Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Gewerk­schaften auf der Suche nach Stabilität

Eine Bestandsaufnahme

aus: Vorgänge Nr. 171/172 (Heft 3-4/2005), S.116-127

Die Gewerkschaften stecken in den meisten Ländern in tiefen Schwierigkeiten. Das trifft auch auf die deutschen Gewerkschaften zu, obwohl sie sich im internationalen Vergleich bislang wacker geschlagen haben und besser als viele ihrer Schwesterorganisationen in der Lage waren, sich zu behaupten. Knapp zehn Millionen Menschen sind insgesamt in den deutschen Gewerkschaften organisiert. Allerdings sind dies nur noch etwa 25 Prozent der erwerbstätigen Arbeitnehmer und immer mehr wirtschaftlich relevante Bereiche sind gewerkschaftsfrei. Vor allem die jüngere Generation steht den Gewerkschaften skeptisch gegenüber. Haben die Gewerkschaften ihren Zenit überschritten? Sind sie zu einer überflüssigen Organisationsform geworden, deren Anliegen mittlerweile gesellschaftlicher Konsens sind, so dass es keiner eigenständigen organisatorischen Kraft mehr bedarf, die diese Ziele verfolgt? Oder ist es nicht vielleicht so, dass man die Gewerkschaften, wenn es sie nicht gäbe, jetzt erfinden müsste, um plausible Antworten auf zunehmende soziale Unsicherheit, alte und neue Formen der sozialen Ungleichheit und veränderte berufliche Anforderungen geben zu können? In diesem Beitrag geht es darum, die Herausforderungen für den Wandel des deutschen Gewerkschaftsmodells zu erfassen. Welche Rolle spielen die Gewerkschaften im deutschen Modell, was sind für sie die zentralen Herausforderungen und welche Reaktionen auf den Transformationsprozesssmd wahrscheinlich?

Der Umbau der Gewerk­schafts­land­schaft

Die Gewerkschaften der Bundesrepublik haben ihre Wurzeln im Kaiserreich. Sicherlich, 1945 wurde das Modell der politischen Richtungsgewerkschaften durch das Modell der parteipolitisch unabhängigen Einheitsgewerkschaft abgelöst. Das war ein deutlicher Bruch. Zwischen den DGB-Gewerkschaften bestehen gewisse Differenzen im Tarif-und Politikstil, die sich auch auf differierende Verbandsidentitäten rückführen lassen.Exemplarisch wird dabei immer wieder aud die Differenzen zwischen der IG Metall und der IG Bergbau, Chemie, Energie verwiesen. Die in den Einzelgewerkschaften entwickelten Verbandskulturen sind von den Branchenstrukturen, den großen Betriebsräten, den Kräfteverhältnisse zwischen den Strömungen, den großen Streiks und den Arbeitgebern geprägt, und sie sind nicht statisch. In den 1990er Jahren begann sich die deutsche Gewerkschaftslandschaft deutlich zu verändern.

Eine der wichtigsten Reaktionen auf den wirtschaftlichen und sozialen Wandel sowie die damit einhergehenden gewerkschaftlichen Finanzprobleme liegen in den Prozessen der organisationspolitischen Konzentration: Während bis in die 1980er Jahre noch siebzehn Einzelgewerkschaften unter dem Dach des DGB vertreten waren, sind dies seit 2002 nur noch acht. So entstand seit den 1990er Jahren eine neue Gewerkschaftslandschaft, die einen deutlichen Bruch mit der gewerkschaftlichen Nachkriegsordnung bedeutet. Instrumente der neuen Politik sind Kooperationen, Fusionen, Integrationen und Neubildungen. Die großen Industriegewerkschaften IG Metall (Textil und Holz/Kunststoff) und die IG Chemie (Leder/Bergbau) haben traditionsreiche, aber mit-gliederschwache Organisationen aus erodierenden Industriebranchen aufgenommen. Dagegen kam es mit der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di) zu einer Neugründung aus fünf bisher eigenständigen Gewerkschaften (ÖTV, Post, DAG, HBV und IG Medien). Ob die jetzt gewählte Domänenaufteilung politisch rational ist und zu weniger oder mehr Konflikten zwischen den Gewerkschaften führen wird, ist offen. Die zweite ungeklärte Frage ist, ob sich die angestrebten Synergieeffekte in der neuen Gewerkschaftslandschaft einstellen, insbesondere hinsichtlich besserer Dienstleistungen und einer größeren Attraktivität für Mitglieder und potentielle Mitglieder. Drittens ist noch nicht erkennbar, wie sich die neue Struktur auf die politischen Handlungsmöglichkeiten des Dachverbandes (DGB) auswirken wird.

