Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Trans­na­ti­o­na­li­sie­rung der inneren Sicherheit?

Die Grundrechte werden über den Umweg Europa ausgehöhlt

aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3-4 /2005), S.252-259

Am 18. Juli 2005 erklärte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts das Europäische Haftbefehlsgesetz für nichtig. Das Gericht düpierte damit Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat. Vom Rat der Europäischen Union bereits im Juni 2002 beschlossen (Rahmenbeschluss 2002/584/JI, ABI. L 190, 18.07.2002), verzögerte der deutsche Gesetzgeber die Umsetzung in nationales Recht bewusst. Dennoch gelang es nicht, ein verfassungsfestes Gesetz zu verabschieden. Die Zielsetzung des Europäischen Haftbefehls,[1] bei 32 Straftatbeständen[2] wie beispielsweise der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung oder an terroristischen Aktivitäten das Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu vereinfachen und so die Dauer des Verfahrens zu verkürzen, wurde dabei gar nicht kritisiert. Nur in der Umsetzung wurde ein Verstoß gegen die Auslieferungsfreiheit (Art. 16 Abs. 2 GG) bemängelt, da „der Gesetzgeber die ihm durch den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl eröffneten Spielräume nicht für eine möglichst grundrechtsschonende Umsetzung des Rahmenbeschlusses in nationales Recht ausgeschöpft habe.” (BVerfG 2005) Überdies würde die grundrechtliche Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht gewährleistet.

Die versuchte Einführung des Europäischen Haftbefehls ist ein Fallbeispiel, das stellvertretend dafür steht, wie auf Länder-und Bundesebene zunehmend Grundrechte fahrlässig oder willentlich übergangen werden. Gerade im Politikfeld der inneren Sicherheit ist die Neigung zur Grundrechtsdehnung groß. Großer Lauschangriff (1 BvR 2378/98; 1 BvR 1084/99), Europäischer Haftbefehl (2 BvR 2236/04), die Regelungen des Niedersächsischen Polizeigesetzes zur vorbeugenden Telefonüberwachung (1 BvR 668/04): Immer wieder sind korrigierende Entscheidungen des Verfassungsgerichts notwendig, da die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes durch den Gesetzgeber nur mangelhaft beachtet wird (Baldus 2003). Die terroristischen Anschläge in New York, Washington, Casablanca, Djerba, Istanbul, Riad, Madrid und zuletzt London waren dabei entgegen weit verbreiteter Vermutungen nicht ursächlich, sondern beschleunigten diese Gesamtentwicklung nur. Man kann allerdings sagen, dass diese für die Durchsetzungsfähigkeit neuer Eingriffsbefugnisse entscheidend waren (Bukow 2005; Dietl 2002; Hirschmann 2004; Thamm 2002).
Erfolgreiches Lobbying und zunehmende reale Bedrohungen führten dazu, dass die Gefährdung der Sicherheit im öffentlichen Bewusstsein mittlerweile als wesentliches soziales Problem gilt (Peters 1998). Es etablierte sich in der politisch-gesellschaftlichen Debatte recht fest ein vermeintliches „Grundrecht auf Sicherheit”, die Gewährleistung der Sicherheit wird bisweilen als „Kern der Staatsräson” (Otto Schily) verstanden.

Security und Safety, also soziale und physische Sicherheit, sind in Zeiten zunehmender Unsicherheit zum gesellschaftlichen Grundbedürfnis und politischen Totschlag-Argument geworden: „Die terroristische Bedrohung führt den Staat in Versuchung, jetzt das zu tun, was er schon immer tun wollte, aber aus rechtsstaatlichen Gründen bisher nicht tun durfte.” (Hoffmann-Riem 2001) Es scheint, als seien Regierung und Gesetzgeber dieser Versuchung mittlerweile weitgehend erlegen, vermitteln zumindest die zuletzt zahlreichen Verfassungsgerichtsentscheidungen (Rau 2004).

Europäisierung der inneren Sicherheit?

