Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Links und frei

Strategische Herausforderungen für eine aufgeklärte Sozialdemokratie

aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3/4/2005 ), S.28-33

Die Wiederkehr der Sozialdemokratie im Herbst letzten Jahres glich dem Aufstieg des Phönix aus der Asche. Geschmäht, in den Umfragen auf 24 Prozent tariert und publizistisch verhöhnt, glaubte im Mai 2005, als Gerhard Schröder seine umstrittene Neuwahl-Entscheidung traf, niemand daran, dass die SPD in den nächsten Jahren eine große Zukunft in Deutschland hätte. Dann kam der 18. September. Er bescherte der Partei zwar keinen fulminanten Wahlsieg, aber doch ein respektables Ergebnis. Der Triumph, die Partei aus dem Umfragekeller geholt zu haben, war freilich nicht mehr als ein Zwischenhoch. Das ungeschickte Agieren des scheidenden Kanzlers am Wahlabend, vor allem aber einige Wochen später der überraschende Rücktritt des Parteivorsitzenden Müntefering, des eigentlichen Stabilitätsgaranten der SPD, stürzten die älteste deutsche Partei in tiefe Verunsicherung und eine handfeste Führungskrise. Mit dem Verlust des Kanzleramts und des Parteivorsitzenden schien der Erosionsprozessler SPD unaufhaltsam.

Umso erstaunlicher, wie stabil sich die SPD Anfang 2006 darstellt. Den Sozialdemokraten ist es fast lautlos gelungen, einen Führungswechsel zu bewerkstelligen und einer neuen Regierungskoalition beizutreten. Müntefering sitzt als unangefochtener Vizekanzler fest im Sattel, während Matthias Platzeck als Parteivorsitzender, nachdem er mit einem Traum-Ergebnis ins Amt gewählt wurde, umgehend die internen Diskussionen beendete und die Partei auf eine gemeinsame Linie verpflichtete. Das Tempo und die Geschmeidigkeit, mit denen der Wechsel vollzogen wurde, waren geradezu atemberaubend.

Doch zu glauben, dass damit schon alles ausgestanden sei, die ausgeblutete Schröder-SPD sich nunmehr quasi automatisch revitalisiere, wäre naiv. Zu viele unaufgelöste Spannungen und Widersprüche werden der Sozialdemokratie in den nächsten Jahren das (Mit)Regieren schwer machen. Dennoch besteht die Chance, die verschiedenen Fliehkräfte so zu kanalisieren, dass am Ende tatsächlich eine erneuerte Sozialdemokratie selbstbewusst in den Wahlkampf 2009 geht. Doch welche Hürden sind bis dahin zu überwinden? Hier sollen zumindest einige Problemfelder  aufgezeigt und kurz beleuchtet .

1. Heimliche Opposi­ti­ons­sehn­sucht und die Mühsal des Regierens

Unter vielen Sozialdemokraten bestand in den letzten Jahren von Rot-Grün eine heimliche Sehnsucht nach der Opposition. Die Verkündigung der ständigen schlechten Nach-richten einfach „den anderen” überlassen und selbst an attraktiven Gesellschaftsvisionen arbeiten – das ist ein Politikstil, den die SPD sich zwischen 1982 und 1998 gründlich antrainiert hat und der sich gerade an der Basis immer noch großer Beliebtheit erfreut. Der polarisierende Wahlkampf hat in den Reihen der SPD die Abneigung gegen die CDU noch einmal verstärkt, und viele Mitglieder sind zwar rational, nicht aber emotional davon überzeugt, dass die Partnerschaft mit der CDU/CSU eine gute Lösung ist.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch offen, wie sozialdemokratisch die Große Koalition geprägt sein wird. Zwar gelang es der SPD, in den Koalitionsverhandlungen viele ihrer Inhalte durchzusetzen und eine Reihe von Schlüsselressorts zu besetzen, doch das Kanzleramt mit seiner zentralen Steuerungskompetenz und die für Fragen der gesellschaftlichen Modernisierung wichtigen Ressorts für Forschung, Wirtschaft und Familie sind in den Händen der Union. Momentan profitiert die SPD noch von dem Schock, den das überraschend schlechte Wahlergebnis in den Reihen der CDU ausgelöst hat. Doch wenn die Christdemokraten erst mit Selbstbewusstsein regieren, kann die sozialdemokratische Prägemacht in der Koalition schnell dahinschwinden. Die SPD könnte dann in die Situation kommen, in der die CDU die Innovations- und Modernisierungsthemen für sich verbucht, während die SPD mit ihren Ressorts für Kürzungen und Einschnitte steht. Eines der zentralen Streitthemen des Wahlkampfs, die Gesundheitsreform, hat der Koalitionsvertrag ausgeklammert. Spätestens wenn dieses Thema auf die Tagesordnung kommt, wird sich die Machtfrage in der Großen Koalition offen stellen. Für die SPD ist gerade dieses Thema, anders als für die CDU, eine die Identitäten Grundfesten tangierende Frage. Es wird für sie existenziell sein, wie viel von ihren Vorstellungen sie durchsetzen kann.

