Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Die SPD in der zweiten Großen Koalition

aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3/3/2005 ), S. 23-27

„Die SPD ist die Bildungspartei des 21. Jahrhunderts.”
„,Links` bedeutet immer Bewegung und Aufbruch.
,Links` bedeutet Aufklärung, Ideen und Zuversicht.
,Links` bedeutet Weltoffenheit und nicht Abschottung,
bedeutet Kreativität und nicht Verweigerung.”
„,Links` ist die beharrliche Arbeit daran, dass unter
den neuen Bedingungen dieses Jahrhunderts neue
Chancen für möglichst viele erarbeitet werden können.”
Matthias Platzeck am 1 S.November 2005 in Karlsruhe

Ein Rückblick

Der Kandidat redete Sätze, die so selbstverständlich klangen, als sei er mit ihnen verwoben und verwachsen: Glaubenssätze aus einer Partei, die 142 Jahre alt ist. Selbst die traditionelle Anrede der „Genossinnen und Genossen” gelang dem in der DDR sozialisierten Matthias Platzeck vergleichsweise mühelos, auch wenn die „Freundinnen und Freunde” leichter klangen und ihm einmal sogar die „Damen und Herren” durchrutschten. Da lachte er den Bruchteil einer Sekunde über sich selbst, korrigierte sich und fuhr selbstbewusst fort. Mit seiner Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratie in Karlsruhe schlug der Mann aus Brandenburg, der erst nach dem Fall der Mauer in die Politik ein-gestiegen ist, zunächst beim Bündnis 90, dann seit zehn Jahren in der SPD, Töne an, die schon lange nicht mehr zu hören waren. Erst recht nicht von den sechs Vorsitzenden, die in immer schnellerer Folge die Partei seit dem Rücktritt von Willy Brandt 1987 geführt hatten. Was die über 500 Delegierten sofort nach dem letzten Wort von den Stühlen aufspringen ließ, waren nicht mitreißende politische Visionen oder aufputschendes Kampfgetöse. Es waren die Töne der Zuwendung, der Zugewandtheit, die den Delegierten gefielen. Da warb der künftige Parteivorsitzende um jeden einzelnen in diesem Land mit einfachen, menschenfreundlichen Sätzen: „Unser Land braucht jedes einzelne Kind”. Oder: „Gebraucht zu werden, schafft Lebenssinn”. Es gelang dem Seiteneinsteiger in die Politik, solche eigentlich platten Sätze mit Wärme zu füllen. Und sie auch nach Innen in die eigene Partei hinein zu wenden: „Wer als einen wichtigen Grundwert Solidarität auf seinen Fahnen stehen hat, wer Solidarität in die Gesellschaft hinein vermitteln will, der muss vor allen Dingen und zuvorderst zur Solidarität in den eigenen Reihen fähig sein; denn sonst kauft uns in diesem Land niemand etwas ab.“

Mit dem spontanen Aufspringen von den Stühlen nach der Rede zeigten die Delegierten ihre Erleichterung, sogar ihre Freude über diesen Kandidaten, den sie bis dahin nur von Bildern kannten und der ihnen nach Tagen der Irrungen und Wirrungen vorgesetzt worden war: Kurt Beck, der rheinland-pfälzische Ministerpräsident, und Matthias Platzeck hatten es unter sich ausgemacht, wer antritt als Parteivorsitzender. Es war wie-der einmal eine jener einsamen Entscheidungen, die unter Gerhard Schröder und Franz Müntefering zum Prinzip des Herrschens in der SPD-Spitze geworden waren. So wie Oskar Lafontaine einst Gerhard Schröder in einer einsamen Entscheidung als Kanzlerkandidaten präsentierte, dann Schröder sich selbst den Vorsitz nahm, um ihn an allen Gremien der Partei vorbei an Müntefering weiter zu reichen. Das „Durchregieren”, das ironischer Weise Angela Merkel für ihre Politik als Bundeskanzlerin angekündigt hat, ist in der Sozialdemokratischen Partei seit einem Jahrzehnt, seit Oskar Lafontaines Putsch auf dem Mannheimer Parteitag 1995 System. Die Partei und ihre gewählten Gremien spielten — im wahrsten Sinne des Wortes — eine Randrolle, von der Agenda 2010, die die SPD in den Ländern und Europa mit einer Wahlniederlage nach der anderen zahlen durfte, bis zur Entscheidung über die Neuwahlen. Vieles, meist das Wichtigste, er-fuhren die Funktionäre der Partei aus den Medien, aus den Talkshows und den Interviews. Kommunikation, ein Schlüsselwort für eine lebendige Demokratie, auch die in einer Partei oder Fraktion, fand schon lange nicht mehr statt. Und Franz Müntefering wollte sich dieses Systems als Vizekanzler und Parteivorsitzender nahtlos weiter bedienen, noch vier, fünf Jahre lang, wie er am Tag seiner Rücktrittsankündigung freimütig vor der Presse einräumte, um dann erst die Verjüngung einzuleiten. Hoch gepokert, naiv gespielt oder bewusst gezündelt: Es ist das Verdienst von Andrea Nahles und jener Zufallsmehrheit im Parteivorstand für ihre Kandidatur zur Generalsekretärin, dass dieses System einstürzte, nicht erst in weiteren lähmenden vier, fünf Jahren, sondern vor dem Beginn der zweiten Großen Koalition in dieser Republik. Wird diese altehrwürdige, aber intellektuell und personell ausgezehrte Partei die Chance wahrnehmen (können)?