Der Umbau der Gewerkschaftslandschaft folgt keinem fest umrissenen strategischen Ziel. So stellt sich die Frage, ob sich die verschiedenen gewerkschaftlichen Reformprojekte überhaupt ergänzen können oder ob es nicht vielmehr zu neuen tief greifenden Friktionen kommen kann, die sich zu einer zusätzlichen Belastung für die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit entwickeln. Die Abspaltung von kleineren Gruppen (z.B. Cockpit) und die direkte Konkurrenz zwischen verschiedenen Gewerkschaften in einem Betrieb (IG Metall contra Verdi bei IBM) sind ernstzunehmende Krisensignale. Wie kann es angesichts dieser Entwicklungen zu einer besseren Zusammenarbeit der einzelnen Gewerkschaften, Gliederungen und Projekte kommen? Die Antwort auf diese Frage ist offen. Die Gewerkschaften haben sich auf die organisatorische Konzentration ihrer Ressourcen verständigt. Vielleicht wird es in einigen Jahren nur noch drei bis fünf deutsche Gewerkschaften geben, die sich ohne einen Dachverband, in lose verkoppelter Form, in einzelnen Politikfeldern zu koordinieren versuchen. Aus der heutigen Perspektive betrachtet, erscheint zwar eine weitere Konzentrationsentwicklung als möglich, um finanzielle Ressourcen zu bündeln. Ob den Gewerkschaften in diesem Prozess allerdings bessere Steuerungskapazitäten nach innen und außen zuwachsen, ist angesichts des Einflussverlusts der Verbandsspitzen auf die regionalen und betrieblichen Gliederungen wenig wahrscheinlich.

Auf den Mitgliederrückgang und die Effizienzdefizite reagierten die Gewerkschaften in den letzten Jahren auch mit nach innen gerichteten Maßnahmen, die sich vor allem auf zwei Felder konzentrieren: Erstens betreiben sie eine kostenreduzierende Optimierung der verbandlichen Bürokratie, deren Aktivitäten sich von der Organisationsentwicklung bis zur Budgetierung aller Aufgabenbereiche erstrecken. Zweitens versuchen sie eine weitere Professionalisierung der gewerkschaftlichen Arbeit zu betreiben, die allerdings von einem starken Personalabbau begleitet wird. Mit dem Versuch, die gewerkschaftliche Arbeit auf das sogenannte „Kerngeschäft” zu konzentrieren, dessen Definition einer jeweils aktuell auszutarierenden und umstrittenen Neubestimmung unterliegt, verändert sich zugleich das Profil des Gewerkschaftsfunktionärs: Nicht mehr der reaktive Funktionär und politisch ambitionierte Generalist ist gefragt, sondern Funktionäre mit spezifischen Medien-, Klientel-, Fach- und Servicekompetenzen. Damit ziehen nicht nur marktwirtschaftliche Steuerungsmittel in die Gewerkschaftsorganisation ein, es kommt zudem auch zu einer Dezentralisierung der Binnenstrukturen.

Die Implikationen können recht unterschiedlicher Art sein. Schon im sogenannten „Rückzug aus der Fläche” des DGB, der sich aus der Schließung und Zusammenlegung der DGB-Kreise ergeben hat, sahen manche den Verlust der unmittelbaren Beziehungen zu den Mitgliedern und damit Anzeichen eines weiteren Umbaus von einer nur noch partiell existierenden Milieuorganisation zu einem effizienten Dienstleistungsapparat. Tatsächlich impliziert die weitere Professionalisierung nicht nur die generelle Durchsetzung eines bestimmten Typs von Organisationspersonal, sondern möglicherweise auch die dominante Orientierung am Prinzip der Gewerkschaften als Versicherungsbetrieb. Dabei haben wir es mit einer Tendenz zu tun, die die Entwicklung der Gewerkschaften seit ihren Anfängen begleitet; besonders pointiert wurde sie Ende der 1950er Jahre formuliert – auch, um zu erklären, weshalb die Gewerkschaften ihre weit reichenden politischen Ziele nicht zu realisieren vermochten. Trotz aller Kritik an der Entpersönlichung bzw. Versachlichung der Beziehungen zwischen Apparat und Mitgliedern ist nicht aus-gemacht, dass dieser Weg falsch ist. Denn der Mitgliederschwund der Gewerkschaften ist wohl kaum darauf zurückzuführen, dass die mitgliederbezogenen Dienstleistungen zunehmen, sondern eher darauf, dass es den Gewerkschaften schwer fällt, substantielle Dienstleistungen anzubieten, die von den Beschäftigten als plausible Antwort auf ihre Nöte bewertet werden. Dies wiederum ist auf grundlegende soziale Wandlungstendenzen zurückzuführen, die die Bedürfnisse, Wahrnehmungen und damit die Interessenstruktur der Gesellschaft nachhaltig verändert haben.

