Frankreichs Sozialistische Partei und der ständige Widerspruch von Reden und Handeln
aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3-4/2005), S.134-138
Nach nahezu einem Jahr krisenhafter interner Debatten hat Frankreichs sozialistische Partei (PS) bei ihrem Kongress im November 2005 in Le Mans die Grundzüge eines Regierungsprogramms verabschiedet. Der seit 1997 amtierende Erste Sekretär Francois Hollande wurde für weitere zwei Jahre in seiner Funktion bestätigt. Dass es Hollande gelang, in nächtelangen Diskussionen innerhalb der PS eine Synthese zu erreichen, in der sich die unterschiedlichen Strömungen wieder fanden, stärkte seine Position, die seit dem Nein der Franzosen zum EU-Verfassungsvertrag am 29. Mai 2005 von innen und außen angegriffen worden war.
Dieser Erfolg für Hollande macht ihn jedoch keineswegs automatisch zum Kandidaten der Sozialisten für die im Jahr 2007 anstehenden Präsidentschaftswahlen, denen kurz darauf auch die Wahlen für die Nationalversammlung folgen im Gegenteil. Denn bei dem Kongress in Le Mans kehrte mit dem ehemaligen Premierminister Laurent Fabius ein gewichtiger Gegenspieler in den Schoß der Partei zurück, den Hollande erst im Sommer aus der Parteiführung entfernt hatte, weil er sich über ein positives Mitgliedervotum zur EU-Verfassung hinweggesetzt und an vorderster Stelle die Kampagne für das Non angeführt hatte.
Neben Fabius profilierte sich der Ex-Wirtschafts- und Finanzminister Dominique Strauss-Kahn vor dem Parteikongress als weiterer Präsidentschaftskandidat. Jack Lang, Ex-Kulturminister, und Martine Aubry, ehemalige Sozialministerin und Bürgermeisterin von Lille, meldeten gleichfalls Ansprüche an. Die französischen Medien – und große Teile der Parteibasis – nennen als weiteren möglichen Bewerber um das höchste Staatsamt dazu noch Lionel Jospin, den von 1997 bis 2002 amtierenden Premierminister, dessen gescheiterte Präsidentschaftskandidatur gegen Jacques Chirac die PS in die tiefste Krise ihrer jüngeren Geschichte gestürzt hatte.
Denn mit diesem 21. April 2002 verbindet sich ein Trauma, aus dem sich Frankreichs Sozialisten bis heute nicht befreit haben. Jospin, der 1997 nach der von Präsident Chirac verfügten Auflösung der Nationalversammlung mit seiner pluralistischen Lin-ken aus PS, Grünen und Kommunisten die Regierungsverantwortung übernommen und fünf Jahre in der Kohabitation mit dem konservativen Staatschef überstanden hatte, scheiterte an diesem Tag bereits im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen. Der rechtsextremistische Führer der Front Nationale, Jean-Marie Le Pen, überflügelte ihn und kam neben Chirac in die Stichwahl. Noch am Wahlabend erklärte Jospin seinen Rücktritt von allen Funktionen und zog sich aus dem politischen Leben Frankreichs zu-rück – eine Entscheidung, die in der sozialistischen Partei Ratlosigkeit und tiefe Depressionen auslöste.
Um den Rassisten Le Pen an der Spitze des Staates zu verhindern, rief die PS zur Wahl Chiracs im zweiten Wahlgang auf. Sie befand sich damit in Übereinstimmung mit ihrer geschockten Wählerschaft und der öffentlichen Meinung im Land, was sich im Resultat niederschlug: Chirac erzielte mehr als 82 Prozent Zustimmung für seine zweite Amtszeit. Und dennoch: Dass die seit Mitte der 1980er Jahre größte Partei des Landes ihren Bewerber noch nicht einmal in die Stichwahl um die Präsidentschaft brachte und dann für den konservativen Staatschef Kampagne machte, um den Rechtsextremisten Le Pen vom Elysee-Palast fernzuhalten, lähmte die PS. Die von Chirac unmittelbar nach seiner Wiederwahl ausgerufene Sammlungsbewegung des bürgerlichen Lagers (UMP) für die Wahlen zur Nationalversammlung gewann diese mit einer überwältigenden absoluten Mehrheit.
Jospins Niederlage steht für eine Zäsur in der Geschichte der PS. Er wurde zwischen dem bürgerlichen Lager und dessen intelligent inszenierter Kampagne um innere Sicherheit einerseits und den anderen Kandidaten der Linken, die ihm Einschnitte in die Sozialsysteme und die Privatisierung staatlicher Betriebe vorwarfen, zerrieben. Mit ihm schien auch eine der beiden Hauptlinien gescheitert zu sein, die Frankreichs Sozialisten beim Kampf um Regierngsverantwortung in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben.
