Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Das Zukunfts­pro­jekt für die Linke

Nachhaltigkeit als Impulsgeber und Leitidee

aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3/4/2005), S.77-85

Wir haben gewonnen. Womöglich haben wir auch gar nicht gewonnen.
Vielleicht haben die anderen bloß verloren.
Oder vielleicht fangen unsere Schwierigkeiten jetzt erst an,
nachdem die Fesseln des ideologischen Konflikts abgestreift sind.
Lohn LeCarre

Antonio Gramsci hat Recht gehabt: Alles hat ein Innen und ein Außen. Die Macht der Herrschenden ist immer auch die Ohnmacht der Beherrschten. In der Moderne war es die politische Linke mit ihren Konzepten von Emanzipation, die soziale Reformen vor-angetrieben hat. Mit ihr ist die Idee des gesellschaftlichen Fortschritts verbunden, des-sen Fundament in den vergangenen Jahrzehnten der nationalstaatlich organisierte Sozialstaat, hohe Wachstumsraten und sozialer Korporatismus etwa in Gestalt der antagonistischen Kooperation war. Mit der Entfesselung der Globalisierung, der entgrenzenden Dynamik der Informations- und Kommunikationstechnologien und dem Aufkommen des Postliberalismus ist das Modell des Rheinischen Kapitalismus, das auf einem Klassenkompromiss beruhte, ins Rutschen geraten. Weltweit dominiert heute ein angloamerikanischer Individualkapitalismus, der mit seiner Wirtschafts- und Unternehmensverfassung die soziale Marktwirtschaft in die Defensive gebracht hat.

Die politische Linke hat diese Entwicklung, die nicht nur ein Kampf um die Weltordnung ist, sondern auch tiefe Einschnitte im Inneren der Gesellschaften zur Folge hat, schon frühzeitig beschrieben und beklagt, aber faktisch keine Konsequenzen daraus gezogen. Sie hat sich, beispielhaft an der Linkspartei zu sehen, im Protest erschöpft und an die Stelle einer die Realität verändernden Strategie auf eine nostalgische Beschwörung der Vergangenheit beschränkt. So gehört es zu den Widersprüchen unserer Zeit, dass die politische Linke gerade heute, wo die soziale Frage in aller Schärfe zurückkehrt, in eine tiefe kulturelle Krise geraten ist. Das Gespenst der Zersplitterung ist real.

Die politische Linke ist nur dann stark und auf der Höhe der Zeit, wenn sie eine überzeugende Deutung der Ursachen heutiger Konflikte und Krisen anbietet und die Frage beantwortet, wie heute – unter den Bedingungen weltweit offener Märkte – sozialer Fortschritt möglich ist. Diese Herausforderung richtet sich zuerst an die politische Linke in der Sozialdemokratie. Das wird wiederum darüber entscheiden, ob die SPD ei-ne Mehrheit der linken Mitte schaffen und eine Perspektive über die große Koalition hinaus entwickeln kann. Das erfordert zuerst eine umfassende Bestandsaufnahme.

Die Chancen für den Fortschritt erkennen

Unsere Welt befindet sich in einer neuen Gründerzeit — mit allen Risiken, die sich aus den marktradikalen Umbrüchen in die globale Epoche ergeben, aber auch mit den großen Chancen, die sich aus dem Zusammenwachsen, der kulturellen Vielfalt und den neuen technologischen Möglichkeiten ergeben. Mit der Globalisierung, den offensichtlich gewordenen Grenzen der natürlichen Ressourcen und der heraufziehenden Wissensökonomie steht die Menschheit an der zweiten großen Wegscheide seit der industriellen Revolution. An diesem Punkt der Geschichte liegen Fortschritt und Rückfall eng zusammen.

Gewaltige Herausforderungen, aber auch große Möglichkeiten für eine soziale und ökologische Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft sind die beiden Seiten dieser Gründerzeit. Es ist eine Zeit der Unsicherheit wie der Neuorientierung. Die Gefahren liegen zuerst in der Ausbreitung von Krisen und Gewalt. Sie wurden vielfach in düsteren Farben beschrieben und finden fast täglich neue Nahrung. Damit verdecken sie den Blick auf die andere Seite. Tatsächlich scheint unsere Zeit so sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, dass sie nur noch die Probleme der Gegenwart sieht. Dagegen werden die Möglichkeiten der Zukunft kaum erkannt.

