Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Faktenfülle statt Gesam­tin­ter­pre­ta­tion

Eine einseitige Geschichte des bundesdeutschen Zivildienstes

aus: Vorgänge 171/172 ( Heft 3-4), S.273-276

Eine am Münchner Institut für Zeitgeschichte entstandene Dissertation, die im Rahmen des Forschungsprojekts Reform und Revolte. Der Wandel der Gesellschaft der Bundesrepublik in den sechziger und frühen siebziger Jahren erarbeitet wurde, liegt jetzt überarbeitet als Buch vor. Es geht um die Entwicklung des Ersatzdienstes der Kriegsdienstverweigerer (KDV), von der Gesetzgebung und den Anfängen über die verschiedenen Reformen bis zum allseits beliebten „Zivi”. Nach einem Rückblick auf die einstige Verfolgung der KDV werden die spätere begrenzte Achtung ihrer Rechte wegen der Interessen des Militärs, Ängste und Indienstnahme in den sozialen Einrichtungen sowie die staatlichen Pläne, Reformen und Reaktionen auf Proteste und Probleme untersucht. Statistiken, ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister ergänzen die Studie.

Patrick Bernhard: Zivildienst zwischen Re-form und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, Bd. 64), 462 S., Oldenbourg Verlag: München 2005, ISBN 3-486-57800-6; 49,80 Euros ist ein ungeheuer fleißiges Buch, das eine Fülle von Fakten präsentiert. Obwohl der Rezensent in 15 der vom Autor behandelten 25 Jahre intensiv auf Seiten der Verweigerer engagiert war, war ihm vieles unbekannt. Bernhard zeigt, wie die Verantwortlichen in den Ministerien, Parteien und Oberbehörden oft intern das Gegenteil von dem gesagt und geplant haben, was sie öffentlich vertraten. Mancher Verdacht, den die KDV-Mitstreiter öffentlich nicht auszusprechen wagten, aber im kleinen Kreis durchaus diskutierten, wird im nachhinein bestätigt: So gab es Besprechungen in den Ministerien über den Ersatzdienst, bei denen nicht die eigentlich zuständigen kirchlichen Beauftragten, sondern Vertreter der Militärseelsorge hinzugezogen wurden und sich hinzuziehen ließen.

Einzelne Fehler sind bei so vielen Einzelheiten kaum vermeidbar: Sitz der 1956 gegründeten Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen war bis 1969 Dortmund; die Dienst-leistenden waren bis 1972 Ersatzdienstleistende und hießen erst danach Zivildienstleistende; Hermann Schäufele war nicht badischer Pfarrer, sondern KDV-Beauftragter der württembergischen Landeskirche; ich kam erst 1970 für die Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) zur Zentralstelle. Der in Darmstadt und Bremen zuerst praktizierte Soziale Friedensdienst wurde nicht in Darmstadt erfunden, sondern von der EAK als Kompromiss für eine inhaltliche Gestaltung des Zivildienstes vorgeschlagen, als der hessennassauische Beauftragte Eitel für „Sozialdienst” und ich für „Friedensdienst” plädierten und wir uns dann auf den Kompromiss Sozialer Friedensdienst einigten. Später wurde der darin liegende Anspruch von der EKD und der Diakonie übernommen. Aber solche Kleinigkeiten sind unwichtig. Ärgerlicher ist, dass bei der Entscheidung des Parlamentarischen Rates für die friedensstaatliche Ausrichtung des Grundgesetzes und damit für das Grundrecht KDV die millionenfachen Eingaben an den Parlamentarischen Rat, die die Kriegsdienstverweigerer- und Frauenverbände organisiert hatten, nicht erwähnt werden.