Ein Innenblick

Spätestens auf dem Parteitag in Karlsruhe hat für die Sozialdemokratische Partei ein neuer Zeitabschnitt begonnen. Die Ära der Jusos aus den 1970er Jahren, die sich gern mit dem Etikett der Enkel Willy Brandts schmückten, ist vorbei. Die Schröders, Münteferings oder Wieczorek -Zeuls, die in der SPD der Bonner Republik seit dreißig Jahren eher im Vorder- denn im Hintergrund die Strippen ziehen, sind Berufspolitiker, Profis der Macht seit Jahrzehnten. Sie neigen nicht zu Sentimentalitäten, wie Gerhard Schröder in seiner Karlsruher Abschiedsrede noch einmal unterstrich. Franz Müntefering gar sieht sich in der Rolle von „Straßenkötern, die oft durchsetzungsfähiger sind” als die hochgezüchteten Sensibelchen: Auf ein solches Bild muss man erst einmal kommen.

Diese politische Klasse der SPD, die weder Wärme noch Charisma ausstrahlt, räumte in Karlsruhe die Posten in der Partei, nicht allerdings in der Regierung. Bedeutet das, dass sie ihr bisheriges „Durchregieren” doch fortsetzt und der neuen Parteiführung von außen, über die Große Koalition die Linie vorgibt? Ist Matthias Platzeck stark genug, die Partei aus den fest gezurrten Verstrickungen und der Unfähigkeit zur Kommunikation zu lösen? Führt sein neuer Ton auch zu einem neuen Umgang und zu neuen Formen der innerparteilichen Demokratie? Es gibt erste vage Anzeichen dafür.

Bemerkenswert ist, dass zwei wichtige Führungspositionen in der Partei von Politikern wahrgenommen werden, die aus dem Osten kommen. Der Parteivorsitzende Platzeck ist ein Mann, der nicht seit den Studentenzeiten Politik als Beruf fest im Blick hatte, sondern sich mit 35 Jahren neu orientieren musste, der Lebensbrüche hinter sich hat trotz der steilen Karriere von der Kommunalpolitik bis an die Spitze der SPD. Er wird die Fragwürdigkeit von ewigen Gewissheiten und Glaubenssätzen kennen. Er wird gelernt oder zumindest erfahren haben, dass die Deutschen zwei Eigenschaften zutiefst prägen: Unsicherheit aus mangelndem Selbstvertrauen und Ängstlichkeit gegenüber Neuem, Fremden, Anderem. Und in seinen Erfahrungen wird er unterstützt von Wolf-gang Thierse, der die seit sechs Jahren in der Partei schmorende Debatte über ein neues Grundsatzprogramm zum Abschluss führen soll: bis zu einem außerordentlichen Parteitag in zwei Jahren. Thierses Ansehen in der Partei ist unbestritten. Wenn er redet, wird es ruhig in dem sonst summenden Saal: Er ist intellektuelle und moralische In-stanz, was nicht zuletzt sein hohes Wahlergebnis für den Parteivorstand beweist. In den parteiinternen Auseinandersetzungen seit der Bundestagswahl hat er bewiesen, dass er sich selbst zurücknehmen kann. Jetzt hat er die Chance, der völlig erlahmten Diskussionskultur in der SPD Raum zu schaffen, Denker und Querdenker(innen) wieder für die Partei zu interessieren. Thierse ordnet die Inhalte und, so nannte er es in Karlsruhe, „die große Erzählung”, die aber kein Märchen sein dürfe; Platzeck die Umgangsformen der Partei, die er in die „linke Mitte” rückt: das könnte zu einer neuen Offenheit gegenüber der Gesellschaft und in ihr führen, die einladend wirkt. Und die schon einmal, unter Willy Brandt in der ersten Großen Koalition in Bonn, ein Weg zum Erfolg war, schließlich tauschte die SPD im Verlauf der 1970er Jahre ihre Mitgliedschaft nahezu aus.