Dabei gibt es viele Ansatzpunkte für neuen Fortschritt. Vorrangig ist es die Aufgabe der Linken, Programme und Ideen für eine soziale und ökologische Umgestaltung der globalisierten Welt aufzuzeigen, für eine friedliche und demokratische Weltordnung. Doch die Linke erscheint wie gelähmt, als ob sie in der untergegangenen Welt der Nationalstaaten, in der sie mit der ldee der sozialen Demokratie große Verdienste erreicht hat, stecken geblieben ist. Jedenfalls gibt es einen unübersehbaren Widerspruch zwischen den Analysen und Beschreibungen der Globalisierung und der praktischen Politik. So konnte sich in den letzten beiden Jahrzehnten ein plumpes ökonomisches Einheitsdenken durchsetzen, das nur die Privatisierung und Ökonomisierung der Welt gelten lässt. Kurz: Die Linke hat die richtigen Wertvorstellungen und Ziele, denn die Idee der sozialen Demokratie ist wichtiger denn je, aber die Konzepte ihrer Umsetzung sind oftmals nicht auf der Höhe der Zeit.

Die große Idee der Nachhaltigkeit eröffnet den Weg zu einem neuen Fortschritt. Doch statt sich seiner Gestaltung zu widmen, dominiert ein altes Denken, das in der Gegenwart lähmt und die Zukunft blockiert. Von daher brauchen wir mehr Aufklärung in Politik und Gesellschaft und die Kraft zur sozialen Erneuerung, denn das bisherige Modell der sozialen Marktwirtschaft, das in unserem Land erfolgreich Beschäftigung, Wohlstand und Fortschritt miteinander verknüpft hat, ist erschöpft. Die Konsequenz aus der Implosion der alten Ordnung kann nur heißen, neue soziale und ökologische Konzepte der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu erproben und praxistauglich zu machen.

Die Chancen sind da. Die knappen Faktoren der Zukunft werden nämlich Innovationen, Wissen und Ideen sowie Umweltgüter, Energie und Rohstoffe sein und nicht — wie in der Ideologie des Shareholder Values — der Kanitalmarkt. In der Wissensgesellschaftwird politische Gestaltung wieder stärker möglich. So stehen wir zum Beispiel vor einer Effizienzrevolution bei der Nutzung von Rohstoffen — und ermöglichen damit eine Verlagerung der Produktivitätssteigerung vom Faktor Arbeit auf den Faktor Material. Dadurch lassen sich mehr Wohlstand, Beschäftigung und Umweltschutz verwirklichen — national, europäisch und global. Gesellschaften und Volkswirtschaften, die auf den Feldern Wissensökonomie und Ressourcenwirtschaft eine Vorreiterrolle einnehmen, werden künftig eine führende und gestaltende Rolle haben.

Das erfordert politische Reformen, die von der Linken ausgehen und begründet wer-den müssen. Denn das dominierende Modell des quantitativen Wachstums kann nur um den Preis ökologischer Katastrophen durchgehalten werden und es spaltet die Gesellschaften. Die Internationalisierung produziert Instabilität und Krisen, soziale Ausgrenzung nimmt zu, ein ungezügelter Markt vernichtet unersetzliche Lebensgrundlagen, die Staatsbürgergesellschaft ist nicht immun gegen Nationalismus und Fundamentalismus. Neue Formen von Gewalt und Terror drohen zum Kainsmal der zusammenwachsenden Welt zu werden. Deshalb muss die Linke die zentrale Frage beantworten: Wie kann in einer Welt, deren Entwicklung von einem entfesselten Markt gesteuert wird, wirtschaftliche Leistungskraft, soziale Demokratie und ökologische Verträglichkeit miteinander verbunden werden? Kurz: Wie ist heute Fortschritt möglich?

