Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Verzicht und Hingabe

Ein neues progressives Projekt

aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3/4/2005 ), S.5-8

Der Herr gegenüber, der die Brauen nach oben zieht, ein dünnes Lächeln um den grau-melierten Schnauzbart spielen lässt und mit einer wegwerfenden Handbewegung bemerkt: „,Links` oder ,rechts` – das sind doch ausgeleierte Begriffe, längst überlebt, die mit unserer Wirklichkeit nichts zu schaffen haben. Sie besagen nichts über die Dynamik‘ der Globalisierung, nichts über die Revolutionierung unseres Alltags durch die Informatik, nichts über die Ideologie des Terrors…”

Jener Herr hat so Unrecht nicht – und dennoch gibt er sich, ganz unfreiwillig, als ein „rechter” Geist zu erkennen, konservativ oder liberal-konservativ, vielleicht auch nur „wert-konservativ” gestimmt (um den schwammigsten aller Modebegriffe zu zitieren). Für einen Linken, der den Namen verdient, ist der Verzicht auf die Grundkategorien der Französischen Revolution (die sich – eher zufällig – aus der Sitzordnung der Fraktionen des Nationalkonvents ergaben) bis auf den heutigen Tag völlig undenkbar, ja er grenzte an jenen Frevel, den auch der gottloseste aller Republikaner als „sündhaft” bezeichnen würde.

Aber was heißt „links” im Anbruch des 21. Jahrhunderts? Wer sind die „Linken”? Warum beharren sie auf dem Wort, die eher hageren, zur bleichen Strenge neigenden Damen und Herren, die lieber als Männer und Frauen tituliert werden oder noch immer als Genossinnen und Genossen? Ist die Vokabel nur ein Korsett, das ihren schwanken-den Seelen eine gewisse Stütze bietet? Vermittelt es ihnen die Gewissheit – oder die Illusion? – einer halbwegs zuverlässigen Grundordnung ihrer Weltanschauung? Damit eine moralische Wertung, die den Linken eine Art Gutmenschentum sichert? Und ihnen ein besseres Gewissen verschafft?

Nein, wir reden nicht von den Linksreaktionären ä la Lafontaine, den Antieuropäer und Bundesgenossen der Bonzen von der ostdeutschen Heimat- und Nostalgiepartei PDS, in der ein gewitzter Geist wie Gregor Gysi eine Ausnahme-, in Wirklichkeit eine Rand-Erscheinung ist. Wir reden von der Linken, die nicht im Schatten des korrupten Post Stalinismus gedieh. „Links” bedeutete nach den simplen Regeln der Französischen Revolution: die Sache des Volkes zur eigenen zu machen, seine Rebellion gegen die Obrigkeit, seine Forderung von Lohn und Brot und einem gerechten Anteil am Segen der Erde. „Links” hieß: die Partei der Schwachen zu ergreifen, der Entrechteten, der Unterdrückten, der zu Kurz gekommenen. Der Frauen, denen das gleiche Recht, nämlich das der Männer, durch Jahrtausende vorenthalten wurde. Der Kinder, denen der Zugang zur Welt der Bildung nur in Glücksfällen gewährt war: ein Schlüsselproblem für die Linke, die als ein Geschöpf der Aufklärung in die Welt trat. Als Partei der Verfolgten, die einer anderen Religion als die Mehrheit anhängen, nach anderen Neigungen und Sitten leben (wie die Schwulen), eine andere Haut durchs Leben tragen, einer anderen Rasse zugehören. Wer „links” war, strebte nicht nur nach Freiheit, sondern auch nach Gleichheit (zumindest der Lebenschancen) und nach einer Gerechtigkeit, die im Prinzip der Gleichheit begründet ist. Kein Zweifel: Die „Linken” waren – oder sind? – sozusagen die besseren Menschen, die genauer als andere wissen, was der Menschheit zum Guten dient.

Links gleich Forts­chritt?