Die öffentliche Diskussion beschränkte sich bis vor kurzem auf nationalstaatliche Aspekte und Handlungslogiken. Im Anti-Terror-Kampf werden meist nur die altbekannten Forderungen nach neuen, noch tiefer einschneidenden Eingriffsbefugnissen laut, neue Ansätze zur Bekämpfung der transnationalen Bedrohung fehlen völlig. Spätestens seit den Madrider Anschlägen wird jedoch auf der medialen Wahrnehmungsebene und damit in der Öffentlichkeit die europäische Dimension deutlich — in der Bedrohung wie auch in der Bekämpfung. Diese verzögerte Wahrnehmung überrascht, ist doch die innere Sicherheit auf europäischer Ebene bereits seit der 1975 vereinbarten TREVI-Kooperation[3] wichtiges Thema intergouvernementaler Kooperation.

Mit Blick auf die innere Sicherheit lassen sich etwas verallgemeinert drei Phasen unterschiedlicher Intensität und Schwerpunktsetzung ausmachen:

  1. 1975 mit TREVI beginnend bis Mitte der 1980er war der unterschiedlich ausgeprägte nationale Terrorismus ein zentrales Anliegen, thematisiert und eingebracht von den vom Terrorismus betroffenen Ländern. Mit dem Abflauen des nationalen Terrorismus in den meisten Mitgliedsstaaten ließ das Interesse am Informations- und Erfahrungsaustausch jedoch merklich nach.
  2. In der zweiten Phase (Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre) standen andere Themen im Vordergrund. Die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes bei Herstellung der Reisefreiheit (Scheugen) ließ Befürchtungen eines Sicherheitsverlustes durch den Verzicht auf Grenzkontrollen aufkommen. Organisierte Kriminalität wurde massiv problematisiert und stand auf der politischen Agenda weit vorne. Hier kommt der Bundesrepublik Deutschland eine zentrale Rolle zu, denn in diesen bei-den Feldern sah sich Deutschland durch seine geographische Lage an der damaligen EU-Ostgrenze massiv bedroht und forcierte folglich durchaus erfolgreich die europäische Zusammenarbeit. Deutschland hielt dabei für dringend geboten: Eine „Verstärkung und Harmonisierung der Kontrollen an den Außengrenzen […], eine gemeinsame Visum-Politik [..,], die Errichtung eines Fahndungs- und Informationssystems […] sowie Vereinbarungen zur grenzüberschreitenden polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit” (Bundesministerium des Innern 2004). Diese Rolle der BRD als Vorreiter und Antreiber besteht dabei bis heute fort, so geht beispielsweise die Einrichtung der „Europäischen Grenzschutzagentur” im Januar 2005 auf eine Initiative der deutschen Regierung zurück. Ziel ist es, die Grenzsicherung auf dem Niveau der Schengen-Staaten auch in den neuen EU-Ländern sicherzustellen und somit vor allem der illegalen Einwanderung und kriminellen Organisationen entgegenzuwirken. Bemerkenswert ist in diesem Kontext ein Umwidmungseffekt: Zahlreiche, jetzt im Anti-Terror-Kampf angewandte Maßnahmen hatten bei ihrer Einführung eine andere Stoßrichtung und dienten vor allem der Bekämpfung illegaler Migration und der organisierten Kriminalität.  Innere Sicherheit Sehnsucht nach Freiheit entsteht daher nur zu oft erst aus dem Gefühle des Mangels derselben.
  3. Diese Umdeutung der Maßnahmen-Ziele geht mit einer neuerlichen Fokussierung auf einen gemeinsamen Anti-Terror-Kampf einher. Diese dritte Phase beginnt bereits vor den Anschlägen von 2001. Spätestens seit 1999 wird die Thematik – wenngleich öffentlich kaum wahrgenommen – verstärkt auf europäischer und multilateraler Ebene bearbeitet.