Eine linke Ortsbe­stim­mung

Tatsächlich befinden wir uns in einem schwierigen Suchprozess. Es geht darum, wie die Globalisierung den Versprechungen der Moderne gerecht werden kann. Denn mit dem epochalen Wandel von der sozialstaatlichen Regulierung in einen postliberalen, marktabhängigen Kapitalismus ist der alte Sozialvertrag erschöpft, der den westlichen Industriegesellschaften in den letzten fünfzig Jahren Stabilität und Sicherheit, Zusammenhalt und Wohlstand gebracht hat. Mit der Globalisierung ist der alte Wirkungszusammenhang zwischen Nationalstaat, Wachstum und Arbeitsgesellschaft zerbrochen. Mehr noch: Das bisherige Modell ist nicht nur aus ökologischen Gründen, wegen der Überlastung der Stoffkreisläufe, untauglich. Schon das ist ein gravierender Einschnitt, denn seit der industriellen Revolution ist die Entfaltung der Produktivkräfte Wirtschaft und Technik, die mit einem steigenderi Einsatz von Energie und Rohstoffen verbunden ist, eine entscheidende Grundlage für die Befreiung aus wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Abhängigkeiten. Dies war mit einer gewaltigen Ausplünderung des Naturkapitals verbunden, die heute, wo schon bald vier bis fünf Milliarden Menschen unter industriellen Bedingungen leben werden, selbstzerstörerisch wird. Die Basis für die Entfaltung der Massenproduktion war die intensive Nutzung von Energie und Rohstoffen.

Mit der Globalisierung verschmilzt die Welt zu einem einzigen Markt, ohne dass die zu seiner Domestizierung erforderlichen politischen, sozialen und ökologischen Regeln und Institutionen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig gerät die traditionelle industrielle Massenproduktion unter den Druck einer globalen, aber höchst ungleichen Konkurrenz. Die These von David Ricardo von den wechselseitigen Wohlstandsgewinn des Freihandels mag theoretisch richtig sein, die Wirklichkeit sieht freilich anders aus. Ohne eine entsprechende Regulierung der Märkte führen die Konzentration wirtschaftlicher Macht und die Ungleichheit der Konkurrenz in eine sich beschleunigende Spirale von Sozial- und Umweltdumping. Dadurch werden scheinbar gesicherte Kategorien, gefestigte Erwartungen und bewährte Institutionen erneut mit derselben Rücksichtslosigkeit weggespült, wie das mit den „Ewigkeiten” vergangener Epochen geschehen ist.

Überall werden die sozialen und ökologischen Grenzen des Wachstums deutlich. Was in den Anfangsjahren des Club of Rome noch als akademische Debatte abgetan wurde, zumindest — wie die These der Forschungsgruppe von Dennis Meadows aus dem Jahr 1972 über die Grenzen des Wachstums durch Bevölkerungswachstum und Ressourcenverbrauch — umstritten war, ist nicht mehr zu leugnen. Der alte Fortschritt, organisiert über hohes und stabiles Wachstum, ist vorbei. Soziale Ungleichheiten verschärfen sich, der Verteilungskampf spitzt sich zu, ökologische Gefahren sind unübersehbar. Obwohl die Herausforderungen größer geworden sind und von daher mehr politische Gestaltung erfordern, verliert die Politik an Zustimmung und Kraft. Mit dem Ende der zweigeteilten Welt setzte sich nämlich eine postliberale Ideologie durch. Es kam zur Delegitimierung der Gerechtigkeitspolitik, die im 20. Jahrhundert in der ldee des Sozialstaates konkretisiert worden war.

Es gibt keinen evolutionären Selbstlauf für eine Fortentwicklung der Zivilisation. Fortschritt muss immer neu erkämpft werden. Die Janusköpfigkeit der Moderne bestätigt das pessimistische Diktum von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die eine Besinnung auf die destruktive Seite des Fortschritts gefordert haben. Tatsächlich hat die Menschheit am Beginn der globalen Epoche nicht nur einzigartigen Reichtum und gewaltiges Wissen angehäuft, sie ist auch mit neuen Risiken und Gefahren konfrontiert, die Gewalt produzieren und sogar die ökologische Selbstzerstörung denkbar machen. Die sozialen Ungleichheiten und gesellschaftlichen Ungleichzeitigkeiten lösen Gegenreaktionen aus, die destruktiv sind, Gewalt auslösen und unkontrollierbar werden können.