Die drei Welten der deutschen Gewerk­schaften

Die deutschen Gewerkschaften erreichen im internationalen Vergleich traditionell ein mittleres Organisationsniveau. Grob kann man von „drei Welten” sprechen, wenn es um die Basis gewerkschaftlicher Organisationspolitik geht: Erstens der Großindustrie des verarbeitenden Sektors, die nach wie vor der Anker und zugleich das Rückgrat gewerkschaftlicher Stärke in Deutschland ausmacht. Zu dieser Welt gewerkschaftlicher Präsenz und Stärke zählt zweifelsohne auch der Öffentliche Dienst. Auch wenn dort die Rekrutierung anderen Kriterien folgt und die gewerkschaftliche Bedeutung für das exportorientierte deutsche Modell nachrangig ist (Flankierung), haben wir es mit einer festen Basis für gewerkschaftliche Präsenz in Deutschland zu tun. Die „zweite Welt” liegt in den mittelgroßen Betrieben der verarbeitenden Industrie und des Dienstleistungssektors. Dort ist gewerkschaftliche Stärke keinesfalls selbstverständlich, und wenn sie vorliegt, geht sie auf günstige regionale und branchenspezifische Bedingungen zurück, also einer besonderen Akteurskonstellation. In der „dritten Welt” sind die Gewerkschaften meist gar nicht oder nur schwach vertreten. Dabei handelt es sich nicht nur um kleine oder mittlere Betriebe, sondern durchaus auch um einige größere. Meist sind dies Firmen des Dienstleistungssektors, die sich als mittelständisch verstehen. Da in vielen dieser Betriebe eine hohe Wertschöpfung und ein hohes Innovationsniveau besteht, sowie mehr Beschäftigungsaufbau stattfindet als in den ersten beiden Welten, kann hier von den Gewinnern des Strukturwandels gesprochen werden. Dass die Gewerkschaften jedoch gerade in diesen Betrieben nicht oder nur schwach vertreten sind, kann als Achillesferse des deutschen Modells begriffen werden. Zwar hatten die Gewerkschaften schon immer ihre Schwierigkeiten in den kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs), aber angesichts des sich vollziehenden Strukturwandels wird diese Schwäche bedeutsamer denn je.

Hohe gewerkschaftliche Organisationsgrade sind auf den verarbeitenden Sektor, den öffentlichen Dienst sowie größere Betriebe und bestimmte Regionen konzentriert. Die Mitgliederverluste entstehen im Kontext der Verschiebung von Branchen und Berufen, der Zunahme der Frauenbeschäftigung sowie veränderter Betriebsstrukturen. Aus der Sicht gewerkschaftlicher Rekrutierungspolitik wird die Mitgliederkrise unter drei Gesichtspunkten diskutiert:, erstens sozialstrukturell als Emanzipation (Individualisierung; verstärkte Bedeutung von Nutzenkalkülen und dem Verlust der Bindewirkung) der Beschäftigten gegenüber gesellschaftlichen Großorganisationen; zweitens ökonomisch: der berufliche Werdegang verläuft stärker denn je unabhängig von gesellschaftlichen Großorganisationen; drittens politisch: das traditionelle Partizipationsinteresse ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Mehr Partizipation und Autonomie scheint für Nichtmitglieder derzeit kein Beitrittsanreiz zu sein. Dies führt zu der Frage, wie die Nützlichkeit der Gewerkschaft für den Einzelnen verbessert werden kann, ohne die Durchsetzbarkeit solidarischer Politik dadurch zu gefährden.