Im gesamten Bereich der inneren Sicherheit ist jedoch im engeren Sinne nur sehr bedingt von einer Europäisierung zu sprechen: Der Vertrag von Maastricht 1992 beließ die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit weiterhin auf der Ebene freiwilliger Regierungszusammenarbeit. Zugleich „verwischt sich in einer wachsenden Zahl von Bereichen die Trennung zwischen erster und dritter Säule, von vergemeinschafteter Politik und Regierungszusammenarbeit” (Glaeßner/Lorenz 2005).[5]

Diese Unterscheidung zwischen Regierungszusammenarbeit und Vergemeinschaftung ist durchaus relevant, auf praktischer Ebene bedeuten jedoch beide Handlungsebenen: Vermeintlich innenpolitische Entscheidungen werden, wenngleich dies nicht immer offen zu Tage tritt, von europäischen Vorgaben bestimmt oder zumindest maßgeblich beeinflusst. Nicht ganz zufällig und auch nicht ungewollt, wird doch ,Europa` gerne als argumentatives Schutzschild genutzt, um ungeliebte oder kritische innenpolitische Debatten, selbst im Deutschen Bundestag, zu unterbinden. Dies wurde zuletzt bei der Debatte um den bei Datenschützern und Sicherheitsexperten umstrittenen biometrischen Pass (ePass) deutlich, in der Bundesinnenminister Otto Schily mit Verweis auf europäische Vereinbarungen Nachbesserungen oder Änderungen von vornherein ausschloss. Diese postulierte Verlagerung der Entscheidungskompetenz wirft mehrere Fragen auf: Ist das Politikfeld innere Sicherheit tatsächlich einer Europäisierung und damit der Nationalstaat einem Souveränitätsverlust unterworfen?

Erst der Amsterdamer Vertrag brachte zum 1. Mai 1999 eine Vergemeinschaftung der bislang intergouvernemental bearbeiteten Gebiete „Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr” (Titel IV EGV) zur Durchsetzung eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts” (vgl. Art. 2 EUV; Art. 29 EUV; Art. 61 EGV). Damit findet in den genannten Politikbereichen sowie in Staatsangehörigkeitsfra-gen, in Teilen der justiziellen Zusammenarbeit (Zivilverfahren nach Art. 65 EGV) und in Grenzangelegenheiten (Schengen) fortan eine vergemeinschaftete Politik statt. Seit dem 1. Januar 2005 reicht dabei eine qualifizierte Mehrheit für Beschlüsse und Maßnahmen aus.

Den Beginn für eine ernst gemeinte EU-Politik im Feld Justiz und Inneres markiert der Sondergipfel des Europäischen Rats im Oktober 1999. Im finnischen Tampere wurde auf der Ebene der Staats- und Regierungschef das Themenfeld umfassend erörtert, Kompetenzbereiche wurden verteilt und Fristen vorgegeben. Es sollte fortan ein Hauptaugenmerk auf die Herstellung des bereits vertraglich postulierten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Recht gelegt werden. Zahlreiche Maßnahmen wie der Europäische Haftbefehl standen schon hier auf der Tagesordnung. So ist mittlerweile festzustellen: „Im Ergebnis gehört das Politikfeld innere Sicherheit heute zuden am intensivsten bearbeiteten der EU überhaupt.” (Knelangen 2005)

Europäische Tendenzen im Anti-Ter­ror-­Kampf

Die Anschläge in den USA 2001 führten zu einem neuerlichen Schub in der Zusammenarbeit6 wie auch in der nationalen Durchsetzbarkeit einzelner Maßnahmen. Zwar bestimmen weiterhin vorrangig die nationale Bedrohungslage und nationale Vorkommnisse das nationale Sicherheitsverständnis, aber zu-gleich wurde der Kampf gegen den Terrorismus, schon im Amsterdamer Vertrag (Art. 29 EUV) erwähnt, zum vorrangigen gemeinsamen Ziel ausgerufen. Dabei ist die politische Verortung der Regierungen weitgehend irrelevant (Hein 2004). Es besteht im Kern ein breiter Konsens im konzeptionellen Ansatz des Anti-Terror-Kampfes – zumindest auf proklamatorischer Ebene im Bereich der inneren Sicherheit. Es finden sich dabei mehrere, sich ergänzende Ansätze.