Je mehr die Entwicklung der Gesellschaften von der Unordnung auf den Finanz-märkten, der Konzentration ökonomischer Macht, technologischer Arbeitslosigkeit und einem post-liberalen Individualkapitalismus geprägt wird, desto weniger scheint es noch einen gangbaren Pfad der Modernisierung zu geben. In dieser Zeit der Unsicherheit und Ungewissheit gibt es keine fertigen Regeln, ein Verzicht auf gestaltende Politik wäre unverantwortlich. Umbrüche und „Systemübergänge” brauchen neue politische Konzepte, die sich an sozialen Werten und demokratischen Normen orientieren. Ein allgemein akzeptiertes Vorgehen, das die Erwartungen an ein gutes Leben für alle erfüllt, existiert nicht.

Gegen das ökonomische Einheits­denken

Wir leben jedoch nicht nur in einer Welt voller Unruhe, sondern auch der Ignoranz und Genusssucht. Das erschwert, Reformnotwendigkeiten zu begreifen und solidarisch anzugehen. Das Ende des Kalten Krieges wurde im „siegreichen Westen” zu einer Zeit der Überheblichkeit, begleitet vom Triumphzug der Global Players in Wirtschaft, Finanzen, Dienstleistungen und Medien. Statt auf die wirtschaftlichen Herausforderungen mit einer Modernisierung der Politik zu antworten, legte sich wie Mehltau ein ökonomisches Einheitsdenken über die politische und öffentliche Debatte.

Dieses pensee unique, das Einheitsdenken (Le Monde) will keine Alternativen gelten lassen. Es erhebt einen universellen Anspruch und ist doch nur Ausdruck der alleinigen Interessen des Finanzkapitals, das seit Mitte der 1970er Jahre zum Motor der Globalisierung wurde. Während bis dahin die Wirtschaftstheorie, beeinflusst durch John Maynard Keynes, die „Gesellschaftskonformität” ökonomischer Entscheidungen durchaus beachtet hat, zählt in der post-liberalen Ideologie nur noch die „Marktkonformität”. Der strategische Hebel ist nicht die Modernisierung von Gesellschaft, Staat und Demokratie, sondern die Radikalisierung des Marktprozesses und damit Privatisierung, Flexibilisierung, Vorrang der Finanzmärkte, Kürzung der Sozialleistungen sowie Rückzug des Staates. Die Behauptung, hierin liege die Voraussetzung für mehr Wohlstand und Beschäftigung, hat sich nicht bewahrheitet.

Die Internationale des Kapitals setzte dieses Einheitsdenken durch, auch in den Institutionen der übernationalen und globalen Wirtschaft wie IWF, Weltbank, WTO oder OECD, die sich als Türöffner für die Privatisierung der Welt betätigen. Dieses Dogma, das bereits in den Arbeiten von Friedrich von Hayek, Richard Weaver oder Milton Friedman Mitte der 1940er Jahre aufgetaucht war, lange Zeit jedoch nur eine extreme Minderheitsmeinung blieb, bekam in den letzten zwanzig Jahren starken Auftrieb, zu-mal die Regulierungsformen der Nachkriegszeit in die Krise gerieten. So wurde die Idee der sozialen Demokratie von zwei Seiten in die Zange genommen: Zum einen hebelte die globale Entgrenzung von Zeit und Raum den Sozialstaat aus, der an den Nationalstaat gebunden war. Das wurde nach 1975 noch verschärft durch den Zerfall der alten Weltwirtschaftsordnung, deren Grundlagen 1944 in Bretton Woods geschaffen worden waren. Zum anderen diktiert seit dieser Zeit die Wall Street weltweit eine Wirtschafts- und Unternehmensverfassung, die sich unter dem Druck der Kapitalmärkte am Ziel kurzfristiger Renditen orientiert. Dafür nutzt sie die mit der Globalisierung verbundenen Zwänge zur Kompatibilität von wirtschaftlichen Institutionen, Entscheidungen und Prozessen — zu Lasten von Innovationen, Beschäftigung, Umwelt und Sozialordnungen.

