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Politik als Ursprung theore­ti­schen Denkens

Zur intellektuellen Grundintuition von Jürgen Habermas

aus vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken, S. 152-165

„Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte
in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe.
Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen.
Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende.”
(Benjamin 1983: 592)

„In meinen Überzeugungen gibt es doch
auch einen dogmatischen Kern.
Ich würde lieber die Wissenschaft fahren lassen,
als diesen Kern aufweichen zu lassen.”
(Habermas 1985c: 205)

Das Zitat Walter Benjamins beschreibt die Kunst des „Dialektikers”, die Segel zu setzen, um den „Wind der Geschichte” einzufangen und für einen guten Kurs zu nutzen als den richtigen Gebrauch der „Begriffe”; nicht ihr bloßer Besitz, sondern die „Kunst” ihrer Nutzung sei „das Entscheidende”.

Wenn also die Kunst des Seglers im richtigen Gebrauch der Segel besteht, dann kann sich diese Kunst nur am oder vor dem „Wind” erweisen. Was oder wer aber ist dieser „Wind der Geschichte”, von dem Benjamin auch als dem „Wind der Weltgeschichte” und dem „Wind des Absoluten” (Benjamin 1983: 591) spricht? Offenkundig soll mit ihm die Kraft angesprochen werden, die Dynamik, durch die sich die Dinge und Verhältnisse bewegen und ändern – was wir dann als wiederum „Geschichte” erleben und deuten. Ohne die Wahrnehmung und Reflexion von Veränderungen machte die Deutung von Vergangenem als „Geschichte” keinen Sinn. „Geschichte” ist selbst eines dieser Segel, ist seit dem späten 18. Jahrhundert ein zeitgeistbestimmender „Begriff” von Kollektiven geworden, mit dem Vergangenes gesichtet, geordnet und gedeutet, eben auf den Begriff ihrer ganz spezifischen „Geschichte” gebracht wird. Im Grunde genommen ist jede „Geschichte” einer Epoche aus ihrer Sicht immer ihre eigene „Vorgeschichte”, in der sich die jeweiligen Kollektive ihre eigene Herkunft deuten – und manchmal auch recht krude zurechtschneidern. Deuten und Rechtfertigen fließen dabei ineins. So gibt es die konstruierten Geschichten der Nationen, Regionen oder Ethnien, aber auch der Arbeiter-, Frauen- oder Friedensbewegung — und jede erzählt mit ganz spezifischen Begriffen ihre eigene Vorgeschichte als Geschichte der eigenen Gegenwart.

Aber ist diese „Geschichte” in der Gegenwart zuende? Gilt die jeweilige Erzählung nur der Apologie oder Kritik der Gegenwart? Das widerspräche nicht nur der pragmatischen Zeitwahrnehmung, die weiß, dass es irgendwie weitergeht und weiter gehen muss, über den Moment der Gegenwart hinaus. Es widerspräche auch dem Wünschen und Hoffen, der Phantasie und den Träumen, mit denen sich die Menschen ausdenken und ausmalen, was noch nicht ist, aber kommen könnte oder sollte.

Eingespannt zwischen konstruierter und gerade deshalb bekannter und vertrauter „Geschichte” und der Zukunft, als all dem noch nicht Erlebten und Ungewissen, was da kommt, erscheint plötzlich die vermeintlich so vertraute „Gegenwart” als das logisch Ungewisse, das was auf dem Zeitpfeil aus der Vergangenheit in die Zukunft am schwersten zu fassen und auf den Begriff zu bringen ist. Gerade beschrieben und begrifflich erfasst — ist Gegenwart immer schon Vergangenheit. Wir kennen unsere eigene Gegenwart nur als „Geschichte” und erleben in jedem Moment Zukunft, die dabei bereits zur Vergangenheit wird.

Wenn aber die „Geschichte” nur jene in der Gegenwart jeweils konstruierte Kontinuität und Übergangsschwelle zwischen unserer Vergangenheit und der erwarteten, gefürchteten oder erhofften Zukunft wäre: Was könnte Walter Benjamin dann mit dem „Wind der Weltgeschichte” oder „des Absoluten” gemeint haben, auf den er die „Kunst”, Begriffe anzuwenden, bezieht? Offenkundig weiß er ja um einen Unterschied zwischen den jeweiligen Konstruktionen einer „Geschichte” und jener Dynamik, Kraft oder allgemeiner „Bewegung” (Greven 2004), die er mit der „Weltgeschichte” oder dem „Absoluten” in Verbindung denkt.

Darüber gibt ein anderes, weit berühmteres Zitat vielleicht Auskunft, in dem der „Wind” sich freilich zum „Sturm” gesteigert hat. Die Rede ist vom „Engel der Geschichte. [.] Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe. […] Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her. […] Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt […]. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm” (Benjamin 1974: 697f.).