1. Europäischer Sicherheitsverbund

Der Kampf gegen den Terrorismus – zuvor primär als innenpolitische Herausforderung aufgefasst – soll zugleich zum Ausbau der Staatengemeinschaft hin zu einem Sicherheitsund Überwachungsverbund und einer gemeinsamen Bekämpfung internationaler (organisierter) Kriminalität genutzt werden. Die Stoßrichtung ist klar: Es wird eine umfassendere Überwachung und Prävention forciert. Zahl-reiche Maßnahmen der EU dienen der Erhebung und bevorratenden Sammlung personenbezogener Daten. So soll beispielsweise nach Vorstellung der EU-Kommission eine Ausweitung der Telekommunikationsdatenspeicherung umgesetzt werden. Statt den in Deutschland bislang üblichen 90 Tagen sollen sämtliche Verbindungsdaten bis zu einem Jahr lang gespeichert werden, wobei fortan alle Verbindungsmerkmale gespeichert werden sollen. Damit wäre eine umfassende Nutzung- und Bewegungsprofilbildung jederzeit möglich. Eine parlamentarische oder richterliche Kontrolle ist kaum vorstellbar.

Auch bereits beschlossene und umgesetzte Entscheidungen zur Sammlung und zum Austausch hochsensibler Daten sind mittler-weile und dabei fast unbemerkt Alltag: vom Ausbau des Schengener Informationssystems über die Flugpassagierdatenübermittlung an die USA bis hin zur Einführung, Speicherung und gegenseitigen Nutzung biometrischer Daten (vorerst auf multilateraler Ebene im Prümer Vertrag vereinbart). Auf EU-Ebene erweisen sich dabei auch die entstehungsbedingt unterschiedlichen Zuständigkeiten als Problem. In einigen Ländern wie Deutschland stehen zivile Akteure im Vordergrund, in an-deren Ländern wie Frankreich oder Polen sind zivile und militärische Akteure für die Gewährleistung der inneren Sicherheit zuständig. Die Problematik wird deutlich, wenn man allein an die bundesrepublikanische Debatte um den Einsatz der Bundeswehr im Innern denkt. Neben der Intensivierung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit nach innen ist dabei bekannter Maßen auch eine gemeinsame Außenpolitik angestrebt, die jedoch bedeutend schwerer zu realisieren sein wird.

2. Multilaterale Kooperationsabkommen

Sicherheitskooperation heißt aber nur zum Teil Zusammenarbeit auf EU-Ebene; zeit-gleich wird diese durch multilaterale Verträge zwischen EU-Staaten verfestigt. Gerade für Deutschland war und ist die Ebene bi- und multilateraler Verträge wichtig, sei es um noch ausstehenden EU-weiten Vereinbarungen vorzugreifen, eine bewusste Vorreiterrolle einzunehmen oder aber um nur national not-wendige Angelegenheiten zu regeln. Das jüngste bedeutende multilaterale Vertragswerk ist der von den zuständigen Ministern Belgiens, Deutschlands, Spaniens, Frankreichs, den Niederlanden, Luxemburgs und Österreich unterzeichnete ,Prümer Vertrag‘ vom Mai 2005, der vorrangig dem Informationsaustausch, insbesondere zur Terrorismus-, organisierten Kriminalitäts- und illegalen Migrationsbekämpfung, dient. Eine wesentliche Neuerung ist dabei die Ermöglichung eines direkten Zugriffs auf die Fingerabdruckdateien der beteiligten Staaten zur Verhinderung von Straftaten — also bereits präventiv. Zudem bestehen erweiterte Zugriffsrechte auf DNA-Dateien sowie Fahrzeugregister zur Verfolgung von Straftaten. Die Erstunterzeichner des Prümer Vertrags streben dabei an, möglichst viele EU-Staaten zur Unterzeichnung zu gewinnen. Im Falle einer positiven Evaluation soll nach drei Jahren eine Initiative gestartet werden, um „die Regelungen des Vertrags in den Rechtsrahmen der Europäischen Union zu überführen”. Damit wäre ein europaweiter Fingerabdruck- und DNA-Datenbankverbund faktisch hergestellt, betreiben doch alle Mitgliedsstaaten eine operative nationale DNA-Datenbank, von Luxemburg und Malta abgesehen, die DNA-Analysen in Nachbarstaaten in Auftrag geben (vgl. BMI AT 2005).