Das Finanzkapital dominiert über die Politik. Die soziale Demokratie wurde geschwächt und damit die (west-)europäische Idee von Gesellschaft, die lange Zeit erfolgreich Zusammenhalt, Vielfalt und Freiheit garantiert hat. Der Rheinische Kapitalismus wurde demontiert, der seit den fünfziger Jahren in Westdeutschland den Interessenaus-gleich zwischen Kapital und Arbeit möglich gemacht hatte. Solange es kein europäisches Gegenmodell zum angelsächsischen Kapitalismus gibt, das stark genug ist, sich gegen diese ökonomischen Zwänge zu behaupten, steht gerade der Exportweltmeister Deutschland mit seinen vielfältigen außenwirtschaftlichen Beziehungen unter einem hohen Anpassungsdruck an Globalisierung und Postliberalismus.

Die Weltwirtschaft orientiert sich an den Vorgaben der Wall Street, die mit dem so genannten Washington-Konsens den Gesellschaften Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung aufzwingt. Öffentliche Güter wie Umwelt, Bildung oder soziale Sicherung, die im Interesse des Allgemeinwohls stehen, werden privatisiert. Kurzfristige Gewinne und spekulative Erwartungen prägen wirtschaftliches Handeln. Dadurch bildet sich eine Arbitrage-Ökonomie heraus, wirtschaftliche Aktivitäten spielen sich verstärkt auf der Zirkulationssphäre ab. Dort werden Preis- und Zinsdifferenzen, die Bewegungen von Aktien- und Wechselkursen in Raum und Zeit sowie die Unterschiede in der Sozial-und Umweltgesetzgebung für schnelle Gewinne ausgenutzt. Das Regime des globalen Kapitalismus orientiert sich in allen Bereichen am schnellen Kosten-Nutzen-Kalkül. Weltweit breiten sich neue und alte Formen von Gewalt aus — nicht nur Terror und Krieg als Folge struktureller Gewalt durch soziale Ungleichheiten, kulturelle Identitätskrisen und wirtschaftliche Abhängigkeiten, sondern auch die vom Menschen verursachte Klimaänderung, Wüstenbildung oder Wasserknappheit.

In der globalen Welt wird eine Dezivilisierung denkbar. Die soziale Bändigung von Gewalt wird zur zentralen Aufgabe der Politik. Tatsächlich findet nämlich auf den Weltmärkten ein unerklärter Wirtschaftskrieg statt, der auf alle Unternehmen und Volkswirtschaften zurückwirkt. Die globale Durchsetzung einer Wirtschaftsordnung, die vornehmlich den Interessen eines Landes dient, ist ein strategisches Instrument, um Wettbewerbsvorteile zu sichern und zu erzielen. In dieser Hardware funktioniert die Software der sozialstaatlichen Demokratie nicht. Das neue Betriebssystem ist das Regime der flexiblen Anpassung. In dieser „Kultur des Kapitalismus” (Richard Sennett) verschwinden die gemeinschaftlichen Voraussetzungen für Freiheit und Wohlfahrt: die res publica, die in den letzten Jahrzehnten mit Hilfe des Nationalstaates für mehr Gerechtigkeit in der Verteilung der Lebenschancen gesorgt hat — der öffentliche Raum, der Staat, das Allgemeinwohl, die sozialen und zivilen Bürgerrechte.

Benjamin Barber verglich diese Form der Globalisierung mit einer gigantischen Affenfalle. Diese ist eine geschlossene Kiste, in der eine Kokosnuss liegt. Im Deckel ist ein Loch. Der Affe will die Kokosnuss herausholen, aber er schafft es nicht, denn das Loch ist nicht groß genug. Die Falle funktioniert perfekt. Denn der Affe zieht den Arm nicht zurück, sondern hält in seiner Gier die Nuss solange fest, bis er entweder gefangen oder verhungert ist. Er kann sich dem Reiz der Frucht nicht entziehen. Die Kommerzialisierung der Welt braucht keine Handschellen, sie vermittelt die Illusion von Freiheit und Wohlstand und doch bringt sie Ungleichheit und Spaltung. Diese Illusion ist so stark, dass kaum einer davon lassen will.