Der Unaufhaltsamkeit entspricht die subjektive Wahrnehmung des Zeitpfeils und der beständigen Veränderung. Was aber mag dieser vom Paradies her wehende „Sturm” sein — der Zorn Gottes, der die Menschen wegen des Bruchs seines Gebotes, nicht vom Baum der Erkenntnis zu kosten, aus dem Paradies verjagt und sie immer weiter von diesem entfernend vor sich her treibt? Ich will und muss die Antwort auf diese Frage Theologinnen überlassen, aber klar scheint zu sein, dass Benjamin hier die weit über die von ihm in seiner Kritik angesprochene Arbeiterbewegung hinaus bis heute dominierende Vorstellung der Geschichte als Fortschritt kritisiert — jenen progress des immer Mehr und immer Schneller, der mit soviel Zerstörung und für ihn als „eine einzige Katastrophe” daherkommt. Was in der jüdischen Überlieferung den Vertreibungsprozess
allein unterbrechen und vielleicht umkehren könnte, wäre das Erscheinen des Messias. Was nach Benjamins Deutung des historischen Materialismus den bisherigen Geschichtsverlauf im Sinne jenes verhängnisvollen progress unterbrechen und ihm eine Wendung zum Besseren, wenn nicht zur Erlösung abringen könnte, das wäre die „Revolution” als „Sprung unter den freien Himmel der Geschichte”, in dem gerade das vermeintliche „Kontinuum der Geschichte aufzusprengen” wäre (Benjamin 1974: 701). Vor diesem Sprung kommt es auf die „Rettung” durch „rettende Kritik” all dessen an, was den Menschen an spirituellem und sinnlichem Glück unter der zerstörerischen „Oberfläche” einer reinen Herrschafts- und Vernunftgeschichte bisher dialektisch verborgen und zugleich nur ideologisch verheißen wurde, weil sonst im Moment des revolutionären Sprunges oder des Endes der messianischen Geschichte selbst der „Traum” verloren gegangen sein könnte, von dem Karl Marx einmal im Brief an Arnold Ruge 1843 schrieb: „Unser Wahlspruch: […] Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch die Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen” (zit. n. Benjamin 1983: 583). Man kann wohl sagen, dass Walter Benjamin sich in seiner „rettenden Kritik” der Kulturgeschichte an diesen „Wahlspruch” gehalten hat. Für ihn ist die „Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens”, wie er im Passagen-Werk schreibt und dem die paradox anmutende Formulierung hinzufügt: „Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem unabgeschlossenen machen” (Benjamin 1983: 589). Das Eingedenken des Glücks als „Unabgeschlossenes”, also noch nicht erfülltes – das verweist wiederum auf eine Zukunft, in der es sich erfüllen könnte.
Im Eingangszitat Benjamins steckt

1. ein Geschichtsbegriff, der – wenn wir das Paradies aus dem Spiel lassen – dichotomisch zwischen einer verhängnisvollen und bis heute andauernden Katastrophengeschichte von Herrschaft, Zerstörung und Ungerechtigkeit und einer nur im „revolutionären Sprung” zu erreichenden Posthistoire der Gerechtigkeit und des Glücks unterscheidet: das messianische Geschichtsverständnis des historischen Materialismus;

2. die Gewissheit einer teleologischen Entwicklungsperspektive der „Weltgeschichte”, die noch durch die Kritik allen sozialdemokratischen Evolutionsdenkens hindurch den „historischen Materialisten” auf die Idee der Erwartung und praktischen Herbeiführung jenes „revolutionären Sprungs” verpflichten will;

3. die Gewissheit, dass das „Subjekt historischer Erkenntnis […] die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst” sei (Benjamin 1974: 700) und der „historische Materialist” (ebd.: 696).

Darin kommt schließlich ein – hier aber nicht weiter expliziertes – Wahrheits- und Wissenschaftsverständnis zur Geltung, das nicht den Schritt in die für Jürgen Habermas so typische „nach-metaphysische” Phase vollzogen hat. Aus mindestens diesen Gründen – andere wären hinzuzufügen – lässt sich sagen, dass die Variante Kritischer Theorie von Jürgen Habermas, von der im folgenden in einigen Thesen die Rede sein soll, sich nur im Kontrast zur Gedankenwelt Walter Benjamins als Repräsentanten der „älteren” Kritischen Theorie diskutieren lässt.

Jürgen Habermas selbst hat bereits in der Phase der Herausbildung seiner eigenen, nicht mehr bewusstseinsphilosophischen Theorie kommunikativen Handelns 1973 Kritik an Benjamin geübt. Diese Kritik ist bei allem Respekt, den er Benjamins Zentralgedanken einer „rettenden Kritik” utopischer Gehalte der „Protuberanzen des Glücks” im messianischen Geschichtsbewusstsein entgegenbringt, unüberhörbar auch politisch motiviert, worauf hier bereits im Vorgriff auf Späteres verwiesen sei. Diese Kritik setzt nicht zuletzt an dem „manichäischen Blick” auf den „leeren Fortschritt” Benjamins an, der alle Sensibilität für die von Habermas gesehenen und für bedeutsam gehaltenen „Fortschritte, gewiß prekäre und vom Rückfall permanent bedrohte, in den Produkten der Legalität, wenn nicht gar in den formalen Strukturen der Moralität” (Habermas 1981a: 374) ignoriere. Benjamin wird zutreffend der ganz und gar praxisuntaugliche Begriff von Geschichte und das geradezu Quietistische einer bloß „rettenden Kritik” ihrer untergegangenen Glückspotentiale entgegengehalten: „In der Melancholie der Erinnerung an das Versagte und in der Beschwörung der verlöschenden Momente des Glücks droht der historische Sinn für die profanen Fortschritte zu verkümmern. Wohl erzeugen diese Fortschritte ihre Regressionen, aber an diesen setzt ja politisches Handeln an.” (ebd.)

Demgegenüber könne ein von Habermas eingeklagter „differenzierter Begriff des Fortschritts eine Perspektive” schaffen, „die nicht einfach den Mut hemmt, sondern das politische Handeln treffsicherer machen” könne (ebd.: 375f.). Aber dieser Begriff des Fortschritts ist eigentlich die theoretische Seite einer biographischen „Erfahrung 1945 und danach, daß nämlich etwas besser geworden ist” (Habermas 1985c: 203). Diese „Erfahrung” konnte Walter Benjamin so nicht gewinnen, was die objektive Seite angeht und von der es ungewiss bleiben muss, ob er sie subjektiv angesichts seiner Perspektive auf die geschichtliche Welt jemals hätte gewinnen können.

