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Editorial

aus: vorgänge Nr. 171/172, Die Zukunft der Linken, S. 3-4

Nach dem Ende von Rot-Grün stellt sich die Frage nach der Zukunft der Linken in Deutschland neu. Es war Joschka Fischer, der vor dem Bundestag im Juli 2005 noch einmal daran erinnerte: Die Deutschen hatten 1998 eine linke Regierung ins Amt gewählt und 2002 knapp bestätigt, deren Geist sich auch auf den Aufbruch von 1968 bezog. Doch an diesem Punkt beginnen schon die Diskussionen: Waren die einstigen 68er, als sie endlich an die Regierung kamen, noch links? Hatten sie eine zukunftsweisende Perspektive für das Land? Oder haben sie die Chancen und Perspektiven linker Politik auf Jahre hinaus verspielt? Wie aktuell ist also momentan die linke Frage? Auf absehbare Zeit jedenfalls werden wir von einer Großen Koalition unter einer Unionskanzlerin regiert, vorerst in pragmatischer Geschäftigkeit.

Für linke Kritik und Selbstkritik besteht deshalb nach dieser Zäsur allemal Anlass. Dabei sah es nach Meinung mancher Beobachter am Wahlabend des 18. Septembers gar nicht so schlecht aus: Rechnerisch gab es eine Mehrheit der linken Parteien. Doch eine Koalition dieser Mehrheit kam für alle Beteiligten in SPD, Grünen und Linkspartei.PDS nicht in Frage. Die Linke bleibt also dreigeteilt: die einen dezimiert in der Regierung; die anderen oppositionell und eher bürgerlich als links, neben denen, die von ihrer diktaturvergangenheit kontaminiert sind. Ein Scherbenhaufen? Dieses vorgänge-Doppelheft nimmt die neue politische Konstellation in Deutschland – also den Machtverlust von Rot-Grün als „klassische“ linke Koalition sowie das absehbare Aufkommen einer gesamtdeutschen linkssozialistischen Partei – zum Anlass, um nach dem Stand und den Perspektiven linker Politik in Deutschland zu fragen. Das Spektrum ist denkbar weit. Neben grundsätzlichen politischen Beobachtungen zur Lage der linken Parteien nach der Wahl finden sich Politikfeldanalysen von Sozialstaatlichkeit oder Wirtschaftspolitik. Unsere Autoren untersuchen mögliche Leitideen für eine neue Linke: Vermag eine Theorie der Exklusion oder der Nachhaltigkeit neue Impulse zu geben? Viel war in den letzten Jahren auch von der Krise der Gewerkschaften die Rede. Mehrere Beiträge stellen die Entwicklungsmöglichkeiten dieser einst so machtvollen linken Organisationen vor. Jenseits des nationalen Tellerrands gibt es andere Entwicklungen, die wir ebenfalls in die Analyse einbeziehen: Frankreichs Sozialisten stecken in einem tiefen Umbruch; in Lateinamerika hat – antizyklisch zur europäischen Lage – eine erneuerte Linke in vielen Ländern Schritt um Schritt die Macht übernommen. Zudem überprüfen unsere Autoren die Aktualität des linken Theoriebestands hierzulande am Beispiel von Jürgen Habermas und Jürgen Seifert. Hilft der deutschen Linken der Blick in ihre Vergangenheit, um neue und alte Irrtümer künftig zu vermeiden? Das alternative Milieu der 1970er Jahre wird ebenso präsentiert wie Willy Brandts personalpolitischer Umgang mit seinen „Enkeln“, die popkulturellen Einflüsse auf die deutsche Linke sowie der Nexus zwischen 1968 und dem Terror der RAF.

Die klassische Frage „Was ist heute links?“ durchzieht wie ein roter Faden dieses Heft. Die Antworten unserer Autoren fallen – wie unschwer zu erwarten war – unterschiedlich, ja gegensätzlich aus. Insofern wollen die vorgänge intellektuelle Denkanstöße und keine theoretischen Bausätze liefern. Die farbige Themenpalette und der facettenreiche Blickwinkel stehen somit gleichsam für eine „Angebotspolitik“ von links: Vielleicht steigt die Nachfrage und ändert sich dann auch die Konjunktur. Ein Doppelheft der vorgänge erschien uns dies allemal wert. Anregende und zukunftsweisende Lektüre wünschen aus Berlin

Thymian Bussemer und Alexander Cammann

aus: vorgänge Nr. 171/172, Die Zukunft der Linken

Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik
44. Jahrgang, Heft 3/4 (Dezember 2005), 24 Euro

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