Ein Ausblick

Doch vor einem Neuanfang der SPD steht die zweite Große Koalition, jetzt in Berlin: mit einem Koalitionsvertrag, der bruchlos die Politik Schröders vor allem in der Agenda 2010 fortführt und der im Anhang eine Einigung über eine Reform des Föderalismus enthält, die alles andere als eine Reform ist. Sie ist, sollte sie Gesetz werden, ein Strukturbruch: Aus dem kooperativen föderalen Staat wird ein Föderalismus des Wettbewerbs, dem die gleichen Lebenschancen für alle seine Bürger untergeordnet sind, ein neoliberaler Bundesstaat also, der regionalen Egoismen und Lobbyisten Tür und Tor weit öffnet. Auf beide politischen Folgen ist die Sozialdemokratie nicht vorbereitet.

Wenn es vor den Bundestagswahlen und in dem Wahlkampf in der Partei noch irgendeine Erwartung an Schröder und Müntefering gegeben hat, dann die: Sie mögen ihre Radikalität gegenüber den Menschen im unteren Drittel der Gesellschaft korrigieren; sie mögen in der Agenda-Politik des Förderns und Forderns jetzt das Gewicht auf das Fördern legen; sie mögen ihr politisches Handeln an der sozialen Gerechtigkeit messen, nicht nur mit einer symbolischen „Reichensteuer”, sondern als Prinzip. Ein Blick in den Koalitionsvertrag wirkt ernüchternd.

In dem wieder eigenständigen Arbeitsministerium unter Müntefering sitzen unverändert die Agenda-Beamten, die längst auf der nächsten Stufe des Forderns angekommen sind. Die Pläne müssen schon in der Schublade gelegen haben. Jetzt steht es im Vertrag (unter 2.5. Aktive Arbeitsmarktpolitik), wie die „Bedarfsgemeinschaften” noch strenger zu kontrollieren sind: durch eine Pflicht zur Telefonabfrage, „in der die aktuellen Lebenssituationen überprüft werden”. Vertraglich vereinbart ist, wie die arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren wieder zu den Eltern zu schicken sind oder wie ein Umzug in eine eigene Wohnung an eine amtliche Zustimmung zu binden ist. Bis ins Detail werden die Verschärfungen, die immer ausgeklügelteren Kontrollen fortgeschrieben. Das heißt nichts anderes, als dass Müntefering und vor allem der Beamtenapparat im Arbeitsministerium auf diese Politik längst vorbereitet waren. Und weit davon entfernt sind, das Menschenbild, das diese Agenda prägt, zu korrigieren: Es bleibt beim misstrauischen Blick auf die Arbeitslosen, die eigentlich den Staat nur missbrauchen und auf Schnäppchen aus sind; es bleibt beim Blick des Verdachts auf die ausländischen Arbeitslosen, die auf Auslandskonten und Depots überprüft werden sollen: So als seien die „frei-gesetzten” Bergmänner und Fließbandarbeiter eigentlich alles verkappte Millionäre. Und es bleibt bei dem strengen Blick auf die Jugendlichen, die es zur Arbeit zu erziehen gilt.

Wie wird die Partei, wie wird die Fraktion auf diese Fortführung der Politik eines Wolfgang Clement reagieren? Wie wird sie die Widersprüche zwischen der menschenfreundlichen Zuwendung eines Matthias Platzeck und den Strafaktionen in der Agenda-Politik eines Franz Müntefering auflösen? Wird sie diese Unvereinbarkeiten überhaupt erkennen, erkennen wollen? Oder wird sie auf die Vertragspassagen zur Kinder- und Familienpolitik verweisen, die tatsächlich in einer anderen Sprache abgefasst sind und in der sogar das Wort von der Chancengleichheit auftaucht, das CDU und CSU bereits seit längerem durch Chancengerechtigkeit ersetzt hatten. Nur verantwortet diesen Bereich die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen und Verknüpfungen zur Arbeitsmarktpolitik sind so wenig erkennbar wie sie dies bereits unter der früheren Familienministerin Renate Schmidt (SPD) waren.