Die Differenzierungsdynamik des Arbeitsmarktes und der Lebenslagen stellt widersprüchliche Anforderungen an die Gewerkschaften. Sie sind sowohl von ihrer Stammklientel als auch von den noch nicht Organisierten herausgefordert, gleichermaßen authentische Antworten auf unterschiedliche Problemlagen bieten zu können. Hinzu kommen altersspezifische Erwartungen an die Gewerkschaften. Veränderte Sozialisationsbedingungen, die stark durch die „Mediengesellschaft” geprägt sind, Milieuverluste und gesellschaftliche Individualisierungstendenzen, der Wandel betrieblicher Rationalisierung und der Formwandel von Erwerbsarbeit haben nicht nur vielfältigere Formen des betrieblichen Handelns sowie einen modifizierten Beschäftigtenhabitus befördert, sondern auch neue Vorstellungen von Organisationsloyalität und Solidarität hervorgebracht. Verwiesen sei in diesem Kontext auf die Theorien zu individualisierten Patchwork-Identitäten und kontingenten Lebensstilen, auf die Konzepte der vernetzten Selbststeuerung oder die Diskussion über den Typus des „Arbeitskraftunternehmers”.

Der Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft stellt die Gewerkschaften vor gravierende Probleme mit nicht vorhersehbaren Folgewirkungen, die nicht nur sie selbst, sondern auch das deutsche Modell insgesamt betreffen. Die gewerkschaftlichen Hochburgen werden, gemessen an der Gesamtbeschäftigung bedeutungsloser. Die Älteren gehen in Rente und bei den Jüngeren ist die Bereitschaft, sich zu organisieren, weitaus schwächer ausgeprägt als früher. Weder werden sie in sozialen Milieus groß, die gewerkschaftsnah sind, noch sind die Gewerkschaften in den Betrieben wirklich präsent, in denen die jungen Menschen ihre Berufskarriere beginnen. Wolfgang Streeck hat dieses Phänomen das „Aussterben der Stammkunden” genannt – und dies ist wortwörtlich zu verstehen. Es sind vor allen Dingen die Rekrutierungsprobleme im Dienstleistungs- und Angestelltensektor, die die Gewerkschaften zu lösen haben werden, weil die nicht öffentlichen Dienstleistungsbereiche immer beschäftigungsintensiver werden. Ob sie dabei erfolgreich sein können, hängt auch von der gewerkschaftlichen Organisationskultur ab.

Heraus­for­de­rungen und Strategien

Die grundlegenden Herausforderungen der sich veränderten Umwelt der deutschen Gewerkschaften lassen sich in vier Dimensionen unterscheiden: erstens die Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen; zweitens der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungswandel; drittens der sozio-kulturelle Wandel in der Gesellschaft; und viertens der Wandel des regulativen Umfeldes. Hinsichtlich dieser Herausforderungen sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: Erstens wäre es falsch, wenn man diese Herausforderungen einfach als extern verstehen würde. Sie sind immer auch rückgekoppelt, wahrgenommen und definiert durch die Brille der konkreten Organisation. Sie haben also immer auch eine „Innen-Umwelt”, die in der organisatorischen, programmatischen und personellen Grundausstattung der jeweiligen Gewerkschaften besteht. Die Interaktion zwischen externer und Innen-Umwelt der Organisation muss also mitgedacht werden, so äußerlich die Herausforderungen auch erscheinen mögen. Zweitens sind die Gewerkschaften, und das kennzeichnet ihre grundlegenden Schwierigkeiten, mit der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, aber verzahnter Veränderungsprozesse konfrontiert. Diese Zustandsbeschreibung legt die Vermutung nahe, dass Reaktionen, die nicht die Gleichzeitigkeit und Verzahnung berücksichtigen, unzureichend sein werden, um die integrative Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften zu erneuern.

Mit der Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen, die sich als Reaktion auf die wirtschaftliche Dynamik neuer Konkurrenzverhältnisse, Organisationsstrukturen und Technologien ergeben hat, wird die tradierte gewerkschaftliche Betriebs- und Tarifpolitik ebenso grundlegend in Frage gestellt wie das bisherige Verhältnis zwischen betrieblichen und überbetrieblichen Gewerkschaftsakteuren. Dazu tragen die geringe wirtschaftliche Prosperität und die daraus resultierenden betriebsökonomischen Probleme massiv bei. Besonders weit ist der Prozess der Entkopplung zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Ebene in Ostdeutschland fortgeschritten. Die Ursachen dieser Prozesse können allerdings nur teilweise als konjunkturabhängig angesehen werden. Neue Absatz- und Arbeitsorganisation sowie die Abneigung der neuen Managementgeneration gegenüber tradierten Formen kooperativer Regulationspolitik durch den Flächentarif-vertrag verweisen auf tieferliegende Problemkonstellationen. Der Deckungsgrad der Tarifverträge und die Bindungswirkung der aufeinander angewiesenen Akteure der antagonistischen Kooperation – Arbeitgeber und Gewerkschaften – sind im Rückgang. Grund dafür ist die wachsende Rolle von kleineren betrieblichen Einheiten, die für sich andere Formen der Arbeitspolitik beanspruchen. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sind von dieser Entwicklung ungleich, also asymmetrisch betroffen: Bei den Gewerkschaften geht es um die Grundlagen ihres institutionellen und normativen Verständnisses als Tarifakteur. Bei den Arbeitgeberverbänden ist das Problem nicht derart existentiell. Sie können anders als die Gewerkschaften reagieren: Auf die Mitglieder-und Einnahmeverluste antworten sie z.B. mit dem Angebot von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung.