Weitgehend unklar ist ebenso noch, wie der Politikstil der Großen Koalition aussehen wird, wie sich die zwangsweise Partnerschaft ausgestaltet. Begreifen die beiden Parteien ihre Zusammenarbeit als antagonistische Kooperation und pflegen einen vertrauten Umgang miteinander, besteht für die SPD als Juniorpartnerin die Gefahr, nicht hinreichend als eigenständige Kraft wahrgenommen zu werden. Setzen SPD und Union dagegen auf Konflikt, besteht die Gefahr, dass die SPD ihre Ziele nicht durchsetzen kann, somit öffentlich als Verlierer dasteht und den Bestand des Bündnisses gefährdet. In der Praxis dürfte sich wohl eine Mischung aus beiden Strategien durchsetzen. Damit läuft die SPD erst recht Gefahr, als unberechenbar dazustehen und Konflikte zunächst hochzuspielen, um sich dann auf Formelkompromisse zu einigen – ein Politikstil, der, obwohl funktional notwendig, von der Bevölkerung ganz und gar nicht goutiert wird.

2. Regierungs- versus Partei-­Partei

Eine zweite zentrale Frage berührt das Verhältnis von Partei und sozialdemokratischen Regierungsmitgliedern. Die SPD ist hier auf doppelter Ebene zum Erfolg verdammt: Sie muss gut und effizient regieren, und sie muss gleichzeitig als Partei mehr bieten als die bloße Regierungsbeteiligung. Hier tut sich ein potenzielles Konfliktfeld auf: während die von Müntefering geführte Riege der sozialdemokratischen Minister vor allem im Zeitrahmen der laufenden Legislaturperiode agiert, beginnen in der Parteizentrale die ersten Überlegungen für das Wahljahr 2009 und die hierfür notwendigen Weichenstellungen.

Die gescheiterte Kandidatur von Andrea Nahles als Generalsekretärin stand für den Versuch, die Partei als selbstbewusste Institution neben der Regierung zu positionieren. Der damalige Parteivorsitzende Müntefering wollte dies verhindern. Ihm schien die Absicherung des Regierungshandelns in die Partei hinein als zentral. Die Wahrheit dürfte, wie so oft, in der Mitte liegen: weder darf die SPD, wie etwa zu den Spätzeiten Helmut Schmidts, das Gegenteil von dem beschließen, was die Regierung plant, noch darf sie zu einem bloßen Akklamationsapparat der Regierung verkommen. Stellt man in Rechnung, dass das Regierungshandeln in den kommenden vier Jahren durch ständige Kompromisse geprägt sein wird, wird deutlich, wie dringend die Partei programmatische Visionen und Politikentwürfe entwickeln muss, um die sozialdemokratische Identität zu erhalten und nach außen zu kommunizieren.

Im Hinblick auf 2009 kann man schon jetzt prognostizieren, dass nicht die sozial-demokratische Regierungsriege den Mittelpunkt des politischen Angebots der SPD bilden wird. An die Stelle eines rein gouvernementalen Wahlkampfs, wie er 2002 und 2005 aus dem Kanzleramt geführt wurde, wird eine Doppelstruktur aus Protagonisten der Partei und den Reihen der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder treten, wobei abzusehen ist, dass die Partei eine zentrale Rolle spielen wird. Folglich muss sie bis da-hin organisatorisch aufgestellt, programmatisch aufgeladen und politisch handlungsfähig gemacht werden.

Dies setzt eine agile, vitale und diskussionsbereite Parteistruktur voraus. Doch die ist nach sieben Jahren Regierung nicht mehr vorhanden. In den letzten fünfzehn Jahren hat die SPD rund 300.000 Mitglieder eingebüßt. Sie ist zwar immer noch die größte Volkspartei Europas, doch unter den verbliebenen 600.000 Genossinnen und Genossen ist vor allem Erschöpfung zu beobachten. Dem späten Wahlsieg von 1998 folgte kein umfassender gesellschaftlicher Aufbruch, wie er in den langen Oppositionsjahren herbeiphantasiert worden war; der nur unzureichend kommunizierte Agenda-Prozess hat die Partei durch alle Ebenen hindurch verschlissen und aufgebraucht. Erstaunlich, mit welcher Disziplin sich die Partei noch durch das Mega – Wahljahr 2005 gekämpft hat — doch jetzt sind die Akkus aufgebraucht.