Die große Idee der Nachhal­tig­keit — Leitidee des linken Projekts

Zurück zur Gretchenfrage: Wie ist heute Fortschritt möglich? Die Antwort muss über-zeugend und mehrheitsfähig sein, die Gesellschaften zusammenhalten und wirtschaftliche Leistungskraft, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verträglichkeit miteinander verbinden. Das kann die große Idee der Nachhaltigkeit erfüllen, mit ihr wird ein neuer Zukunftsvertrag möglich. An dieser Wegscheide baut sich auch die Wissensökonomie auf. Sie eröffnet große Chancen, zumal wenn sie mit der ökologischen Modernisierung verbunden wird. Künftig wird nicht mehr das Kapital der Knappheitsfaktor sein, sondern Innovationen und menschliche Ressourcen. Mit der systematischen Einbeziehung und Vernetzung von Wissenschaft und Bildung in Produktion und Dienstleistungen werden neue Formen der Gestaltung möglich. Damit ist die Aufwertung des Menschen, seiner Arbeitskraft und seiner Fähigkeiten verbunden. Das macht ein in der Richtung verändertes Fortschreiten möglich. Allerdings sind weder Politik noch Zivilgesellschaft, weder Wirtschaft oder Wissenschaft noch Medien und auch nicht die Linke auf diese Chancen wirklich vorbereitet.

Die Globalisierung ist kein Schicksal, der Markt keine Naturgewalt. In diesem Sinne erfordert die „Globalisierung von Gefahren durch Krieg, Chaos und Gewalt […] eine Art ,Weltinnenpolitik`, die über den Horizont von Kirchtürmen, aber auch über die nationale Politik weit hinausreicht”, so Willy Brandt bei der Vorstellung des Nord-Süd-Reports der Vereinten Nationen 1979. Diese Global Governance muss politisch implementierbar, demokratisch überzeugend und ökonomisch stark sein. Dagegen besteht die Möglichkeit nicht, die Weltwirtschaft in die nationalstaatliche Kiste zurückzustecken. Ihre Gestaltung braucht eine moderne Programmatik, die sowohl die ökonomische, soziale und ökologische Modernisierung vorantreibt, als auch eine multilaterale Ordnung aufbaut. Ein zentrales Instrument ist die „Regionalisierung” der Globalisierung, um zu mehr Vielfalt und einem produktiven Wettbewerb zu kommen. Entscheidend dafür ist die Kenntnis der Ursachen, Triebkräfte und Interessen, die für die „Vereinheitlichung des Weltsystems und ihrer Zusammenhänge mit der dritten industriellen Revolution” ausschlaggebend sind.

Unsere Zeit braucht die geistige Anstrengung, um die Dynamik der Evolution herrschaftsfrei zu erfassen und sie für eine moderne Wirtschaft und Gesellschaft zu nutzen. Sie ist immer dann in der Geschichte unserer Zivilisation angesagt, wenn eine neue Stufe in der Organisation von Wirtschaft erreicht wird. An diesem Punkt sind heute wir an-gelangt, um uns der ldee der Nachhaltigkeit umfassend zu öffnen. Das größte Hindernis auf dem Wege zu einer grundlegenden Erneuerung im Denken und Handeln ist der Vormarsch des alten und neuen Konservativismus, der das Gegebene einfach hinnimmt. Er verehrt die Kraft des Faktischen und beargwöhnt soziale Utopien. Fortschritt heißt bei ihm Anpassung an die technisch-ökonomischen Zwänge, Reform der Abbau sozialer und demokratischer Rechte. Dieses anti-evolutionäre Denken schwächt die Demokratie, aber es entfaltet seine Wirkung, solange keine überzeugende Alternative aufgezeigt wird. Umso mehr wird die kritische Reflexion der entfesselten Globalisierung zu einer Aufgabe der demokratischen Kultur.

Die Chancen für einen neuen Fortschritt sind da. Wir leben in einer Zeit einzigartiger Möglichkeiten, wenn wir die Dynamik der Evolution begreifen und für die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft nutzen. Die Welt neu einzurichten, setzt eine Theorie und Praxis voraus, die das ökonomische Einheitsdenken überwindet und soziale Gestaltungsräume erkennt und öffnet. Das verlangt sowohl ein individuelles Umdenken als auch eine gemeinschaftliche Kraftanstrengung, um die anhaltende Party auf Kosten der Natur, der Dritten Welt und künftiger Generationen zu beenden und eine zukunftsfähige Ordnung aufzubauen. Die Voraussetzung dafür ist der Dreiklang aus Erkennen, Ablösen und Neuanfang. Er führt erst zu einem veränderten kollektiven Verhalten.