Modernisierer und Neo-Mitterrandisten
Der Parteihistoriker Alain Bergounioux und der Politologe Gerard Grunberg haben die-se beiden Linien in einem jüngst erschienenen Buch herausgearbeitet, das den programmatischen Titel Ehrgeiz und Gewissensbisse. Die französischen Sozialisten und die Macht (1905-2005) (L’Ambition et le Remords, Les socialistes francois et le pouvoir) trägt und bei Fayard erschienen ist. Nach ihrer Analyse stand Lionel Jospin für eine eher pragmatische Auflösung des ewigen Konflikts innerhalb der PS zwischen dem Reden und dem Handeln, zwischen der Ideologie einerseits und der Aktion einer Regierung. Er bestand darauf, die PS zur wirklichen Regierungspartei zu machen, sie zur Anerkennung der Realitäten in der Welt und in Europa zu zwingen und sich auf einen reformistischen Ansatz einzulassen, ohne die grundsätzliche Kritik an der Globalisierung und die Einheit der Linken aus den Augen zu verlieren. Einer seiner Kernsätze, die ihm aus der Partei, aber auch von der Linken insgesamt vorgehalten wurden, lautete: Der Staat kann nicht alles.
Auf der anderen Seite des innerparteilichen Spektrums finden sich die so genannten Neo-Mitterrandisten, die sich auf den bislang einzigen sozialistischen Präsidenten in der Fünften Republik berufen. Fran~ois Mitterrand hatte die Erfahrung aus der Vierten Republik verinnerlicht, in der die Sozialisten der damaligen Arbeiterinternationale (SFIO), der Vorgängerorganisation der PS, an eben diesem Konflikt zwischen dem Re-den und dem Handeln über lange Jahre gescheitert waren. Sie bekämpften mit de Gaulle und seiner Fünften Republik nicht nur die politische Rechte im Land, sondern auch die von ihm geschaffenen Institutionen und – natürlich – die kapitalistische Organisation der Wirtschaft und Gesellschaft.
Mitterrand war es, der zwischen 1971 und 1981 als Vorsitzender die Partei auf die Machtübernahme ausrichtete, in dem er als Priorität die Eroberung der Regierungsverantwortung definierte und bewusst die Kluft zwischen Doktrin und Machtausübung zuließ. Dabei hatte er zum einen die Funktion des Staatspräsidenten im Regelwerk der Fünften Republik im Auge, der – direkt gewählt – eine unmittelbar wirksame Autonomie von der ihn tragenden Partei erwirbt. Zum zweiten bereitete er die PS auf eine Regierung zumindest für die Dauer einer Legislaturperiode und damit für ein Reformprogramm vor, das auf Zeit angelegt war. Und zum dritten gelang es ihm, mit dem Einheitsprogramm für die Linke die zur damaligen Zeit deutlich stärkeren französischen Kommunisten auf seine Seite zu ziehen, was seinen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 1981 sichern sollte.
Während seiner beiden Amtszeiten bis 1995 transformierte sich die PS zu einer Regierungspartei, auch wenn drastische Veränderungen des Reformprogramms wie 1983 oder die vernichtende Niederlage bei den Parlamentswahlen 1993 den alten Konflikt immer wieder aufbrechen ließen. Zwar gelang es der PS unter seiner Führung, auf Dauer die Regierungsgeschäfte zu führen und eine Vielzahl von gesellschaftlichen Veränderungen anzustoßen. Zugleich aber unterblieb der tief greifende Umbau des kapitalistischen Wirtschaftssystems, der programmatisch nach wie vor gefordert war. Das führte innerhalb und außerhalb der PS zu heftigen Debatten, auch wenn insgesamt unbestritten war, dass die Sozialisten die Machtperspektive nicht mehr aus den Augen lassen sollten.
Jospin versuchte die Auflösung dieses Dilemmas, in dem er die Präsidialverfassung als unveränderlich akzeptierte und ihre Möglichkeiten nutzen wollte, eine neue Einheit der Linken, diesmal pluralistisch zusammengesetzt, schuf und den Willen der Sozia-listen zur Machtübernahme unterstrich. Dabei wich er einer Revisionismusdebatte aus, die – siehe die deutsche Sozialdemokratie und Bad Godesberg – die PS zur Aussöhnung mit dem Kapitalismus geführt hätte. Vielmehr entwickelte er eine neue Doktrin mit seiner Formulierung Ja zur Marktwirtschaft und Nein zur Marktgesellschaft (Oui ä l’economie de marche et non ä la societe de marche).
Seine Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen am 21. April 2002 weckte die antikapitalistische Traditionslinie innerhalb der PS zu neuem Leben, die inzwischen als antiliberal gekennzeichnet wird und sich den Kampf gegen die Globalisierung auf die Fahnen geschrieben hat. Ihr gelang mit der Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages am 70 lvta; 7flfl5 in Cieu und dies. obwohl Francois Hollande im Herbst 2004 eine interne Mitgliederbefragung organisiert und eine Zustimmung von nahezu 60 Prozent erhalten hatte. Hollande war es auch, der die PS nach dem abrupten Abschied Jospins zusammengehalten und zu Siegen bei den Regional- und Europawahlen 2004 geführt hatte. Diese Erfolge signalisierten allerdings weniger eine unmittelbare Zustimmung zur PS, sondern vielmehr eine schroffe Ablehnung der Politik des marktliberalen Premierministers Jean-Pierre Raffarin, der von Staatpräsident Chirac nach dem Referendum 2005 in die Wüste geschickt wurde.