Die Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen wurde keinesfalls passiv von den Gewerkschaften hingenommen. Die tarifvertragliche Flexibilität und betriebsspezifische Vereinbarungen haben beträchtlich zugenommen. D.h. die Gewerkschaften haben mit einer Politik der „kontrollierten Dezentralisierung” auf betriebsspezifische Anforderungen reagiert. Die Konsequenzen für das deutsche Modell der Gewerkschaften sind evident: Die Betriebsebene ist wesentlich wichtiger geworden, weshalb gewerkschaftliche Kapazitäten auf diesem Feld deutlicher zu stärken und das Verhältnis zwischen der betrieblichen und der flächentarifvertraglichen Ebene neu zu justieren sind.

Auf den Arbeitsmarkt- und Beschäftigungswandel haben die Gewerkschaften bisher keine Antwort finden können, die zu einer organisatorischen Stärkung geführt haben. Im Zentrum steht die Frage: Warum ist es den Gewerkschaften bisher nicht gelungen, den privaten Dienstleistungsbereich erfolgreich zu organisieren? Diese seit Jahrzehnten diskutierte Frage wurde im Grundsatz schon Anfang des 20. Jahrhunderts mit der „Angestelltenfrage” aufgegriffen. Aber das Problem geht weit über die sogenannte Angestelltenmentalität hinaus. Im Dienstleistungssektor sind die Arbeitsplatzstrukturen, Arbeitsanforderungen und Qualifikation der Beschäftigten eher ungünstig für die Herausbildung einer kollektiven Identität und eines gemeinsamen Interesses. Weniger große Arbeitseinheiten, größere Arbeitsautonomie, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und stärkerer individueller Konkurrenzdruck stellen einen schlechten Nährboden für die tradierten Formen gewerkschaftlicher Organisationspolitik dar. Die Gewerkschaften sind zum einen im Bereich der Niedrigqualifizierten relativ erfolglos, zum anderen aber auch im Bereich der Hochqualifizierten, insbesondere dort, wo Arbeitnehmer aufgrund hoher Qualifikationen eine Monopolsituation haben. In solchen Bereichen sind die DGB-Gewerkschaften mit dem Auftritt von Konkurrenten, die sich zu Sprechern einer besonders potenten Klientel machen, konfrontiert, wie das Beispiel Cockpit (Gewerkschaft der Piloten) exemplarisch zeigt.

Wichtige Antworten der Gewerkschaften auf den Beschäftigungswandel liegen im Insistieren auf der Weiterentwicklung beruflicher Qualifikationspolitik. Dazu tragen nicht nur ihr Engagement in der Reform der beruflichen Bildung bei, sondern auch eigene Tarifverträge zur Förderung der Weiterbildung. Weiterhin sind neue Formen der betriebsnahen Arbeitsmarktpolitik zu erwähnen, die von den Gewerkschaften mitentwickelt worden sind. Unzählige tarifpolitisch ermöglichte Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung haben zur Arbeitsplatzsicherheit beigetragen. Sie sind in der Öffentlichkeit jedoch vielfach unsichtbar geblieben. Hinsichtlich der Regulierung des Niedriglohnsektors haben sich die Gewerkschaften in der Vergangenheit schwer getan; gleichwohl änderten sie auch in diesem Bereich ihren Kurs. Am deutlichsten ist dies im Feld der Zeitarbeit sichtbar: Wurde es bis Ende der 1990er Jahre abgelehnt, diese Beschäftigungsverhältnisse überhaupt anzuerkennen, so hat sich dieser Bereich mittlerweile zu einer tarifpolitischen Wachstumsbranche entwickelt.