Um das politische Handeln geht es also in dieser Kritik und nicht etwa um die metaphysische Wahrheit oder Verallgemeinerungsfähigkeit eines Fortschrittsbegriffs. Wie an vielen zentralen Stellen seiner philosophischen Kritik oder rekonstruktiven Bemühungen gibt auch hier Habermas‘ politische Orientierung den Ausschlag für die Art und den Inhalt der Kritik.

Habermas als politischer Denker

Im folgenden möchte ich weitere Indizien für die These beibringen, dass das theoretische Werk Jürgen Habermas‘, üblicherweise eher der Philosophie oder der soziologischen Gesellschaftstheorie zugeschlagen, mit guten Gründen auch als genuines politisches Denken interpretiert und verstanden werden kann. Dabei gehe ich von einem Begriff des „politischen Denkens” aus, der nicht in einen dichotomischen Gegensatz zum eher disziplinären politikwissenschaftlichen Begriff „Politische Theorie” – im Sinne von „Theorie(n) der Politik” gebracht zu werden vermag. Solche „Theorien der Politik”, die über die explikative Kausalerklärung des partiellen Zusammenhanges einiger Variablen anspruchsvoll hinausgehen und etwas Gültiges über Politik selbst zu sagen versuchen, die aber von sich glaubten, sie kämen dabei ohne substanzielle politische Gehalte und Positionen aus, befinden sich in einer szientistischen Selbsttäuschung – die heute freilich im akademischen Betrieb weitverbreitet ist. Nicht solche explizierten und reflexiv eingebrachten politischen Gehalte, sondern die vergebliche Illusion einer unpolitischen Politikbefassung widerspräche eher den Aufklärungsverpflichtungen eines zeitgenössischen Wissenschafts- und Bildungsbetriebs an Universitäten.

Unter „politischem Denken” (Vollrath 2003: 41ff.) verstehe ich den mehr oder weniger systematisch explizierten Versuch, die Politik in einem bestimmten geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext – in der Regel der eigenen Gegenwart – zu verstehen und ihren Gehalt an Problemen, Ressourcen und Potenzialen und nicht zuletzt Gefahren zu ergründen. Zentral ist dabei die Vorstellung von Politik als einem Feld tatsächlicher oder möglicher menschlicher Handlungen sowie der zugehörigen Motive, Interessen und Rechtfertigungen. Wo „politisches Denken” geäußert wird, geht es performativ in Handeln über und steht dem ebenso bezeichneten „Feld” nicht bloß anschauend gegenüber. Hier, spätestens hier bewährt sich die alte Weisheit, dass nichts so praktisch sei, wie eine gute Theorie, wenigstens zum Teil – denn auch schlechte politische Theorien eignen sich, wenn sie genügend Unterstützung und Anerkennung finden, dazu, die intersubjektive Welt zu verändern. Was freilich hier „gut” beziehungsweise „schlecht” bedeutet: darum geht politisch gerade der immerwährende Streit, in dem Konsens die Ausnahme, aber niemals der die Politik selbst begründende Grundtatbestand sein kann.

Jürgen Habermas hat über die Jahre in diesem Streit eine herausragende, weil weit über die akademische Welt hinaus wirkende politische Bedeutung gewonnen und aktiv wahrgenommen. Das ist hinsichtlich seiner unmittelbaren politischen Interventionen noch von seinen Gegnern und Feinden ganz unbestritten. Mit seinen pointierten Stellungnahmen seit den 1960er Jahren hat er immer wieder als kritischer Intellektueller in den politischen Streit über öffentliche Angelegenheiten eingegriffen oder ihn selbst entfacht. Die inzwischen zehn Bände seiner Kleinen politischen Schriften geben ein bewundernswertes Zeugnis von der Kraft eines solchen lebenslang durchgehaltenen Engagements. Sie verraten uns sehr eindeutig, welchen politischen Standpunkt der citoyen Habermas in seinen Kritiken, Polemiken und Repliken verteidigt. Er klang bereits in der Kritik am „leeren Fortschritt”, den Benjamin nur gelten lassen wollte an: Jürgen Habermas setzte den „Sinn für die profanen Fortschritte” in den „Produkten der Legalität” und den „formalen Strukturen der Moralität” (Habermas 1981a: 374) dagegen, also den Rechts- und Verfassungsstaat einerseits, die uneingeschränkte Geltung moralischer Prinzipien bei der Beurteilung (auch) politischen Handeln andererseits. Dieses politische Motiv wird spätestens in den etwas missverständlich Rekonstruktion des Historischen Materialismus genannten Aufsätzen in eine Evolutionsperspektive gestellt, die nicht mehr im Sinne des Historischen Materialismus und des Marxschen Formationsdenkens, sondern im Rahmen einer differenzierungstheoretischen Modernisierungstheorie den Entwicklungsfortschritt auch evaluativ zu deuten beansprucht (Habermas 1976).

Habermas als antire­vo­lu­ti­o­närer Verteidiger der Gesell­schaft

Doch sein politisches Denken motiviert und strukturiert inhaltlich nicht nur die unmittelbaren tagespolitischen Interventionen. Mit seinem spezifischen Inhalt formt es darüber hinaus auch die Grundintuition seiner philosophischen und gesellschaftstheoretischen Arbeit.