Erkennen: Die enge Verbindung von Wachstum, Erwerbsarbeit und Sozialstaat, die in den letzten Jahrzehnten die westdeutsche Gesellschaft geprägt hat, ist zerbrochen und lässt sich in der bisherigen Form auch nicht wieder herstellen. Sie ist nämlich an die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats, an ein hohes Wachstum und an einen breiten sozialen Korporatismus gebunden, die es so nicht mehr geben wird.

Ablösen: Weder die alte Ordnung noch die post-liberale Wirtschafts- und Unternehmensverfassung, die den Ausgleich der sozialen Interessen zwischen Kapital und Arbeit als schädlich für Wachstum und Wettbewerb ansieht, kann die Frage nach einem neuen Fortschritt beantworten. Notwendig ist ein neuer Weg der gesellschaftlichen Modernisierung, der auch in der Globalisierung möglich wird.

Neuanfang: Leitidee für einen neuen Fortschritt ist die nachhaltige Entwicklung. Sie verbindet wirtschaftliche Leistungskraft mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit und fördert mehr Partizipation und Demokratie. Durch gemeinsame Regeln und Prinzipien, die dennoch den Spielraum für unterschiedliches Handeln lassen, nutzen sie die Chancen der zusammenwachsenden Welt für mehr Demokratie, Zusammenarbeit und ein gutes Leben für alle.

Auf dem Weg zur Weltin­nen­po­litik

Die „Weltinnenpolitik” (Carl-Friedrich von Weizsäcker) im Sinne der Nachhaltigkeit eröffnet mehr Freiheit, Vielfalt und Zusammenarbeit. Ihre Prinzipien sind soziale Solidarität, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, die Bewahrung nationaler und regionaler Eigenheiten sowie die produktive Nutzung von Vielfalt und Wettbewerb. Eine solidarische Welt hat viele Gesichter, das europäische Gesicht genauso wie das asiatische, afrikanische, arabische oder lateinamerikanische Gesicht, aber jedes davon muss sich seiner globalen Verantwortung bewusst sein. Starke und selbstbewusste Weltregionen bilden auch in der globalen Dimension checks and balances heraus. Mit ihr können sich vielfältige und attraktive Modelle bilden, die positiv miteinander konkurrieren. Das ist der Kern der Nachhaltigkeitsidee, die einen qualitativ neuen Umgang mit Zeit und Raum möglich macht. Nachhaltigkeit baut vor allem auf den europäischen Reformideen auf, die noch unter den Bedingungen der zweigeteilten Welt entstanden und auch deshalb auf Verständigung, Zusammenarbeit und soziale Legitimation ausgerichtet worden sind.

Vieles spricht dafür, dass die Konfliktlinie der nächsten Jahre zwischen der (kontinental-)europäischen Idee der sozialen Demokratie und dem (post-)liberalen Kapitalismus anglo-amerikanischer Prägung verlaufen wird. Diese Auseinandersetzung kann Europa bestehen, wenn es zu einer Fortentwicklung des Modells der sozialen Demokratie knmmt das in den vernanuenen Jahrzehnten erfolgreich den öffentlichen und nrivaten Bereich, Markt und Planung, Staat und Unternehmen miteinander verbunden hat — pragmatisch je nach Erfahrungen, Gegebenheiten und Problemlagen. Es muss heute gemäß den Zielen und Inhalten der Nachhaltigkeit internationalisiert werden.

Die Verwirklichung der Nachhaltigkeit ist die wichtigste Reformagenda für das 21. Jahrhundert. Sie erfüllt das Grundanliegen eines europäischen Weges, der seit Anfang der 1990er Jahre diskutiert wird: Die Verwirklichung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität für die heutigen wie für die künftigen Gesellschaften. Dieser Gestaltungsansatz einer neuen und dauerhaften Balance grenzt sich von der marxistisch begründeten Verschlechterungsthese ebenso ab wie von den substanzlosen postliberalen Verbesserungsversprechen. Nachhaltigkeit eröffnet Europa die Chance, die Idee der sozialen Demokratie zu bewahren und auch in der Globalisierung zu verwirklichen. Deshalb wäre es für den amerikanischen Philosophen Richard Rorty eine Katastrophe, „wenn Europa sich nicht gegen ein konservatives Washington behaupten könnte”. Die Linke muss den Kampf um die Köpfe aufnehmen.

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