Die Konsequenzen des Beschäftigungswandels für das deutsche Gewerkschaftsmodell sind je nach Szenario unterschiedlich: Gelingt es den Gewerkschaften, neue Mitgliederbereiche zu erobern, so könnten sich im Gesamtgefüge der Gewerkschaften Verschiebungen ergeben. Voraussetzung dafür ist, dass für die privaten Dienstleistungssektoren andere Ansprachen, Angebote und tarifpolitische Herangehensweisen gefunden werden, die sich durch ein höheres Maß an Flexibilität auszeichnen. Das andere Szenario ist das des zunehmenden Bedeutungsverlustes, wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt, in den Dienstleistungssektoren Organisationserfolge zu verbuchen.

Der sozio-kulturelle Wandel verschärft das Problem der Gewerkschaften noch über den Beschäftigungswandel hinaus. Mit der Bildungsrevolution der 1970er Jahre, der Erosion traditioneller Sozialmilieus, und dem Wertewandel haben sich in der deutschen Gesellschaft Gelegenheitsstrukturen ergeben, die den Interessen nach Selbstbestimmung und individueller Entfaltung starken Auftrieb gegeben haben. Durch die Veränderung von Lebenslagen und Arbeit haben sich die Bewertungen individuell verfügbarer Ressourcen verändert: „Humankapital” erscheint den meisten heute ein für den beruflichen wie Lebenserfolg wichtigeres Gut als Sozialkapital. Während das noch in den 1970er Jahren und Anfang der 1980er Jahre aufgrund des gesellschaftlichen Klimas anders war und die Gewerkschaften gerade auch unter den Jüngeren herausragende Rekrutierungserfolge verbuchen konnten und bis Ende der 1990er Jahre im DGB der Anteil der 18-bis 24-jährigen Mitglieder etwa so hoch war wie deren (insgesamt sinkender) Anteil an der Bevölkerung, bleiben seit Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre die jungen Menschen den Gewerkschaften fern — ihr Anteil liegt nur noch halb so hoch wie der in der Wohnbevölkerung. In den 1980er Jahren lag der Anteil der Jugendlichen an allen DGB-Mitgliedern bei etwa 15 Prozent; 2002 waren es noch etwa 5 Prozent.

Die gewerkschaftlichen Antworten auf den politischen Wandel sind nicht auf ein Politikfeld einzugrenzen; denn sie treffen die Organisation als Ganzes und müssen sich mithin auch auf alle Politikfelder beziehen. Im Kern geht es um neue Formen des Dialogs und der Regulierung. Dabei haben die Gewerkschaften schon die Weichen für diesen Prozess gestellt, gleichwohl befahren sie die neuen Strecken noch nicht mit der Souveränität und Häufigkeit, die notwendig ist, um eine neue Zeitgenossenschaft zu praktizieren. Öffentlich wahrnehmbare Katalysatoren für diese Öffnung sind zweifellos ihre Zukunftsdebatten, in denen sich die Gewerkschaften als offene Mitgliederorganisationen präsentieren. Gegen diese dezidierte Öffnungspolitik stehen jedoch die nach wie vor schwerfälligen innerorganisatorischen Verfahren und Kommunikationsformen, vielfältige Formen ideologischer Unvernunft und abschreckende Formen der Schließung und Abgrenzung, die sich immer wieder in heftigen Grundsatzkontroversen oder Personalquerelen niederschlagen.

Grundlegend gewandelt hat sich auch das politische Umfeld der Gewerkschaften. Damit ist einerseits gemeint, dass sich mit dem Umbau des Wohlfahrtsstaates vielfältige Spannungsfelder und Konflikte mit den politischen Parteien und der jeweiligen Regierung ergeben, die es den Gewerkschaften schwer machen, sich als konstruktiver Gestalter zu präsentieren. Stattdessen verfestigte sich in der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik in den letzten Jahren das Bild der gewerkschaftlichen Vetomacht, mit-hin der Vorwurf der Blockadepolitik. Hinzu kommt, dass es den Gewerkschaften teil-weise nicht gelingt, vorhandene Handlungsspielräume auszunutzen. Dafür ist das gescheiterte Bündnis für Arbeit sicherlich ein herausragendes Beispiel. Andererseits sind durch Globalisierung und Europäisierung die nationalstaatlichen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt worden. Zusätzlicher lohnpolitischer Druck entsteht dadurch, dass die Unternehmen komparative Regimevorteile nutzen, die die internationalen Unter-nehmen schon längere Zeit im Rahmen ihres Regime shopping praktizieren, die ohne die Liberalisierung der Märkte nicht gegeben wären. Dadurch, dass die politischen Parteien in den letzten Jahren auch das System der industriellen Beziehungen immer stärkerer Kritik unterzogen haben, um die Vermarktlichung, Deregulierung und Entformalisierung nationaler Arbeitsbeziehungen zu forcieren, ergeben sich große Herausforderungen für die Gewerkschaften.