3. Gemeinsame Sicherheitsforschung

Die Europäische Kommission setzt neben einer Intensivierung der Zusammenarbeit in den traditionellen polizeilichen, geheimdienstlichen und justiziellen Bereichen seit 2004 auf eine gemeinsame Sicherheitsforschung. Im Frühjahr 2004 initiierte die Europäische Kommission die Entwicklung eines europäischen Programms für Sicherheitsforschung (EPSF). Dazu sollten in der Vorbereitungsphase 2004-2006 „Sicherheitsprobleme analysiert sowie technische und politische Antworten aufgezeigt werden”, der Schwerpunkt liegt dabei u.a. auf dem Schutz vor Terrorismus. Im August 2005 wurden als Reaktion auf die Londoner Anschläge weitere Forschungsvorhaben bewilligt und die Mittel drastisch er-höht, ab 2007 soll das Jahresbudget im Rahmen der ,Vorbereitenden Maßnahmen zur Sicherheitsforschung‘ von 15 Millionen Euro auf 250 Millionen Euro erhöht werden. Da „Terroranschläge mit Sprengstoffen oder chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Stoffen auf Eisenbahnstrecken des Fern- oder Nahverkehrs (. ,.) eine klare und allgegenwärtige Gefahr für alle Bürgerinnen und Bürger der EU” seien, solle beispielsweise ein Forschungsprojekt finanziert werden, „mit dem eine Systemarchitektur für ein Anti-Terrorismus-Sicherheitssystem entworfen und demonstriert werden soll. Mit diesem System sollen terroristische Bedrohungen besser festgestellt und Zugreisende damit besser geschützt werden. Das Projekt wird Informationen von Sensoren, ferngesteuerten oder autonomen Kameras, Bodeneindringradar und Line-Scannern zusammenführen.” Neben der Vorfeldermittlung wird somit zunehmend auf die konkrete Gefahrenreduktion durch verschärfte Sicherheitsüberwachung gesetzt. Die Kommission setzt dabei der terroristischen Bedrohung ei-ne massive technische Aufrüstung entgegen.

Bedingte Europäisierung mit nationalstaatlicher Motivation

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Trotz einer fortschreitenden europäischen Integration ist der Bereich der inneren Sicherheit nur bedingt integriert, was der besonderen Bedeutung dieses Politikfeldes geschuldet ist. Eine freiwillige Souveränitätsabgabe ist hier politisch besonders schwer durchsetzbar. Jedoch hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Bekämpfung des transnationalen Terrorismus eine intensivere Zusammenarbeit er-fordert. Dennoch — oder vielleicht gerade des-halb — zeigen sich große Diskrepanzen zwischen formulierten Anspruch und tagtäglicher Praxis. Gerade die operative Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden weist eklatante Mängel auf, allein durch die Viel-zahl der polizeilichen und geheimdienstlichen Einrichtungen ist eine Koordination außerordentlich schwierig. Häufig werden beschlossene Maßnahmen nur zögerlich oder nachlässig umgesetzt, wie beispielsweise der Europäische Haftbefehl für Deutschland zeigt.

Hinsichtlich der Frage nach einer Beeinflussung der deutschen Innenpolitik durch ,Europa` lässt sich festhalten: Ein phasenweise wechselndes, insgesamt jedoch starkes und erfolgreiches Bestreben der Bundesregierung nach einer Harmonisierung in den für die Bundesrepublik besonders wichtigen Bereichen (Asyl- und Visapolitik, Grenzschutz so-wie Bekämpfung der organisierten Kriminalität) ist nachweisbar. Die europäischen Vorgaben und Abstimmungen wurden gerade in diesem Politikfeld sehr häufig von Deutschland maßgeblich forciert. Deutschland hat mit der Durchsetzung seines Verständnisses von organisierter Kriminalität und der zeitgleichen Thematisierung von Asyl- und Flüchtlingspolitik in der Vergangenheit die europäische Agenda geprägt. Eine Fortsetzung dieser Tendenz, nun im Bereich der Terrorismusbekämpfung unter zu Hilfenahme ,alter` Maßnahmen gegen die organisierte Kriminalität sowie massiver Datenspeicherungs- und Überwachungsbefugnisse, zeichnet sich ab.