Die nächsten Kämpfe sind vorprogrammiert
Der Erste Sekretär und mit ihm die Repräsentanten der Mehrheit in der PS um Dominique Strauss-Kahn, Jack Lang und Martine Aubry trommelten während der Kampagne für die Europavolksabstimmung unter Berufung auf das Mitgliedervotum für das Ja der PS, während Laurent Fabius sich zur Überraschung der Basis und der öffentlichen Meinung in Frankreich gegen den Verfassungsentwurf aussprach. In der Analyse von Bergounioux und Grunberg standen und stehen sich damit wiederum die Neo-Jospinisten und die Neo-Mitterandisten innerhalb der PS und ihre unterschiedlichen Strategien zur Erringung und Ausübung der Macht gegenüber, was mit Blick auf die Präsidentschafts-and Parlamentswahlen im Frühjahr 2007 entscheidend ist.
Hollande und die Mehrheit der PS plädieren für die Zusammenführung des Redens und des Handelns, der Ideologie und der Aktion, für einen reformistischen Ansatz und einen gewissen Stolz auf die Bilanz der Regierung Jospin, die innerhalb und außerhalb der PS mehr als umstritten ist. Hollande besteht darauf, die Wahrheit zu sagen und nicht die eine Rede zu halten, wenn man in der Opposition ist, und die andere, total entgegen gesetzte, wenn man regiert. Für ihn macht es auch keinen Sinn, dass die PS hinter der extremen Linken herläuft, weil diese ohnehin keine Regierungsverantwortung will und deshalb auch keine Notwendigkeit für einen Kompromiss mit ihr besteht.
Demgegenüber plädiert Laurent Fabius für eine Verankerung der PS auf der Linken, für eine Frontalopposition und einen Reformismus der Transformation, den er gegen den Reformismus der Begleitung des Kapitalismus stellt, den nach seiner Überzeugung Hollande und die Neo-Jospinisten verfolgen. Für Fabius steht der Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Zentrum der Überlegungen, nach dem anschließend der gewählte Staatschef dank seiner institutionellen Rechte der Partei und der Linken insgesamt ein Regierungsprogramm auferlegen kann, das in scharfem Kontrast zu den Versprechungen im Wahlkampf steht. Diese bewusst geplante Abkoppelung zwischen Reden und Handeln und die Radikalisierung des Diskurses zum Zwecke der Machteroberung stellt nach Überzeugung des ehemaligen Premiers, der sich als Erbe Mitterrands sieht, die einzige Option für einen Regierangs- und Präsidentschaftswechsel dar. In bewusster Abgrenzung von Jospin sagt Fabius auch: Der Markt kann nicht alles, der Staat kann sehr viel.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass bei dem Parteikongress in Le Mans die inhaltliche Auseinandersetzung zwischen diesen Linien ausblieb, weil beide Strömungen derzeit kein Interesse daran haben, eine Ideologiedebatte zu führen. Vielmehr wurde in einer nächtlichen Sitzung hinter verschlossenen Türen die Synthese als Grundlage für ein Regierungsprogramm entwickelt und ein Kalender für die Benennung des Präsidentschaftskandidaten der PS verabredet, wonach diese erst im November 2006 erfolgen soll. Dabei wurde der von der Mehrheit vorbereitete Leitantrag durch Ergänzungen aus dem Fabius-Lager und von der Strömung NPS (Nouveau Parti Socialiste), die vor allem eine innere Reform der PS anstrebt, nach links akzentuiert und verschärft.
Die PS will nun im Falle eines Wahlsiegs die Teilprivatisierung des Energiegiganten EDF ebenso rückgängig machen wie die Reformen der Renten- und Krankenkassensysteme, die von den konservativen Regierungen seit 2002 durchgesetzt wurden. Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns innerhalb der Legislaturperiode von derzeit rund 1.300 auf 1.500 Euro ist ebenfalls vereinbart.
Ob es dem wieder gewählten Parteichef Hollande angesichts der innenpolitisch zu-gespitzten Situation Frankreichs allerdings gelingt, die zahlreichen Präsidentschaftskandidaten sowohl seiner Mehrheit als auch Laurent Fabius auf diese Verabredung zu verpflichten, muss angesichts der Entwicklung des vergangenen Jahres bezweifelt werden. Frankreichs Sozialisten sehen sich zudem der ständigen Kritik trotzkistischer Parteien, der Kommunisten und von Globalisierungskritikern ausgesetzt, die derzeit nicht bereit scheinen, auf eigene Kandidaturen bei den Präsidentschaftswahlen zu verzichten. Das macht eine Wiederholung des 21. April 2002 durchaus wahrscheinlich.