Mit der gerade gebildeten Großen Koalition haben die etablierten Instrumente der deutschen industriellen Beziehungen (Tarifautonomie, Mitbestimmung etc.) eine vorläufige Bestandsgarantie erhalten. Allerdings darf die Relevanz veränderter politischer Rahmenbedingungen nicht überschätzt werden. Sie unterscheidet sich von den strukturellen Mitgliederproblemen nicht nur in der Form, sondern auch in der Bedeutung. Durch das Mitgliederproblem stellt sich langfristig die Existenzfrage. Spannungen zwischen Gewerkschafts- und Regierungspolitik können demgegenüber konjunkturelle Phänomene sein, wenn sich die Gewerkschaften mit tauglichen Initiativen darauf ein-stellen. Mit der Forderung der Gewerkschaften nach einem Bündnis für Arbeit (1995) erreichten sie eine so hohe Akzeptanz, dass sich daraus neue Ansprüche an die Politik ableiten ließen. Aber auch die Regierung kann durch Gesetze Handlungsimpulse für die Gewerkschaften ermöglichen, die deren Steuerungsfähigkeit verbessern. Dies ist exemplarisch durch das Betriebsverfassungsgesetz (2001) und das Altersvermögensgesetz (2001) erfolgt .Was die europäische Dimension der Politik betrifft, so lässt sich deren  Wirkung für die Zukunft des deutschen Gewerkschaftsmodells noch nicht klar abschätzen. Deutlich ist, dass die deutschen Gewerkschaften mit ihren ausgebauten Mitbestimmungsrechten gegenüber Regimen mit weniger ausgebauter Arbeitnehmerbeteiligung unter Konkurrenzdruck geraten. Entgegen früher gehegten Erwartungen wird es allerdings mittelfristig nicht zu einer europaweiten Konvergenz der Gewerkschaftssysteme kommen. Unweigerlich geschmälert werden aber ihre Handlungsspielräume und geschwächt werden die Steuerungskapazitäten, die die Gewerkschaften im Konzert mit nationalen Regierungen und Arbeitgeberverbänden ehemals hatten. Zudem wird das Mehrebenensystem durch Verbetrieblichung und die zusätzliche europäische Ebene weiter aufgefächert. Die deutschen Gewerkschaften befinden sich in einer de-regulativen Zangenbewegung, der sie auf der nationalen Ebene mit kontrollierter Dezentralisierung und auf der europäischen Ebene mit freiwilliger Selbstregulierung sowie verhandelter Gesetzgebung begegnen können.

Die Gewerk­schaften – Treiber oder Getriebene?

Alle vier Prozesse verändern das Umfeld der Gewerkschaften, mit oder ohne ihr Zutun. Sie sind diesen Entwicklungen ausgesetzt und befinden sich damit in einem mehr oder minder umfassenden Transformationsprozess. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl die überbetriebliche Regelungskapazität wie die berufliche und politisch-kulturelle Verfasstheit der (potenziellen) Mitgliederbasis und die gesamtgesellschaftliche Steuerungsfähigkeit der Gewerkschaften tangiert sind – also ihre zentralen Existenzvoraussetzungen.

Die grundlegende Frage ist, ob die Gewerkschaften diesem Prozess ausgeliefert sind oder ob sie die Transformation selbst gestalten können und wollen. Die öffentlichen Debatten suggerieren, die Gewerkschaften seien nicht willens, die Veränderungsprozesse zur Kenntnis zu nehmen und würden eine blockierende Verteidigungshaltung ein-nehmen. Tagesaktuelle Auseinandersetzungen sind jedoch ein unzureichender Maßstab für die Beurteilung von Problem- und Interessenlagen. Aus der längerfristigen Beobachtung lassen sich schon eher, wenngleich auch mit einer gewissen Unsicherheit, Prognosen über das zukünftige Handeln der Gewerkschaften und die Perspektiven des deutschen Modells ableiten. Dabei muss aufgrund der Interdependenz von externer und interner Umwelt der Gewerkschaften davon ausgegangen werden, dass die zukünftige Organisation der Gewerkschaften in einem umfassenden Sinne – also Organisationsstrukturen, Organisationsprogramm und Organisationspersonal – sowohl die Voraussetzung zur Lösung der anstehenden Problemlagen ist wie auch ihr Problem.