Die Angleichungs- und Harmonisierungsbemühungen werden gerade im Bereich Terrorismus und organisierte Kriminalität intensiviert, europäischer Haftbefehl und Schengen-Visa stehen beispielhaft für den direkten europäischen Eingriff in bislang nationale Angelegenheiten.

Europäisierung in diesen Bereichen ist so-mit zuerst als Durchsetzung deutscher Politiken in Europa und erst im zweiten Schritt als Europäisierung deutscher Politiken anzusehen. Dabei wurde vor allem eine angleichende Verpolizeilichung des nationalen Strafrechts und -verfahrens betrieben, wenngleich die einzelnen Initiativen eher als Handlungsrahmen denn als klare Vereinbarung zu verstehen sind.

Mit der Arbeitsaufnahme von Europol und Eurojust sind zwei wichtige von Deutschland geforderte Institutionen der Zusammenarbeit etabliert worden, die bereits seit längerem bestehende Kooperationen auf den unteren Ebenen nun in eine feste Form bringen. Deutschland und Frankreich sind hier einmal mehr die treibende Kraft und drängen auf eine weitere Europäisierung. Kein Wunder also, dass die Nutzung gemeinsamer Einrichtungen überhäufig durch diese beiden Staaten erfolgt. So wurden bislang 95 Prozent der Daten, die im Schengen-Informationssystem SIS enthalten sind, von Deutschland und Frankreich eingespeist.

Nur aus dieser Ursachenlage heraus kann man in Deutschland von einer vergleichsweise starken Europäisierung der untersuchten Politikbereiche sprechen (vgl. Bukow 2005; Glaeßner et al. 2005). Denn im Endeffekt ist die deutsche Innen- und Sicherheitspolitik, hinsichtlich ihrer selektiven Umsetzung getroffener Vereinbarungen vorrangig eine von nationalstaatlichen Interessen geprägte Angelegenheit eines „Kerneuropas” auf der Ebene einer intensivierten Regierungszusammenarbeit. Dabei kann sie unter den Bedingungen eines zusammenwachsenden Europas keine rein nationalstaatliche Angelegenheit mehr sein — was mit einer Europäisierung im engeren Sinne jedoch nicht gleichzusetzen ist.

Debatten um die Grundausrichtung der Innen- und Sicherheitspolitik, um das Verhältnis von proaktiven bzw. präventiven und repressiven Maßnahmen und um deren Verhältnismäßigkeit bzw. Notwendigkeit werden somit der Öffentlichkeit entzogen. Politische Grundsatzentscheidungen werden in Arbeitsgruppen oder auf Exekutivebene getroffen. Dass dies zu Defiziten in der Kontrolle und demokratischen Legitimation der zunehmend in die Grundrechte eingreifenden Ermittlungsverfahren führt, ist ein europäisch-institutionelles Problem, das nationalstaatlich zu verantworten ist. Die institutionellen Rahmenbedingungen und die Verankerung in der dritten Maastricht-Säule erfolgten durch die nationalen Regierungen durchaus bewusst, die genannten Folgen waren dabei intendiert oder wurden zu-mindest billigend in Kauf genommen. Problematisch dabei ist, dass durch die Verzögerung und das mögliche Scheitern des Verfassungsprozesses eine Wahrung von Freiheitsrechten auf europäischer Ebene weiterhin weder institutionell und normativ fest verankert ist.