Seine Verteidigung der Prinzipien und praktischen Errungenschaften des bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaates hat Jürgen Habermas spätestens seit 1967 in scharfen Gegensatz zu Teilen des SDS als maßgeblicher Avantgarde der Studentenbewegung gebracht. Diese ging damals dazu über, den liberalen Rechtstaat und die repräsentative Demokratie als „neofaschistisch” und pure Fassade kapitalistischer Herrschaft und Ausbeutung zu denunzieren. Dem stand Habermas‘ bereits zitierte Lebenserfahrung diametral entgegen, „daß nämlich etwas besser geworden” war: „Ein abstrakter Kampf gegen die Institutionen der Verfassung wäre sowohl unbegründet als auch selbstmörderisch” (Habermas 1969: 200f.). Aber ebenso deutlich bekamen die Repräsentanten des bürgerlichen Rechtsstaates seine Kritik zu hören, die glaubten, dieser nach Habermas im Grunde berechtigten Kritik an den erstarrten Verhältnissen der Ordinarienuniversität und darüber hinaus der restaurativen Tendenzen der bundesrepublikanischen Gesellschaft und nicht zuletzt am Vietnamkrieg der US-amerikanischen Regierung allein mit Polizeigewalt begegnen zu können.

In dieser doppelten Kritik bezieht sich Jürgen Habermas, lange vor der Ausarbeitung der Theorie kommunikativen Handelns, auf den Abbruch der Argumentation und öffentlichen Rechtfertigung durch den Übergang zum physischen Gewalteinsatz. Auch wo Letzterer im Aufruf zur vermeintlich gerechtfertigten Revolution zunächst nur kommunikativ legitimiert oder mit dem Einsatz physischer Mittel auch nur gedroht wird, setzt bereits Habermas‘ Kritik ein. Schon der Übergang von kommunizierter Kritik zur symbolischen Repräsentanz von Gewalt in den damals weitverbreiteten happenings wird von ihm als Schritt über jene Schwelle hinaus kritisiert, in der die Opposition nicht mehr allein auf die Kraft der besseren Argumente vor dem Forum der virtuellen Öffentlichkeit vertraut, sondern – und sei es nur symbolisch repräsentierte – Gewalt an deren Stelle setzt. Er schreibt 1968: „Die neuen Demonstrationstechniken, die nur symbolische Handlungen einschließen können” – und in dieser Funktion zuvor von ihm gerechtfertigt wurden (Habermas 1969a: 191f.) –„verwandeln sich in den Köpfen altgedienter SDSler zu Mitteln des unmittelbaren revolutionären Kampfes […]. Eine so gravierende Verwechslung von Symbol und Wirklichkeit erfüllt im klinischen Bereich den Tatbestand der Wahnvorstellung“ (ebd.: 197). Jürgen Habermas wendet sich insofern konsequent gegen eine Praxis der Aussperrung von Studierenden aus ihren Hörsälen und Instituten – noch heute gelegentlich als sogenannte „Studentenstreiks” jeweils rituell von Minderheiten als letztlich selbstschädigendes und hilfloses Mittel studentischen Protestes inszeniert – und kritisiert vehement die Einschränkungen der Lehrfreiheit seiner Kollegen durch solche oder ähnliche Protestaktionen. „Die Dysfunktionalisierung des Lehrbetriebs ist keine irgend vertretbare Taktik”, hält er der SDS-Programmatik der „Umfunktionierung” von Lehrveranstaltungen oder gar der Besetzung und Umwandlung von Instituten zu „befreiten Gebieten” des anti-imperialistischen Kampfes entgegen (Habermas 1969b: 45).

Dies scheint mir ein durchgehaltenes Motiv seiner politischen Haltung zu sein; es ist vor der theoretischen Begründung und Ausarbeitung da, hat sich als politische Option seit den frühesten Schriften angedeutet und schlägt massiv auf seine theoretischen Optionen und Konstruktionen seit den frühen 1970er Jahren durch: Dass „die Gesellschaft” insgesamt zunehmend eher als Kommunikationszusammenhang auch theoretisch konzipiert wird, und nicht länger in der hegel-marxistischen Tradition vordringlich als physischer Produktionsprozess durch „Arbeit”, scheint mir in einer performativen Orientierung auf die gewaltfreie Zivilisierung noch der schärfsten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen durch Argumentation und Kommunikation bei Jürgen Habermas begründet zu sein. In einem Interview mit Hans Peter Krüger kommt sowohl diese Wendung wie ihr politischer Gehalt klar zum Ausdruck: „Statt auf die Vernunft der Produktivkräfte, letztlich also der Naturwissenschaft und der Technik, vertraue ich auf die Produktivkraft der Kommunikation, die sich am deutlichsten in sozialen Befreiungskämpfen äußert” (Habermas 1990: 85).

Mutlangen und Kosovo: Inter­ven­ti­onen jenseits des kommu­ni­ka­tiven Handelns

Zwei Ausnahmen von dieser Grundorientierung kann man über die vielen Jahre entdecken, die mir gerade deswegen sehr aufschlussreich erscheinen. Im Zusammenhang mit den Aktionen „gewaltfreien Widerstandes” gegen die sogenannte „Nachrüstung”, wie die Akteure es überwiegend nennen, oder des „zivilen Ungehorsams”, wie es bezeichnenderweise Jürgen Habermas in einer berühmt gewordenen Rechtfertigung dieser Aktionen genannt hat (Habermas 1985a), rechtfertigt er den passiv-gewaltfreien Körpereinsatz etwa in der Blockierung von Raketentransportern als „letztes Mittel” unter der Voraussetzung, dass die Akteure ihre Aktion selbst als Rechtsbruch interpretieren – und bereit sind, die rechtsförmigen Konsequenzen auf sich zu nehmen. Noch diese passiv-gewaltfreie, gleichwohl physisch die Freizügigkeit mindestens eines anderen Rechtssubjekts verletzende Protestform versucht er bezeichnender Weise kommunikativ als Teil eines notwendigen Lernprozesses der Öffentlichkeit umzudeuten – in der sich sogar noch der Inhalt des Rechts verschieben sollte. Wer noch die Heftigkeit und teils mit langjähriger Verbitterung geführten politischen Debatten um Gewaltfreiheit, Gewalt gegen Sachen (im Unterschied zu Gewalt gegen Personen) und um „strukturelle Gewalt” erinnert, die die kritische Kritik schließlich – darin der heutigen Foucault-Schule nicht unähnlich – in allen Gesellschaftsverhältnissen auffinden konnte, – wer diese Debatten noch im Kopf hat, wird Jürgen Habermas‘ mutigen Versuch, messerscharf bis an die Grenzen der Konsistenz seiner eigenen Grundoptionen diese Protestaktionen damals zu rechtfertigen, dankbar in Erinnerung haben – in erster Linie gilt das natürlich für die Beteiligten und zum Teil langjährig vor Gericht Kriminalisierten.

