist diese Gefahr sogar noch größer als die Verwechslung mit den sozialen Bewegungen. Dies liegt an der ,politischen Kultur‘ vieler der neuen Abgeordneten, Parteimitglieder und -intellektuellen. Sie kommen aus Organisationen wie den Gewerkschaften, der SPD oder der PDS, mit den sozialen Bewegungen und den Diskussionen der undogmatischen sozialistisch-postmodernen, feministisch-queeren Linken hatten sie vielfach nichts zu tun, deren demokratische Beteiligung fordernde Art mögen sie als lästig empfinden, deren radikale Kritik als störend. Es wäre irritierend wirklichkeitsverkennend, wenn die Linkspartei darauf setzen würde, Oskar Lafontaine zur führenden Figur der Linken in Deutschland und den Keynesianismus als letzten Stand linker Theoriebildung zu stilisieren. Aufgabe wäre es vielmehr, angesichts einer tief greifenden Veränderung der kapitalistischen Gesellschaftsformationen konzeptionelle und theoretische Defizite offen einzugestehen, neue Diskussionen anzuregen und zur Entstehung breiter gesellschaftlicher sozialer Bewegungen beizutragen.

Eine dritte Gefahr besteht darin, dass die Parteivertreter, den Zwängen parlamentarischer Politik folgend, Wahlerfolge lediglich als Momente des Weges zur Regierungsbeteiligung sehen. Zwar beteuern Sprecher von WASG und PDS, dass sie sich nicht an einer Koalition mit SPD und Grünen beteiligen würden. Aber eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene wird pragmatisch von vielen Parlamentariern des neuen Machtzentrums der Partei verfolgt. Unterschätzt wird — wie seinerzeit bei den Grünen —, dass eine Opposition aus der Distanz häufig größere Wirkung im Sinne der verfolgten Ziele zeitigt als die direkte Übernahme von Verantwortung. Es geht jedoch nicht um die Alternative Regierung oder Opposition, sondern um klare Kriterien, aufgrund derer eine Regierungsbeteiligung überhaupt sinnvoll sein könnte ohne das linke Projekt zu diskreditieren. Diese klaren Kriterien müssten Auskunft geben über den Korridor möglicher Kompromisse und die Grenzlinie, jenseits derer eine Regierungsbeteiligung auch abgebrochen würde. Vor allem aber geht es um die Perspektive einer demokratischen Transformation. Diese schließt ein, dass dafür argumentiert wird, weitere Privatisierungen öffentlicher Güter zu stoppen und frühere Privatisierungen rückgängig zu machen. Vor allem in den Bereichen des Verkehrs, der Gesundheitsversorgung und Bildung ist dies vordringlich.

Die vierte Gefahr ist die, dass die Partei sich an überholte Konzepte bindet. Hervorgehend aus dem Scheitern des staatssozialistischen Projekts der Herstellung von sozialer Gleichheit unter der Führung der Arbeiterklasse und dem Protest gegen die Zerstörung des fordistischen Wohlfahrtskompromisses könnten die Vertreter der zukünftigen Linkspartei glauben, die Globalisierung, der Standortwettbewerb und der Sozialstaatsabbau seien das Ergebnis von Ideologie, des Neoliberalismus. Es müsste dieser nur zur Seite geschoben, der Keynesianismus als umfassende Wirtschaftstheorie konsequent in Wirtschaftspolitik umgesetzt, der Sozialstaat wieder hergestellt, Nachfragerestriktionen aufgehoben, aktive Beschäftigungspolitik verfolgt werden, dann würden sich die Relationen wieder einpendeln. Doch die Krise des Wohlfahrtsstaats ist keine Erfindung der Neoliberalen und Neokonservativen, sie wurde über viele Jahre von der Linken diagnostiziert, der Sozialstaat, seine bürokratische, disziplinierende und normalisierende Auswirkung kritisiert. Es wäre falsch, das Herrschaftsprojekt von gestern als Utopie von morgen zu verkaufen. Auch wenn die Weltmarktprozesse überzeichnet werden, so gibt es die Erweiterung der globalen und regionalen Märkte und die Bedeutungszunahme der finanzgetriebenen Akkumulation gegenüber dem produktiven Kapital. Bei diesem werden weit reichende Veränderungen der Arbeitsorganisation, des Zugriffs auf das Arbeitsvermögen, der Unternehmensformen festgestellt. Die neoliberale Politik hat in den vergangenen 25 Jahren viele der Emanzipationsformeln der neuen sozialen Bewegungen und der Linken der 1970er Jahre aufgegriffen und auf diese Weise einer passiven Revolution unterzogen, die die Interessenorientierungen in allen sozialen Klassen verändert hat. Darüber lässt sich nicht hinweggehen. Der national getönte geschlossene Handelsstaat und der ihn tragende keynesianische Wohlfahrtskompromiss bieten keine Perspektive. Auch wenn im Lichte einer zu erlangenden emanzipatorischen Zukunft manches am Sozialstaat und an der keynesianischen Politik verteidigenswert sein mag, so müssen die neuen Parameter mitbedacht sein. Es ist eine Aufgabe der Linkspartei, dafür die Ressourcen zu mobilisieren. Die hohe und die eher noch zu fördernde Produktivität und die Entgrenzung nationaler Märkte werden es kaum ermöglichen, durch Nachfragesteigerung größere Beschäftigungseffekte auszulösen. Es gibt in vielen Industriebereichen Überkapazitäten, die nicht durch neue Nachfrage aufgefangen werden können; diese Konsumnachfrage wäre auch vielfach nicht nachhaltig. Deswegen bedarf es entgegen den von den Regierungen und ihren Parteien geführten Diskussionen zur Verlängerung der Arbeitszeit ihrer drastischen Senkung; und es bedarf eines Grundeinkommens, das die soziale Sicherung unabhängig von versicherungspflichtigen Arbeitseinkommen macht. Nachhaltige Wohlfahrt muss nach anderen Gesichtspunkten als Einkommen und Wirtschaftswachstum definiert werden: dazu gehört freie Zeit, die Vereinbarkeit des Berufs mit der familialen Arbeit, die Möglichkeit einer psychisch und körperlich gesunden Lebensführung. Das Konsumniveau, sicherlich sozial gerechter verteilt, muss in vielen Hinsichten niedriger und an qualitativen Gesichtspunkten ausgerichtet werden. Es bedarf der Bildung: hundert Prozent der Bevölkerung müssen die Möglichkeit des Abiturs und des Studiums haben. Die symbolische Weltordnung bedarf der politischen und kulturellen Impulse: sie sollte sich nicht nur auf dem Niveau der Menschenrechte befinden und die Freiheit der Information und Meinungsbildung auf dem höchsten Niveau fördern. Eine kleine Partei wie die Linkspartei kann dies nicht allein bewältigen, sie kann dafür nur politisch argumentieren und helfen, breite Allianzen herzustellen. Die Grundlage dafür sind die sozialen Bewegungen. Die Linkspartei muss sich als ein Hilfsmittel dieser Allianzen verstehen und dafür tätig werden; bisher ist das noch nicht zu erkennen, das originell Neue der Linkspartei ist noch sehr im Überholten eingekapselt. Nur eine Linkspartei, die das Neue mithilft zu organisieren, wird gebraucht, für eine Wiederholung der Erfahrungen mit SPD und Grünen gibt es keinen gesellschaftlichen Bedarf.

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