Die sachlich und zeitlich gegliederten Ab-schnitte irritieren manchmal, wenn auf frühere Vorgänge zurückgegriffen wird, die schon unter einem anderen Gesichtpunkt behandelt wurden. Trotz aller Bemühungen um die Fakten stört die Sicht des Autors von oben. Denn vor lauter Einzelheiten übersieht der Autor die Probleme für die betroffenen Menschen allzu leicht. Die einfache Bemerkung, dass die situative Verweigerung abgelehnt wurde, bedeutet, dass z.B. die Beteiligten der Weißen Rose, des 20. Juli oder alle Deserteure nicht als Kriegsdienstverweigerer gerechnet werden könnten. Dabei war die Ablehnung von Hitlers verbrecherischem Krieg doch eine der Grundlagen für die Achtung von Verweigerern.

Auffallend ist schon in der Einleitung der vereinfachende Rückblick auf 1867, als die Privilegien der Mennoniten in Preußen aufgehoben wurden; bis dahin waren diese vor Aushebungen geschützt bei Ableistung zusätzlicher Steuern. Bernhard stellt fest, dass es fortan nur die Möglichkeit des Sanitätsdienstes in der Armee gab. Dass vor diesem geringen staatlichen Zugeständnis Proteste und lange Verhandlungen mit Kriegsminister Roon lagen, dass am Ende auch Sanitätssoldaten „zur Ehre des Königs” ein Seitengewehr tragen mussten, also bewaffnet waren, und dass deshalb Tausende emigrierten, wird nicht erwähnt. Dabei hätten diese Ereignisse den Ernst der Sache für die Betroffenen deutlich gemacht. Aber der Verfasser schaut nicht auf die KDV und das Grundrecht als Teil und Ausfluss der Glaubens- und Gewissensfreiheit, sondern beschränkt sich auf die vom Staat gesetzten Fakten — was die Perspektive zwangsläufig verengt.

Die Statistiken der Wehrverwaltung über die KDV werden unbesehen übernommen. Schon der erste Präsident der Zentralstelle, Friedrich Wilhelm Siegmund-Schultze, hatte in einem Bericht der Zentralstelle diese Statistik angezweifelt und kritisiert, dass sich im Berichtsjahr mehr KDV allein in Dortmund Informationen für ihre Anträge geholt hatten, als angeblich im Bundesgebiet verweigerten. So etwas wird nicht erwähnt und auch das Staunen über die wenigen KDV macht Bernhard nicht misstrauisch. Tatsache ist aber: Die Statistiken der ersten Jahre mit ihren geringen Verweigererzahlen waren im Interesse der Aufrüstung während des Kalten Krieges manipuliert. Es wurden nicht alle KDV-Anträge gezählt, sondern nur die „registrierten Anträge”. Hinter der gewundenen Bezeichnung stand die Praxis, KDV möglichst untauglich zu mustern oder aus anderen Gründen frei zu stellen und dann erst, oft lange nach der Antragstellung, bei den Prüfungsausschüssen die paar verbliebenen Anträge zu „registrieren”. Das gab den offiziellen Stellen die Möglichkeit, die Verweigererzahl klein zu reden und die wenigen „registrierten” KDV bis 1967 als unbedeutende Sektierer hinzustellen.