Vor allem aber wird er sie – trotz aller Bewunderung für die Intelligenz der Argumente und der rechtsphilosophischen Begründung im Einzelnen als politische Unterstützung und Stellungnahme erlebt und identifiziert haben. Gerade die teils heftigen offiziellen Gegenreaktionen haben diesen politischen Charakter nochmals bestätigt.

Der Unterschied zwischen Heinrich Böll oder Helmut Gollwitzer, die in Mutlangen auf ihren Klappstühlchen mitten unter uns saßen, und Jürgen Habermas, der sich mit einer langen rechtsphilosophischen Abhandlung einmischte, ist dabei bezeichnend. Aber das physisch anwesend Sein und das Schreiben waren damals gleichermaßen politische Handlungen und Jürgen Habermas an seinem Institutsschreibtisch genauso absichtsvoll in den aktuellen Konflikt involviert, wie jene, die sich dann in ihren Prozessen „wg. Nötigung” vor den Gerichten um die Rechtfertigung ihres Tuns – leider zum großen Teil vergeblich – bemühten. Wenn Jürgen Habermas hier also auch im politischen Engagement bei seinem metier professionel blieb, so hat er doch inhaltlich bis an die Grenzen seines Kommunikationsbegriffs einen von vielen damals keineswegs immer nur als symbolisch gemeinten Körpereinsatz nur als symbolisches Mittel eines zivilgesellschaftlichen Kommunikationsprozesses gerechtfertigt (Habermas 1985b: 101). Dies geschah erkennbar aus Sympathie für das Anliegen der Demonstranten, d.h. aus einer politischen Stellung- und Parteinahme in einer politischen Streitfrage heraus.

Wesentlich mehr Aufsehen erregte Jürgen Habermas‘ ursprünglich an prominenter Stelle auf der ersten Seite der Zeit veröffentlichte Parteinahme für die „humanitäre Intervention” gegen das ehemalige Jugoslawien wegen der damals wie heute menschenrechtlich skandalösen Situation im Kosovo (Habermas 2001). Hier nun mühte sich der Theoretiker des kommunikativen Handelns und der deliberativen Politik darum, sogar den von der UNO nicht sanktionierten Krieg der NATO unter Rückgriff auf die philosophisch seit dem Abbe Pierre, Rousseau und Kant ehrwürdige, aber politisch zweifelhafte Fiktion eines erst unvollkommen ausgebildeten kosmopolitischen Rechts einer Weltbürgergesellschaft – im Gegensatz zum historischen Völkerrecht – zu rechtfertigen. Diese Befürwortung eines Krieges durch Jürgen Habermas hat die nicht eben geringe Schar seiner Bewunderer und philosophischen Anhänger gespalten und zum Teil heftige Reaktionen, ja üble Beschimpfungen hervorgerufen (Nan/Roth/Vack 1999: 77-80), in denen man beim besten Willen nicht mehr den Versuch erkennen kann, auf den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments” zu vertrauen. Aber selbst differenzierende, mit den rechts- und demokratietheoretischen Positionen von Jürgen Habermas, wie er sie schließlich in Faktizität und Geltung systematisch entwickelt hatte (Habermas 1992), prinzipiell übereinstimmende Autoren bleiben in sorgfältig abgewogenen Argumenten und Worten skeptisch, weil es sich bei der von Habermas argumentativ bemühten „Nothilfe” um „ein schwaches und riskantes Argument von ungesicherter rechtlicher Tragfähigkeit” gehandelt habe (Blanke 2000: 516). Vielmehr gehe es bei der Problematik des Kosovo – und ähnlicher Fälle – beim „gegenwärtigen Stand des Völkerrechts […] um einen Diskurs, der in rechtlichen Termini allein nicht zu führen ist, sondern politischer Kategorien bedarf“ (Blanke 2000: 515). Der zuletzt genannte Gegensatz mit dem Hinweis auf „politische Kategorien” macht neugierig – eine Neugier, die in dem zitierten Beitrag von Thomas Blanke aber leider nicht befriedigt wird. Methodisch ist die Differenz zu meinem Ansatz interessant: Thomas Blanke „misst” Jürgen Habermas‘ politische Intervention an dem Gehalt von dessen Theorie, genauer: seiner Auslegung derselben – um ihm gewissermaßen vorzuhalten, er bleibe praktisch-politisch hinter ihren Ansprüchen zurück. Umgekehrt meine ich: Die politische Grundintuition lässt sich mit den Konstruktionsprinzipien der Theorie kommunikativen Handelns nicht immer, zumal in besonderen Grenzfällen in Einklang bringen. Um einem stereotypen Einwand gleich zu begegnen: Diese Grenzfälle beziehen sich auf die Grenzen einer „Verständigung” ermöglichenden und erstrebenden Kommunikation – nicht der Politik selbst, die in Kommunikation nicht aufgeht, so sehr man sich das auch wünschen mag. Grenzen der verständigungsorientierten Kommunikation stellen zudem keine Grenzen der Politik da und sie bezeichnen auch nicht deren „Ausnahmezustand” im Sinne Carl Schmitts.