Die Bundesrepublik Deutschland kann unabhängig von der Regierungszusammensetzung als ausgesprochen aktiver Antreiber gelten, zuletzt bei der Einführung biometrischer Ausweise. Im gesamten Bereich der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit zeigt sich, dass in Deutschland die Wünsche der Ermittlungsbehörden7 und des Innenministeriums häufig über den Umweg Europa durchgesetzt werden. Die angestrebte Transformation des liberalen Rechtsstaates in einen überwachenden Präventionsstaat ist dabei ein nationalstaatlich weitgehend selbst bestimmter, politisch gewünschter und zugleich doch in Europa nicht einzigartiger Prozess. Dem Staat stünden dabei, legitimiert durch vermeintlich europäische und internationale Notwendigkeiten, kaum mehr Handlungsspielräume offen, sich diesem Trend zu widersetzen – so zumindest die gängige Argumentation zur Durchsetzung dieser neuen alten Politik.

Schutz- und Freiheitsrechte verlieren dabei, wie eingangs gezeigt, massiv an Bedeutung. Eine grundrechtsschonende Politikumsetzung wird zugunsten der Schaffung von mehr Sicherheit in den Hintergrund gedrängt. Die verfassungsgerichtlich angemahnte informationelle Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger rückt in weite Ferne. Das gesellschaftlich tief verankerte Bedürfnis nach allumfassender Sicherheit wurde dabei von Seiten der Politik aufgegriffen und so kann mit Zygmund Bauman (2005) festgestellt werden: „Der Sozialstaat ist zum Sicherheitsstaat geworden”. Ob jedoch tatsächlich mehr Sicherheit geschaffen wurde und ob dabei vor allem die rechtstaatlich notwendige Verhältnismäßigkeit gewahrt wurde, muss zumindest hinterfragt werden.

[1]„Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union“, BGBl I 2004 Nr. 38 S. 1748, 26.07.2004.
[2] Diese sind: Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Korruption, Geldwäsche, Geldfälschung, Cyberkriminalität, Umweltkriminalität, Beihilfe zu illegaler Einreise und illegalem Aufenthalt, Mord, schwere Körperverletzung, illegaler Organ-und Gewebehandel, Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme , Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Diebstahl in organisierter Form und schwerer Raub, illegaler Handel mit Kulturgütern, Betrugsdelikte, Erpressung und Schutzgelderpressung, Produktpiraterie und Nachahmung, Fälschung von und Handel mit amtlichen Dokumenten, Fälschung von Zahlungsmitteln, illegaler Handel mit Hormonen und Wachstumsförderern, illegaler Handel mit nuklearen und radioaktiven Substanzen, Kraftfahrzeugkriminalität, Vergewaltigung, Brandstiftung, Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen, Flug-zeug- und Schiffsentführung sowie Sabotage. In diesen Fällen sollten die Bestimmun-gen des Europäischen Haftbefehls angewandt werden, so dass nur noch das zuständige Gericht eines EU-Mitgliedstaats über die Auslieferung der Verdächtigen entscheiden muss. Die Justizministerien müssen die-se Entscheidung dann nicht mehr bestätigen.
[3] TREVI (Terrorism, Radicalism, Extremism, Violence International) bezeichnet die erste intergouvernementale Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit, die allerdings ausdrücklich außerhalb des EG-Regelwerks stattfand.
[4] Wenngleich eine gemeinsame Definition, was überhaupt als Terrorismus (und nicht z.B. als legitimer Freiheitskampf) zu werten ist, sehr lange auf sich warten ließ: Erst am 13. Juni 2002 trat eine Rahmenentscheidung des EU-Ministerrates in Kraft.

Damit hat sich die EU 27 Jahre nach TREVI erstmals auf eine gemeinsame Terrorismus-Definition verständigt.
[5]Erste Säule: Europäische Gemeinschaften (EG); Zweite Säule: Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP); Dritte Säule: Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS)
[6] Und dies nicht nur innerhalb der EU, sondern vor allem auch zwischen EU und USA,
sichtbar z.B. im Austausch von Daten und der Einsetzung von Verbindungsbeamten bei Europol, Eurojust und den US-amerikanischen Sicherheitsbehörden.
[7] Hier muss allerdings angemerkt werden, dass gerade die Praktiker in den Ermittlungsbehörden – wenn überhaupt – weitere Befugnisse nur zurückhaltend fordern, da schon jetzt die Verarbeitungskapazitäten überlastet sind und Zweifel an der Nützlichkeit weiterer Maßnahmen bestehen.