Geeichte Konservative beginnen bei diesen Stichworten nervös an ihren Bärten zu zupfen, und sie fragen — wiederum nicht völlig zu Unrecht —, ob sich mit diesem Anspruch nicht eine Arroganz offenbart, die sich durch den — in der Regel unaufhaltsamen – Prozess der Radikalisierung totalitär zu verfestigen droht. Sie weisen darauf hin, dass der linke Moralismus allzu oft — ja, nahezu immer – zur Diktatur einer Elite pervertierte: ob in Lenins oder Stalins Reich, ob in den Herrschaftsbezirken ihrer Satrapen, ob in Maos rotem Imperium, ob in Castros Kuba. Im übrigen, fügen sie hinzu, seien die Grundforderungen der historischen Linken längst erfüllt. Bismarck, der konservative Revolutionär, habe schließlich als erster ein System der sozialen Sicherung für die Alten und Schwachen etabliert.

Wohl wahr. Doch aus freien Stücken schuf der intellektuelle Junker den Sozialstaat nicht, sondern um die gefährlich wachsende Sozialdemokratie zu bändigen (was ihm nicht gelang) und die sozial bewegten Katholiken dazu. In der Tat hat seitdem – von den Katastrophen der rechten Diktaturen und ihren Kriegen nur aufgehalten – die Sozialdemokratie die Ideale ihrer Gründerväter und Gründermütter auf dem Weg der Evolution in unserer Gesellschaft fest verankert. Die elementaren Errungenschaften des Sozialstaates werden auch von der liberalen und konservativen Rechten kaum mehr angefochten. Man kann – mit dem Blick auf die deutsche Parteienlandschaft, aber auch die unserer Nachbarn im Westen – von einer Sozialdemokratisierung Europas reden, der die Christdemokraten keineswegs entgingen. Umgekehrt haben sich die Sozialdemokraten vom Irrglauben der ökonomischen Befreiung durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel schon vor Jahrzehnten gelöst, auf die Verplanung der Wirtschaft verzichtet und sich — in Grenzen – dem Gesetz des Marktes und des freien Spiels der Kräfte geöffnet.

Warum aber leben wir – dank des klugen Kompromisses, dem sich unsere Gesellschaft unterwarf — nicht in der besten aller Welten? Das ist offensichtlich nicht der Fall, da wir mit einer Krise des Systems konfrontiert sind. Wie bringt ein Linker es zuwege , links zu sein, da der Sozialstaat die Schranken der Vernunft durchbrach, die einst bestimmten, dass der soziale Haushalt durch die Produktivität der Wirtschaft gedeckt sein müsse? Kann linker Widerstand die Revolutionierung der Gesellschaft durch die globale Freiheit der Kapitalflüsse aufhalten? Ohne sich in einen sterilen Protektionismus zu flüchten, in dem wir am Ende allesamt ersticken würden? Wie kann sie. unsere (teuren) Arbeitsplätze schützen? Wie den Lebensstandard, der uns zu kostbaren Gewohnheit wurde, auf die Dauer verteidigen? Ist eine Linke, die vor allem defensiv reagiert, denn noch wahrhaft links? Was, wenn die Formel „Links gleich Fortschritt”, die an die zwei-hundertfünfzig Jahre galt, außer Kraft gesetzt wäre?

Jenseits des Natio­nal­staats: Europa als linkes Projekt

Überdies waren die Ideen der Linken – Rechtsstaat, Demokratisierung und sozialer Ausgleich – von Beginn an mit dem Nationalstaat verknüpft, der mit der Französischen Revolution die Ordnung der Völker zu bestimmen anfing – und prompt, fast noch im Auftakt der Revolution, von einem fanatisierten Nationalismus überrannt wurde. Die Ideale des Nationalismus und des Sozialismus waren in der Tat nicht nur in der verlogenen Perversion des Nazismus miteinander verkettet. Zwar sangen die Linken aus vollem Halse ihre Internationale, doch ihr Bekenntnis zur „internationalen Solidarität” blieb blass und abstrakt, und es wurde, wenn Krieg und Notstand drohten, für gewöhnlich ohne Zögern dem Nationalismus geopfert.