Jürgen Habermas selbst war damals offenkundig an den Punkt gelangt, wo die moralische Verpflichtung zur ,Nothilfe“ als ultima ratio des organisierten Gewalteinsatz des zeitgenössischen Militärapparates mit seiner nichtdiskriminierenden Wirkung auch auf Unbeteiligte und Unschuldige ihm als das moralisch kleinere Übel gegenüber dem weiteren Zusehen und Geschehenlassen erschien, auch zu der als vergeblich eingeschätzten Alternative, durch Diskussion und Verhandlung das Regime Milosevics zum Einlenken zu bewegen. Nirgendwo sonst mehr als in der Anwendung auf die internationalen Beziehungen und auf wie auch immer begründete substaatliche Gewaltkonflikte, die heute dominieren, enthüllen die kontrafaktischen Annahmen einer rechtlich vollständig gehegten Politik und die Ersetzung des gesamten Spektrums ihrer spezifischer Mittel auf Kommunikation, ihren utopischen Gehalt. Unter diesen genuin politischen Mitteln, auf die Thomas Blanke mit seinem Hinweis auf „politische Kategorien” nur kryptisch verwies, steht nun einmal die „physische Gewaltsamkeit” (Weber 1972: 30), auch und gerade zu Zwecken Friedenserzwingung im Sinne mindestens der Unterbindung physischer Gewaltausübung durch überlegene Gewaltausübung oder ihre Androhung an historisch keineswegs überholter Stelle. Auf diese Gewalt musste sich Jürgen Habermas politisch einlassen, als ihm die Parteinahme gegen den Terror des Milosevic-Regimes nicht länger vermeidbar erschien. Dass er es gegen die Grundintuition seiner auf Kommunikation, Diskurs und Rechtfertigung beruhenden Theorie tat, gilt hier als weiteres Indiz für den letztlich politischen Charakter seines Denkens.

Der Streit über die Angemessenheit seiner Position soll hier nicht noch einmal aufgenommen werden. Mir ist im Zusammenhang meiner These über den politischen Charakter der Grundintuition von Jürgen Habermas‘ nahezu unüberschaubar gewordenen theoretischen Werk wichtig zu zeigen, wie noch im Bruch der theoretischen Konsistenz seines Werkes sich diese These bewährt. Gewiss ist sie – wie alle derartigen Vereinfachungen – in der Gefahr, die Differenziertheit der Motive und Intentionen, die Jürgen
Habermas zu verschiedenen Zeit angetrieben und in seinen Schriften umgetrieben haben, grob zu ignorieren. Andererseits muss man gelegentlich die radikale Vereinfachung wagen, um eine Annäherung an den innersten Kern von Werk und Persönlichkeit zu versuchen. Die Alternative, um die es mir geht, ließe sich dann so stilisieren: Äußert er sich als nur „Gelegenheitspolitiker” (Weber 1958: 500) hin und wieder, um in der politischen Öffentlichkeit die Wahrheit seiner theoretischen und philosophischen Arbeit zu demonstrieren, um die es ihm vor allem in der philosophia perennis geht? Oder ist seine ganze philosophisch-wissenschaftliche Arbeit und Leistung angetrieben und motiviert durch eine von Grund auf politische, d.h. parteiergreifende und stellungnehmende Haltung zur intersubjektiven Welt, die ihn immer dazu zwingt – und sei es im sublimen Gewand moralphilosophischer Fachdiskurse –, für eine bestimmte politische Position und Einsicht einzutreten? Ich sehe gerade auch in seinem wissenschaftlichen und philosophischen Werk die zweite Haltung als Grundintuition an.

Von der marxis­ti­schen Kritik zur links­li­be­ralen Kommu­ni­ka­tion

Seit Mitte der 1950er Jahre hatte Jürgen Habermas sich intensiv mit den Traditionen des „westlichen Marxismus” – darunter relativ spät auch mit der älteren Kritischen Theorie – auseinandergesetzt. Von dessen durchaus differenzierten Positionen in seinen frühen Texten hatte er manches übernommen und in der ihm eigenen Art zu etwas Neuem amalgamiert, am bedeutendsten in seiner epochemachenden Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962). Sie wurde als Ideologiekritik der durch die Öffentlichkeit und politische Sphäre der „bürgerlichen Gesellschaft” nicht und angesichts ihres „Strukturwandels” immer weniger eingelösten Ideale der argumentativen Bewusstseins- und Willensbildung der räsonnierenden citoyens rezipiert. Dieser „Strukturwandel” musste verhindern, dass auch nur die auf die Politik reduzierten Emanzipationsversprechungen der bürgerlichen Revolution eingelöst wurden. Ihre vollen Potentiale könnte die Partizipation erst jenseits der bürgerlichen Gesellschaft in einer „sozialen Demokratie” verwirklichen. In ihr würden „die materiellen und geistigen Produktivkräfte im Interesse der Bedürfnisbefriedigung aller Individuen verwendet, und nicht nur in partikularem Interesse. Politisch bestimmt sich das Maß dieser Freiheit danach, inwieweit eine Gesellschaft politische Gesellschaft derart wird, daß Herrschaft auf rationale Autorität, nämlich auf Teilung von Arbeit und Erfahrung sowohl im Interesse als auch unter Kontrolle aller Individuen zurückgeführt wird; inwieweit es gelingt, die Trennung von politischer Herrschaft und scheinbar privater Reproduktion des Lebens zu überwinden”. So umreißt Jürgen Habermas 1961 kaum verhüllt seine damals noch sozialistische politische Position (Habermas 1961: 55). Dass er dabei einen Begriff wie „politische Gesellschaft” (Greven 1999) verwendet, um die später auch von ihm reifizierend übernommene „Differenzierung” der Gesellschaft in vermeintlich der politischen Beherrschung nicht zugängliche „funktionale Systeme” zu kritisieren, sei hier nur angemerkt.