Die neue Parteiführung muss also die SPD neben der Regierung neu erfinden, ohne ihr dabei in den Rücken zu fallen. Voraussetzung für eine Rückeroberung des Kanzleramtes 2009 ist eine erneuerte Partei. Ob hierfür eine Organisationsreform notwendig ist,bleibt vorerst offen. Der neue Bundesgeschäftsführer Martin Gorholt verneint dies, kündigt aber gleichzeitig an, neue Formen der „Unterstützer-Mitgliedschaft” einzuführen, welche es Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten erlaubt, mit, in und für die Partei tätig zu sein, ohne sich in das traditionelle Leben der Ortsvereine einzufügen.

Not tut sicherlich eine Neuvermessung der sozialen Milieus und Unterstützer-Schichten der SPD. Die letzte entsprechende Studie über sozialdemokratische Lebenswelten und die mit ihnen zusammenhängenden sozio – ökonomischen Trägerschichten stammt aus den 1980er Jahren. Alle Versuche danach, das sozialdemokratische Terrain neu zu definieren — man denke nur an die „neue Mitte” — blieben nebulös und soziografisch unfundiert. Ein Wahlsieg 2009 aber setzt voraus, dass die Partei weiß, welche gesellschaftlichen Schichten und Milieus sie eigentlich umwerben muss.

3. Auf der Suche nach einem neuen Profil

In Bewegung geraten ist auch das inhaltliche Profil der Partei. Seit 1990 hatte es vor allem aus zwei verschiedenen Koordinatensystemen bestanden: Da war auf der einen Seite die Trennung zwischen Rechten und Linken (institutionell verkörpert durch die beiden Lager Seeheimer Kreis und Parlamentarische Linke), auf der anderen die (teilweise, aber nicht durchgehend der institutionellen Zuordnung folgende) Unterscheidung zwischen traditionsbewussten Bewahrern der Sozialstaats und eher wirtschaftsliberalen Modernisierern. Irgendwo dazwischen agierte seit Ende der 1990er Jahr das Netzwerk, ein Zusammenschluss jüngerer pragmatischer Sozialdemokraten. In den Wirren der Agenda-Politik haben sich diese Pole und Positionen mehrfach verschoben. Franz Müntefering, eigentlich ein Traditionalist, machte sich als Generalsekretär im Sommer 2003 die Agenda 2010 zu eigen und ihre Durchsetzung in der SPD zu seiner eigentlichen Aufgabe als Parteivorsitzender. Im Mai 2005 initiierte er dann die von Bevölkerung und Medien überrascht aufgenommene Kapitalismus Debatte, die aus Sicht vieler Kommentatoren eine partielle Abkehr von der bisherigen Angebots-Politik der Bundesregierung bedeutete.

Heute zeichnet sich in der SPD eine stärkere Betonung des traditionellen Wertes von sozialer Gerechtigkeit ab, als sie von der Schröder-Regierung verfolgt wurde. Wie aber diese diffuse Linkswende jenseits von den mit der CDU verabredeten Korrekturen an Hartz IV programmatisch und politisch umgesetzt werden soll, ist noch weitgehend offen. Die Bundestagswahl hat zumindest gezeigt, dass die traditionelle Stammwählerschaft der SPD von der Partei nach wie vor erreicht werden kann, hierfür aber eine Thematisierung von Gerechtigkeitsfragen unerlässlich ist.

Mit der Wahl von Matthias Platzeck zum neuen Parteivorsitzenden ist das programmatische Spektrum der SPD noch einmal um eine neue Facette erweitert worden. Platzeck hat seinen letzten Landtagswahlkampf auch dadurch gewonnen, dass er gegen alle Widerstände die umstrittenen Hartz-Reformen als notwendig verteidigt hat. Von Schröder unterscheidet sich Platzeck aber dahingehend, dass er Fragen der Kommunität, der Existenzbedingungen einer solidarischen Gesellschaft, stärker betont. Wo Schröders auf Entstaatlichung angelegtes Agieren vielfach einfach Ausdruck von Pragmatismus war (nicht umsonst fand die von ihm initiierte Debatte über die Bürgergesellschaft wenig Widerhall), scheint Platzeck in der partiellen Rücknahme von staatlicher Steuerung auch zivilgesellschaftliche Freiheitszugewinne auszumachen. Er ist ein Aufklärer, kein Verteilungstechniker. Nicht so sehr gesellschaftliche Gruppen mit ihren Ansprüchen auf Teilhabe am Sozialprodukt als vielmehr der Einzelne als Individuum steht im Mittelpunkt seiner politischen Vorstellungen, die in den Forderungen nach Bildung und individueller Selbstbefähigung ihren Niederschlag finden. Peter Glotz hielt in seinen postum erschienenen Erinnerungen fest: „Für mich war die SPD (in dieser Reihenfolge) eine Partei der Aufklärung, des wissenschaftlichen Fortschritts, der Bürgerrechte und der sozialen Gerechtigkeit.” Für Platzeck dürfte ähnliches gelten: Er wird den „breiten, hellen Weg der Sozialdemokratie” nicht zum „Hohlweg der Sozialpolitik” (noch einmal Glotz) werden lassen. Genau auf diesen aber wurde die SPD unfreiwillig in den Auseinandersetzungen um Hartz