Völlig unvorbereitet ist die SPD in Bund und Ländern auf die Auswirkungen der so genannten Föderalismus-Reform. Sollte das Ergebnis, für das Müntefering und Edmund Stoiber verantwortlich zeichnen und das als Anlage 2 in den Koalitionsvertrag eingebaut worden ist, tatsächlich im Grundgesetz verankert werden, dann sind die Folgen für die Bundesrepublik tiefgreifender und nachhaltiger als jede Große Koalition.

Diese „Reform”, die im ersten Schritt 1994 als die so genannte kleine Verfassungsreform im Grundgesetz durchgesetzt, durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts inden letzten Jahren weit ausgelegt wurde, verschiebt endgültig die Machtbalance vom Bund, genauer vom Bundestag, zu den Ländern, genauer den Landesparlamenten. Sie beendet die bisherige Ära des kooperativen Föderalismus, die 1969 mit einer verstärkten Rahmenkompetenz des Bundes begonnen hatte. An die Stelle der Zusammenarbeit tritt der Wettbewerb, der gefordert und gefördert wird: vom Ladenschluss über die Jagdgesetze bis zur Lehrerbesoldung. Den Begriff, den das Bundesverfassungsgericht für diese neue Struktur des föderalen Wettbewerbs geprägt hat, heißt „partikulardifferenziert” (so erstmals in einem Urteil vom 24. Oktober 2002).

Im Namen von Ungleichheit und Differenz verzichtet diese verabredete neue Struktur darauf, die Länder zu verpflichten, für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen. Für den Bund gilt diese Verpflichtung nach der Auslegung des Verfassungsgerichts ohnehin nur noch für Fragen der Wirtschaft und der Sicherheit.

Damit entfällt für den Bund die Möglichkeit, ein Feld zu gestalten, das Matthias Platzeck selbst in den Mittelpunkt gerückt hat. „Die SPD ist die Bildungspartei des 21. Jahrhunderts”, sagte er und knüpfte damit an die Politik der Emanzipation und Aufklärung an, mit der die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert begann. Doch wie sieht die Realisierung im Alltag der Großen Koalition aus? Gesamtstaatliche Bildungsplanung, für eine Volkspartei die Plattform, sich auf ein einheitliches Konzept zu verständigen, haben Müntefering und Stoiber einvernehmlich gestrichen. Die Begründung muss Bildungsplanern und Bildungsforschern schrill in den Ohren klingen: „Der Begriff der 1969 übergreifend gedachten, aber nicht realisierten Gemeinschaftsaufgabe gesamtstaatlicher Bildungsplanung wird ersetzt durch die Grundlage für eine zukunftsorientierte gemeinsame Evaluation und Bildungsberichterstattung zur Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich”. Ist Münteferings bildungspolitische Ahnungslosigkeit so groß, dass er nicht (mehr) weiß, an welchen Ministerpräsidenten der CDU und CSU diese Gemeinschaftsaufgabe gescheitert ist? Wer das wichtigste nationale Beratungsgremium, den deutschen Bildungsrat, aufgelöst hat? Und an wem bis heute eine eigentlich dringend notwendige größere Einheitlichkeit im Bildungswesen scheitert, die keineswegs durch den Vergleich von Leistungstests herzustellen ist?

Der ausdrückliche und möglicher Weise durch eine Änderung des Grundgesetzes vollzogene Verzicht auf eine gesamtstaatliche Bildungsplanung erschwert es der SPD und Matthias Platzeck, so er seine Ankündigung ernst meint, überhaupt einen Ansatz zu finden, „Bildungspartei des 21. Jahrhunderts” zu werden. Die Sozialdemokratie müsste im neu strukturierten partikular-differenzierten Bundesstaat Formen der Kooperation unter den Ländern, unter den Kultusministern und den Landesparlamentariern finden, die heute nicht einmal im Ansatz vorhanden sind. Jeder der sechs Kultusminister und Kultusministerinnen, die die SPD gegenwärtig in den Ländern noch stellt, betreibt eine eigene Politik; eine bildungspolitische Linie ist nicht zu erkennen. Ute Erdsiek – Rave, Kultusministerin in Schleswig-Holstein, rang sich auf dem Parteitag in Karlsruhe einen Stoßseufzer ab: „ Es muss doch einen roten Faden geben.” Es muss, es müsste. Die Zukunft der Partei der linken Mitte

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