Aber die Ausbildung revolutionären Bewusstseins wurde in diesen Strukturen ebenso unwahrscheinlich. Diese dem Geschichtsverständnis und Formationsdenken des historischen Materialismus noch verpflichtete Hintergrundkonzeptionen einer teleologischen Geschichtsphilosophie werden von ihm im letzten Drittel der 1960er Jahre zunehmend radikal verabschiedet. Rückblickend schreibt er: „die Versöhnungsperspektive des Deutschen Idealismus, das Fichtesche Freiheitspathos, ein Begriff wie Selbstkonstituierung der Gattung, das sind gewissermaßen vergilbte Seiten”, nunmehr gehöre „eine solche Gestalt der Argumentation der Vergangenheit” an (Habermas 2000: 12). Was vorn Einfluss des Marxismus bleibt, sind aber die bis heute durchgehaltenen kapitalismuskritischen Grundintuitionen gegenüber einem Vergesellschaftungsprozess, der von den Imperativen der Kapitalverwertung beherrscht wird. Dem Kapitalismus wird allerdings – ebenso wie Staat und Verwaltung – analog zur Systemtheorie auf modernisierungstheoretischem Hintergrund ein eigenes Rationalisierungspotential zugestanden. Dieses erscheint trotz immanent weiter bestehender Krisenanfälligkeit – allerdings nicht mehr zuvorderst auf, der Basis eines traditionellen „kapitallogischen Krisenbegriffs” (Habermas 1973: 9-49) – den einmal vorgedachten, erst recht den seit 1917 ausprobierten Varianten einer postkapitalistischen Ökonomie überlegen. Es geht also nicht mehr um ihre Abschaffung. Vielmehr soll die Zweckrationalität eingehegt und ihr mit der Kommunikation der Lebenswelt entwachsenden normativen Prämissen Orientierung gegeben werden. Den systemischen Eigenlogiken der Kapitalverwertung wie einer auf reinem Machterwerb und Machtgebrauch basierenden Staatsapparatur soll, besser: muss ein anderes Begründungsfundament entgegengesetzt werden – aufgrund der politischen Grundintuition, nachdem das Gewissheitsfundament einer unhaltbar gewordenen Geschichtsphilosophie nicht mehr zur Verfügung steht. Wiederum treibt die politische Grundintuition die Suche nach einem systematischen Fundament der Kritik oder Kritischen Theorie voran – und findet sie bekanntermaßen ausgerechnet in einer Verbindung von analytischer und pragmatischer Sprachphilosophie (Habermas 1981b). Im Übrigen gibt Jürgen Habermas in einem biographisch und werkgeschichtlich überaus aufschlussreichen langen Interview sehr offen die politische Ausgangslage zu erkennen, die ihn zu der Theorie kommunikativen Handelns antrieb, die seitdem nicht zu Unrecht als sein philosophisches Hauptwerk angesehen wird: „Daß ich mich Ende 1977 endlich hingesetzt und die Sache ernsthaft angepackt habe, hat mit Folgendem zu tun […]. Die innenpolitische Situation, die sich nach der Schleyer-Entführung 1977 zu einem pogromähnlichen Spannungszustand verschärft hatte, trieb mich dazu […], damals habe ich zum ersten Mal die neokonservativen Ideologien […] ernstgenommen […] als signifikant für eine Großwetterlage betrachtet […]. Die andere Seite war, daß ich zum ersten Mal die Bedeutung der neuen Protestpotentiale, neuer Bewegungen […] etwas besser zu verstehen glaubte […]. Wenn Sie diese beiden politischen Phänomene zusammennehmen, werden Sie vielleicht verstehen, daß sich damals in meinem Kopf das Interpretationssehema gebildet hat, das vielleicht nicht dem ganzen Buch, aber dem, was ich dort in der Schlußbetrachtung entwickle, die Richtung gewiesen hat” (1985c: 185f.).

Was den Strukturen der „bürgerlichen Öffentlichkeit” angesichts ihrer empirisch unübersehbaren Deformation und Vermachtung philosophisch nicht mehr glaubwürdig zugerechnet werden konnte, nämlich die Ausbildung praktischer Vernunft und die Begründung einer universellen Moral, das wird nun, in den Mikrostrukturen der Sprechakttheorie verankert, zum Gewissheitsfundament einer normativen Kritik bestehender Gesellschaft. Die Sprache selbst wird zum theoretischen wie praktischen Fundament einer potentiellen Versöhnung, die nun als „Verständigung” auftritt, Prozess und telos des kommunikativen Handelns zugleich. Dass, wer als vernünftiges Subjekt kommuniziert, verstanden werden will, um sich nicht in einen performativen Selbstwiderspruch zu begeben, ist die legitimatorische Grundformel der Diskurs- oder später Deliberationstheorie. Sie wird per analogiam freilich sehr freizügig – man könnte auch sagen: geschichtsoptimistisch – von der Mikroebene der einzelnen Sprechakte auf die gesellschaftliche und politische Willensbildung transponiert (Habermas 1992). Dort gibt es eine nach dem Anspruch von Jürgen Habermas nicht mehr willkürliche, vermeintlich unhintergehbare normative Grundlage zur Beurteilung der Legitimation grundsätzlicher Rechtssetzungen wie einzelner politischer Entscheidungen. Gerechtfertigt und damit legitim erscheint, was im freien und unbeschränkten Austausch von Gründen von jedem vernünftigen Subjekt als im allgemeinen Interesse liegend anerkannt werden müsste. Unüberhörbar spielt in diese politische Begründung eines liberalen Republikanismus Kants Begründung der Moralphilosophie hinein – aber eben auch die stark republikanische Verpflichtung an die Einzelsubjekte, ihre partiellen Interessen nur unter dem Gesichtspunkt ihrer prinzipiellen Verallgemeinerbarkeit fürderhin für legitim zu erachten. In dieser republikanischen Zumutung eines Vorrangs des Gemeinsinns vor dem Individualinteresse ist die ursprünglich sozialistische Intuition des frühen Habermas aufgehoben. An ihr setzt konsequenterweise auch die liberale Kritik an Jürgen Habermas an.