IV verengt.

Wann die Partei sich ein neues Grundsatzprogramm gibt, welches das veraltete Programm von 1989 ablöst, ist noch nicht entschieden. Vieles spricht dafür, jetzt nichts zu übereilen. Im Berliner Willy-Brandt-Haus liegen zwei Entwürfe in den Schubladen: einer, der unter der Ägide von Olaf Scholz als Generalsekretär entstanden ist, und ein zweiter, der unter Müntefering maßgeblich von Wolfgang Thierse verfasst wurde. Wann auch immer die Partei den Diskussionsfaden wieder aufnimmt, muss sie den neu-en Koordinaten Rechnung tragen. Die radikale Kapitalmobilität des 21. Jahrhunderts und der neue Schub der Globalisierung müssen ebenso berücksichtigt werden wie die Vergemeinschaftungsprozesse in der EU, der demografische Wandel, die Verschuldung der öffentlichen Hand sowie die seit zwanzig Jahren grassierende Massenarbeitslosigkeit. Vor allem aber muss die SPD die richtige Balance finden zwischen einem klaren Bekenntnis zum Wert der sozialen Gerechtigkeit (die nicht auf eine bloße Teilhabegerechtigkeit reduziert werden sollte) und der aus diesem Bekenntnis resultierenden Gefahr, sich mit einem sozialtechnokratischen Programm für die nächsten fünfzehn Jahre im 25-Prozent-Ghetto einzuschließen.

4. Die Linkspartei als Konkur­rentin

Die letzte große Herausforderung für die durch die Große Koalition in die politische Mitte verbannte SPD ist die Linkspartei.PDS. Noch ist fraglich, ob der Fusionsprozess aus WASG und PDS formal überhaupt gelingen wird. Klar ist aber auch, dass schon jetzt aus dem neuen Gebilde mehr entstanden ist, als die PDS im Osten und die versprengten Altlinken, Sozialdemokraten und Gewerkschafter im Westen vorher allein darstellten. Durch die Agenda-Politik der rot-grünen Bundesregierung hat sich im politischen Parteienspektrum eine Lücke aufgetan, die von den Strategen der PDS geschickt genutzt und organisatorisch untermauert wurde: Ein sozialistisches Projekt links der SPD erschien plötzlich nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig, um die Interessen der traditionellen Sozialstaatsbewahrer zu bündeln und parlamentarisch zu repräsentieren. Die Gründung der Linkspartei stellt nicht nur das „historische Bündnis” der SPD mit den Gewerkschaften in Frage, auch viele Intellektuelle zeigen offene Sympathie für das Projekt. Für die SPD ändert sich damit die politische Gemengelage. Sie muss sich künftig nach rechts und links gleichzeitig abgrenzen. Manche Versuche der Parteiführung, mit dem Phänomen Linkspartei umzugehen, waren bislang eher unbeholfen. Das Argument, bestimmte politische Forderungen seien unbezahlbar, zieht bei frustrierten Wählern genauso wenig wie der (ansonsten ja absolut berechtigte) Hinweis, dass man es bei Lafontaine und Gysi mit reichlich unsicheren Kantonisten zu tun hat.

Der richtige Umgang mit der neuen linken Konkurrenz muss noch gefunden werden. Letztlich kann die erzwungene Abgrenzung zur Linkspartei der SPD aber auch helfen, sich auf sich selbst zu besinnen: Da man der Linkspartei im Bereich des sozialpolitischen Populismus zumindest argumentativ nicht beikommen kann, ist die Sozialdemokratie gezwungen, neben der Gerechtigkeitsfrage ihre anderen Grundwerte zu betonen: Freiheit, Aufklärung und Fortschritt. In dem Maße, in dem ihr das gelingt, versichert sie sich auch ihrer eigenen Zukunft.

nach oben