Natürlich kann Bernhard dann auch den legendären Betrug des Jahres 1977 nicht durchschauen. Im Verfassungsstreit über das sogenannte „Postkartengesetz” wurde damals die Zählung der Verweigerer heimlich umgestellt. Statt wie bisher nur die Anträge der tauglichen und verfügbaren Wehrpflichtigen lange nach der Musterung zu „registrieren”, wurden jetzt die vorliegenden, noch nicht registrierten und von da an alle neuen Anträge beim Posteingang gezählt. Das täuschte eine plötzliche Verweigererflut vor. Bernhard kritisiert das Urteil, das das Gesetz zur weitgehenden Aussetzung der Prüfungsverfahren aufgehoben hat, zwar durch die Überschrift „judex calculat…” (S. 315), aber er sieht den Betrug dennoch nicht, weil er die Archive der KDV-Seite zu wenig beachtet. Dementsprechend kann er einfach die Statistiken übernehmen, die so tun, als habe es eine Verweigererflut gegeben und nach der Annullierung des Gesetzes einen Rückgang der Antragszahlen. In Wahrheit waren 1977 kurze Zeit Anträge ohne Verfahren durch die Verpflichtung zu einem Ersatzdienst gleich wirksam geworden. In den Folgejahren fehlten sie und die offiziellen Statistiken tun so, als habe es 1977 eine Verweigererflut, nach der Wiedereinsetzung der Prüfungsverfahren aber einen Rückgang der Anträge gegeben. Die ganzen Statistiken, die das Verfassungsgericht so beeindruckt hatten, sind durch die heimliche Veränderung der statistischen Basis schlicht falsch. Alle Anträge, die das Gericht für nichtig erklärt hatte, mussten in den Folgejahren erneut gestellt werden. Sie wurden aber aus der Statistik für 1977 nicht herausgenommen, sind also doppelt gezählt. Dass es trotzdem 1978f. weniger Anträge gab, liegt daran, dass eben die, die schon einen Dienst vereinbart hatten, anerkannt blieben und in den nächsten Jahren keine Anträge stellten. An sich blieb es bei einem kontinuierlichen Anstieg. Andererseits mussten viele von Karlsruhe für nichtig erklärte Anträge erneut gestellt werden, wurden also nochmals gezählt und blieben zu Unrecht in der Übersicht für 1977.

Irreführend ist ebenso die Angabe von einer Anerkennungsquote von 80 Prozent. Auch hier dürfte die Statistik der Wehrverwaltung täuschen. Die 80 Prozent beziehen sich, wie Bernhard schreibt, auf rechtskräftig abgeschlossene Verfahren. Dabei fallen die Anträge fort, die sich auf andere Weise erledigten, z.B. durch nachträgliche Untauglichkeit oder Freistellung, ebenso die Anträge, die zurückgenommen wurden. Letztere gab es nicht selten, wenn KDV während des Verfahrens so behandelt wurden, dass sie ihre Sache für aussichtslos hielten, aufgaben und ins von der Wehrpflicht freie Berlin flohen. Dass dort viele Tausende lebten, die in einer privaten Revolte vor der Wehrpflicht geflohen waren, findet sich im Buch an keiner Stelle erwähnt. Immerhin wird darauf hingewiesen, dass viele erst auf dem Weg durch die Instanzen zu ihrem Recht kamen. Doch was es für einen jungen Mann bedeutet, wenn er gegen sein Land klagen oder gar nach rechtskräftiger Ablehnung, inzwischen zur Bundeswehr eingezogen, in einem neuen Verfahren um sein Recht kämpfen muss, interessiert Bernhard nicht — auch aus historischer Sicht eine unverständliche Auslassung.

Wie kommt es bei einem so fleißigen Historiker zu solchen Lücken? Nach meinem Eindruck ist seine Gesamtfragestellung nicht sonderlich hilfreich. Er fragt nicht direkt nach der Kriegsdienstverweigerung und dem Ersatzdienst, sondern nach dem Einfluss der 68er-Bewegung auf diesen Bereich. Dabei lässt er sich durch viele offiziellen Angaben in die Irre führen. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Jahre 1967/68, wo sich der Statistikbetrug massiv auswirkt: Viele erst 1968 „registrierte” Verweigerer hatten schon 1967 verweigert. Die Antragszahlen stiegen damals wegen des Krieges in Vietnam und der aus den USA herüber wirkenden Kritik daran. Dem entsprach durchaus die von Bernhard registrierte Begeisterung für Mao und Ho Chi Min, deren Widerstand gegen das amerikanische Eingreifen positiv gewertet wurde. Die Entsendung des Lazarettschiffes Helgoland nach Vietnam hatte den Krieg hierzulande ins Blickfeld gerückt. Doch das alles erwähnt Bernhard nicht, sondern er sucht nach den Einflüssen der 68er, wegen der scheinbar ab 1968 steigenden Antragszahlen. Dass der Vietnamkrieg in den Anträgen und Aussagen der KDV damals kaum benannt wurde, sieht er als Beweis. Dabei hätte jede politische Argumentation zur Ablehnung des KDV geführt, was logischerweise Folgen auch für die Einlassungen der KDV hatte.