Die Antriebs­kraft des „Erfah­rungs­ho­ri­zonts freund­li­chen Zusam­men­le­bens”

Der Versuch, hinter dem explizit Geschriebenen und theoretisch zur Sprache Gebrachten nach „Grundintuitionen” eines anderen Menschen zu forschen, hat stets etwas Indiskretes, ja Aufdringliches an sich – das man in der direkten Kommunikation, im Gespräch eher vermeiden würde. Erleichtert wird mir dieser Zugriff dadurch, dass sich Jürgen Habermas dazu selbst auf entsprechende Fragen geäußert hat. In einer längeren Antwort auf die Frage nach den „Antrieben und Motiven” seiner wissenschaftlichen Arbeit äußerte er u.a.: „Ich habe ein Gedankenmotiv und eine grundlegende Intuition […]. Der motivbildende Gedanke ist die Versöhnung der mit sich selbst zerfallenden Moderne […], sie zielt auf die Erfahrungen einer unversehrten Intersubjektivität […]. Vorstellungen von geglückter Interaktion. Gegenseitigkeit und Distanz, Entfernungen und gelingende, nicht verfehlte Nähe, Verletzbarkeiten und komplementäre Behutsamkeit – all diese Bilder von Schutz, Exponiertheit und Mitleid, von Hingabe und Widerstand steigen aus einem Erfahrungshorizont des, um es mit Brecht zu sagen, freundlichen Zusammenlebens auf. Diese Freundlichkeit schließt nicht etwa den Konflikt aus; was sie meint, sind die humanen Formen, in denen man Konflikte überleben kann” (Habermas 1985c: 202f., Hervorh. i. Orig.). Und er fügt wenig später hinzu: „Ich bin mir selbst heute noch nicht sicher, ob ich das, was ich wirklich will und was intuitiv meine Arbeit leitet, in seinen wesentlichen Elementen im Wissenschaftssystem sozusagen unterbringen kann“ (Habermas 1985c: 204). Deutlicher kann man nicht formulieren, dass der philosophischen und wissenschaftlichen Arbeit mit den Begriffen diese „aus einem Erfahrungshorizont […] freundlichen Zusammenlebens” vorausgehenden Grundintuitionen den „Wind” abgeben, denen sich die wahrlich geblähten Segel dieses wissenschaftlichen Vollschiffes unserer Tage verdanken. Wohl dem, der auf „diese Freundlichkeit” in seinem Erfahrungshorizont zurückgreifen und daraus theoretisch wie praktisch schöpfen kann, um sie so entschieden und kontinuierlich als „dogmatischen Kern” der anderen Erfahrung entgegen stellen zu können, „daß etwas zutiefst schief ist in der rationalen Gesellschaft” (Habermas 1985c: 203).

Zitierte Schriften von Jürgen Habermas

 1961: Über den Begriff der politischen Beteiligung; in: Ders. u.a., Student und Politik, Neuwied am Rhein und Berlin, S. 11-55
 1969a: Die Scheinrevolution und ihre Kinder; in: Ders.: Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt/Main, S. 188-201
 1969b: Einleitung; in: Ders., Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt/Main, S. 9-50
 1973: Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus, Frankfurt/Main
 1976: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/Main
 1981a: Walter Benjamin – Bewußtmachende oder rettende Kritik; in: Ders., Philosophisch-politische Profile, erw. Ausgabe, Frankfurt/Main, S. 336-376
 1981b: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/Main
 1985a: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat; in: Ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/Main, S. 79-99
 1985b: Recht und Gewalt – ein deutsches Trauma; in: Ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/Main, S. 100-117
 1985c: Dialektik der Rationalisierung (Interview); in: Ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main, S. 167-208
 1990: Interview mit Hans Peter Krüger; in: Ders., Die nachholende Revolution, Frankfurt/Main, S. 82-98
 1992: Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main
 2000: Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und Interesse; in: Stefan Müller-Doohm (Hg.), S. 12-20
 2001: Von der Machtpolitik zur Weltbürgergesellschaft; in: Ders., Zeit der Übergänge, Frankfurt/Main, S. 27-39

Literatur

Benjamin, Walter 1974: Über den Begriff der Geschichte; in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Frankfurt/Main, S. 693-704
Benjamin, Walter 1983: Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts; in: Ders., Das Passagen-Werk, Bd.1, Frankfurt/Main, S. 570-611
Blanke, Thomas 2000: Theorie und Praxis. Der Philosoph im Handgemenge; in: Müller-Doohm, Stefan (Hg.) 2000: Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit „Erkenntnis und Interesse”, Frankfurt/Main S. 486-521
Greven, Michael Th. 1999: Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, Opladen 
Greven, Michael Th. 2004: Was bewegt sich in sozialen Bewegungen? Bewegungsmetaphorik und politisches Handeln; in: Klein, Gabriele (Hg.): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld, S. 217-237
Müller-Doohm, Stefan (Hg.) 2000: Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit „Erkenntnis und Interesse”, Frankfurt/Main
Narr, Wolf-Dieter/Roth, Roland/Vack, Klaus 1999: Wider kriegerische Menschenrechte – Eine pazifistisch-menschenrechtliche Streitschrift, Köln
Vollrath, Ernst 2003: Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung, Würzburg
Weber, Max 1972, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen
Weber, Max 1958 [1919]: Politik als Beruf; in: Ders, Gesammelte Politische Schriften, Tübingen, S. 493-548

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