Literatur

Baldus, Manfred 2003: Präventive Wohnraumüberwachung durch Verfassungsschutzbehörden der Länder – Ein gesetzestechnisch unausgegorenes und verfassungsrechtlich zweifelhaftes Mittel zur Terrorismusbekämpfung?; in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 22. Jg., H. 11, 5.1289-1296
Bukow, Sebastian 2005: Deutschland: Mit Sicherheit weniger Freiheit über den Umweg Europa; in: GlaefJner, Gert-Joachim/Lorenz, Astrid: Europäisierung der inneren Sicherheit. Eine vergleichende Untersuchung am Beispiel von organisierter Kriminalität und Terrorismus, Wiesbaden, S. 43-62
Dietl, Wilhelm 2002: Terrorismus gestern und
heute; in: Politische Studien 53, S. 23-41
Glaeßner, Gert-Joachim/Lorenz, Astrid 2005: Europa und die Politik der inneren Sicherheit; in: Glaeßner, Gert-Joachim/Lorenz, Astrid: Europäisierung der inneren Sicherheit. Eine vergleichende Untersuchung am Beispiel von organisierter Kriminalität und Terrorismus, Wiesbaden, S. 21-41
Glaeßner, Gert-Joachim/Lorenz, Astrid/Bauklol2, Anja C. 2005: Vergleichende Beobachtungen zur Europäisierung der inneren Sicherheit; in: Glaeßner, Gert-Joachim/Lorenz, Astrid: Europäisierung der inneren Sicherheit, Wiesbaden, S. 245-272
Hein, Kirstin 2004: Die Anti-Terrorpolitik der rot-grünen Bundesregierung; in: Harnisch, Sebastian/Katsioulis, Christos/Overhaus, Marco: Deutsche Sicherheitspolitik. Eine Bilanz der Regierung Schröder, Baden-Baden, S. 147-151
Hirschmann, Kai 2004: Risiken II. Internationaler Terrorismus als sicherheitspolitische Herausforderung; in: Rinke, Bernhard/4Voyke, Wichard: Frieden und Sicherheit im 21. Jahrhundert, Opladen, S. 77-100
Hoffinann-Riem, Wolfgang 2001: Wider die Geistespolizei; in: Die Zeit, 50/2001 vom 6. Dezember
Knelangen, Wilhelm 2005: Die Europäische Union und die Bekämpfung des Terrorismus; in: Möllers, Martin H. W./van Doyen, Robert Chr.: Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2004/2005, Frankfurt/Main, S. 403-413
Peters, Helge 1998: Die Inszenierung ,Innere Sicherheit‘ – zur Einführung in das Thema; in: Hitzler, Ronald/Peters, Helge: Inszenierung: Innere Sicherheit. Daten und Diskurse, Opladen, S. 9-24
Rau, Markus 2004: Country Report on Germany; in: Walter, Christian/Vöneky, Silja/Röben, Volker: Terrorism as a Challenge for National and International Law: Security versus Liberty?, Berlin u.a., S. 311-362
Tlanam, Bernd Georg 2002: Terrorismus. Ein Handbuch über Täter und Opfer, Hilden/Rhd.
Internet-Quellen
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2005: Europäisches Haftbefehlsgesetz nichtig, Pressemitteilung Nr. 64/2005 vom 18. Juli 2005 zum Urteil vom 18. Juli 2005 (2 BvR 2236/04),
httpa/www.bundesverfassungsgericht.de/bve rfg_cgi/pressemitteilungen/bvg05-064, 10.08.2005
Bundesministerium für Inneres Österreich (BMI AT) 2005: Öffentliche Sicherheit: Das Magazin des Innenministeriums, Nr. 1-2/2005 Jänner-Februar,
httpa/www.bmi.gv.atloeffentlsicherheit/2005 /0l_02/artikel_2.asp,15.08.2005
Bauman, Zygmund 2005: Ende der Politik? In Zeiten der Angst. Zygmund Bauman im Gespräch mit Stefan Fuchs; in: Deutschlandradio, Kultur am Sonntagmorgen, 14. August 2005, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/ kultursonntag/393705/

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