Die Wirkung der Situation in Bundeswehr und Ministerien beachtet Bernhard ebenfalls zu wenig: Vielfach waren Hitlers Generäle und Beamte zuständig. Der Vorrang des Staates vor den Grundrechten der Einzelnen war in schlechter deutscher Tradition so selbstverständlich, dass es wirklich einer kleinen Revolution bedurfte, um das zu ändern. Es war fast unmöglich, gegen das überzogene Staatsverständnis und Ordnungsdenken Bewusstsein für die Bedeutung der Grundrechte, des Rechtstaates und der Demokratie zu schaffen. In den Dokumenten der staatlichen Seite und der Verbände der Wohlfahrtspflege, die für ihre Organisationsaufgaben gern auf arbeitslos gewordene Offiziere und NS-Beamte zurückgegriffen hatten, wurden aus Kritikern gleich linke Pfarrer, Revolutionäre oder Gegner des Staates. Das Unangemessene dieser staatlichen Bewertungen wird dank der vielen Details bei Bernhard deutlich. Und sein Epilog registriert zu Recht, dass nicht die 68er-Revolte die vermehrte KDV hervorgerufen sondern sich nur ebenfalls auf die ZDL ausgewirkt hatte. Dass er aber schließlich bei der Wirkung auf längere Sicht von einer faktischen Abschaffung der Prüfungsverfahren sprechen kann, obwohl Antragstellung und Prüfung durch eine staatliche Behörde prinzipiell geblieben sind und im Falle eines Krieges sogar die mündliche Prüfung wieder eingeführt werden kann, zeigt nochmals: Bernhard denkt nicht vom Grundrecht her. Denn ein Grundrecht, das es nur auf Antrag nachstaatlicher Prüfung gibt, ist eben keines — und sei diese auch noch so großzügig.

Das Buch eröffnet den Zugang zu vielen Vorgängen, die man bisher nur durch Recherchen in den Archiven hätte finden können. Auch wenn der Autor die Überlegungen der Ministerialbürokratie überschätzt, bleibt es daher hilfreich. Bernhard unterschätzt oder übergeht manche Entwicklung auf Seiten der Kirchen und Verweigerer. So fehlen Angaben über die Werkwochen für ZDL, die die kirchlichen Beauftragten veranstalten und die neben den Einführungslehrgängen ein gutes Bild von den jeweiligen Tendenzen geben könnten. Es fehlen Analysen der Situation in den Kliniken, Heimen und Heilanstalten. Da die KDV nicht auf Dauer bleiben wollten, waren sie freier als die dort Tätigen, Missstände zu kritisieren. Das hat manchmal erhebliche Konflikte erzeugt, hat aber auch positive Veränderungen bewirkt. Es fehlen ebenfalls andere Kämpfe, die sich für die Dienstleistenden und den Dienst gelohnt haben, wie beispielsweise das Eintreten des Sozialen Friedensdienstes Bremen für fachliche und pädagogische Praxisbegleitung. Viele Monate lang versuchte das Kölner Bundesamt für Zivildienst auf Weisung von oben die Bremer Stelle auszuhungern, indem ihr keine ZDL mehr zugewiesen wurden. Das Ministerium fand, dass die ZDL zu gut behandelt wurden. Heute gilt das von den Bremern durchgesetzte Konzept der Praxisbegleitung als vorbildlich. Das zeigt, wie unangemessen die ersten staatlichen Reaktionen oft waren. Schade ebenso, dass die positiven Wirkungen von Protesten und Neuerungen nicht noch mehr herausgestellt werden.

Diese Defizite eingerechnet, lohnt eine — kritische — Lektüre dieser informativen Studie alles in allem zwar dennoch. Doch eine umfassende und definitive Geschichte des bundesdeutschen Zivildienstes sucht weiterhin ihren Autor.

nach oben