Diese deprimierende Einsicht könnte ein erster Schritt zum Wandel der Linken sein: von ihr ist, wenn sie nicht untergehen will, die entschlossene Befreiung aus der nationalen und nationalstaatlichen Isolierung gefordert. Die Europäische Gemeinschaft, die uns das Elend eines zweiten Versailles und damit wohl auch einen dritten Weltkrieg er-sparte, war ein Werk christlich-konservativer Staatsmänner vom Schlage Konrad Adenauers, Robert Schumans, Alcide de Gasperis – hinter ihnen das planende Genie des (eher liberalen) Technokraten Jean Monnet. Die Sozialdemokraten und Sozialisten bekehrten sich erst mit einer schuldhaft-verbohrten Verspätung zu Europa. Unterdessen verstanden auch sie – wenngleich nicht ausnahmslos: siehe die Spaltung der französischen Sozialisten –, dass es den Großraum eines regierungsfähigen Europa braucht, um den Zyklonen der Globalisierung zu widerstehen: die Macht des Marktes von annähernd vierhundert Millionen Bürger, ihre Produktivität, ihren Innovationsgeist, ihre Konsumfähigkeit, die durch gute, doch härter erarbeitete Löhne, durch eine Verlängerung der Arbeitszeit, eine Erhöhung des Pensionsalters und damit durch gesicherte Renten zu garantieren ist. Linke Progressivität heißt: Europa. Die Alternative ist die Zermürbung der Gesellschaft in den Stürmen der Globalisierung.

Es nimmt sich absurd aus, aber es ist die Wahrheit: Links sein, fordert die Einsicht, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben (fast alle, nicht nur die Millionäre); dass der Sozialstaat ein Objekt der Plünderung wurde (zumal für die Schlauköpfe, die auf ihn am wenigsten angewiesen waren); dass wir – alles in allem – zu faul und zu bequem geworden sind.

Links sein kann darum fürs erste bedeuten, den Gürtel enger zu schnallen, wenn wir uns an ihm nicht aufhängen wollen. Links heißt: Rettung des Sozialstaates durch Opfer und Verzicht – und zwar, im Rahmen des Vernünftigen, aller Schichten (der reichen, es versteht sich, mehr als der ärmeren). Links sein heißt: Freiheit der Dienstleistung, auch in Berufen, die wir zu lange hochmütig gemieden haben, ob in Hospitälern, in den Haushalten, der Kindererziehung oder der Hilfe im Alltag der Alten, der Schwachen, der Kranken. Links sein heißt: die Sicherung der Zukunft durch eine revolutionäre Steigerung der Mittel für Bildung und Forschung. Links sein heißt auch: die Verjüngung unserer Gesellschaft durch eine gesteuerte Einwanderung (nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten), die Öffnung für Menschen anderer Kulturen und Rassen. Links sein heißt Bereitschaft zur Integration der Fremden, die unsere traditionelle Kultur bereichern – und denen sich zugleich der Reichtum unserer Geschichte, unserer Religionen, unserer Künste mitteilt. Links sein heißt: Offenheit, Pluralismus, Toleranz, Leistungswille – und die Wiederentdeckung sozialer Pflichten: nicht nur des Staates, sondern seiner Bürger, also der unseren, der eigenen. Links sein heißt, nach dem Wort Willy Brandts: compassion – Mitleidenschaft. Linkssein heißt: die Freiheit des Einzelnen als den wichtigsten der Werte zu betrachten, die uns anvertraut sind. Keine Freiheit auf Kosten des Nächsten, dessen Rechte nicht geringer sind als die unseren. Eine Freiheit, die nicht der Gleichheit geopfert werden darf, aber gleiches Recht voraussetzt. Freiheit, die nicht für den Moloch einer trügerischen Sicherheit dahingegeben werden darf, nach dem Gesetz der Pawlowschen Hunde den Erpressungen der Freiheitsfeinde gehorsam. Weil wir uns Tag für Tag daran erinnern sollten, daß es Freiheit ohne die Bereitschaft zum Risiko nicht gibt.

Das ist links. Progressiv. Liberal im amerikanischen und im altbürgerlichen Verständnis des Wortes. Wenn es denn sein muss: auch „wertkonservativ”.

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