Organisationsentwicklung und Organisationslernen sind also zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung der Zukunft. Als lernende Organisationen müssen sie diesen Prozess so gestalten, dass sie die Passfähigkeit zwischen Organisation und Umwelt neu erreichen. Um der Vielfalt der Interessen und Kulturen gerecht zu werden, die in der Arbeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu berücksichtigen sind, bedarf es eines Neustarts. Es geht um nicht weniger als um die Wiedererfindung der Gewerkschaften unterden Bedingungen neuer Konkurrenz-, Macht- und Arbeitsverhältnisse. Ein Versuch, aus dieser groben Skizze des Transformationsdrucks und der gewerkschaftlichen Reaktionen einen Ausblick auf die Zukunft des deutschen Gewerkschaftsmodells zu geben, muss aufgrund der hohen Zukunftsunsicherheit zwangsläufig spekulativ ausfallen. Spekulationen sind immer dann besonders reizvoll, wenn sie sich der Methode des Szenarios bedienen. Ein Erfordernis ist dabei, dass die richtigen „Variablen” identifiziert werden, die je nach Ausprägung den zukünftigen Prozess in die eine oder andere Richtung lenken. Aber selbst dann, wenn es gelänge, die richtigen, und damit einen begrenzten Satz von Variablen zu identifizieren, ist es wenig sinnvoll, alle Variationsmöglichkeiten auszubreiten. Angesichts der bisherigen Entwicklung lassen sich drei grundlegende Entwicklungsmuster ausmachen: Erosion, Inkrementalismus („Durchwursteln“) und Reform.

Im Erosionsszenario werden die Gewerkschaften weiter an Mitgliedern verlieren, die Stammkunden werden buchstäblich aussterben, die jungen Menschen immer weniger den Gewerkschaften beitreten. Die Gewerkschaften verlieren damit rasant an gesellschaftlicher Anerkennung. Organisatorische Schwäche wird den Flächentarifvertrag vom dominanten zum untergeordneten Regulativ werden lassen. Die Gewerkschaften werden zu partikularistischen Interessenorganisationen, die nur noch in bestimmten Branchen und Betrieben relevant sind. Dieses negative Szenario ist nicht ganz unrealistisch. Denn wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt, auf beschäftigungs- und interessenbezogene Spezifika des Dienstleistungssektors einzugehen und das Gespräch mit der Jugend positiv zu gestalten, entwickeln sich die Organisationsgrade in Richtung auf das französische Niveau.

Das Inkrementalismusszenario (muddling through) scheint weniger ein Szenario als derzeitige Realität zu sein. Auch wenn den Gewerkschaften ein erstaunliches Maß an flexibler Reaktion auf neue Herausforderungen insbesondere auf der Ebene der Tarifpolitik (Verbetrieblichung) nicht abzusprechen ist, scheint ein strategisches Konzept zu fehlen. Statt dessen kommt es primär zu situativen Reaktionen, die jedoch bislang nur unzureichend dazu beitragen konnten, Vertrauen bei den Beschäftigten und in der Öffentlichkeit zu schaffen. Dazu trägt auch bei, dass es den Gewerkschaften bislang nicht gelungen ist, sich perspektivisch zu den großen Herausforderungen der Wachstumskrise, der demographischen Verschiebungen, der Wissensgesellschaft und der Globalisierung zu verhalten. Klar ist, dass sie weder für eine reine Abwehrschlacht nach dem Bei-spiel der britischen Bergarbeitergewerkschaft gebaut sind, noch für eine offensive Gestaltung des Wandels, wie dies die nordischen Gewerkschaften für sich in Anspruch nehmen können. In diesem Szenario verlieren die Gewerkschaften ihren Anspruch als politischer Verband; sie können jedoch als Interessensorganisation überleben, die je nach Betrieb und Branche eine starke Verhandlungsposition haben kann.

Das Reformszenario zielt auf eine positive Transformation des Status quo. Darunter ist zu verstehen, dass es zu einer Veränderung der deutschen Gewerkschaften an „Haupt und Gliedern” kommt, die eine neue Integrations- und Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen der Vielfalt und der Entgrenzung ermöglicht. Dazu gehört, dass Gewerkschaftspolitik als Politik im Mehrebenensystem unter den Bedingungen der Gleichzeitigkeit von nationalen und europäischen Prozesse eng verkoppelt wird. Dazu müssen Gewerkschaften national relativ stark sein. Nicht wahrscheinlich ist, dass eine national schwache Gewerkschaft auf der europäischen Ebene eine Lösung der Probleme findet. Denkbar ist aber, dass eine national reformoffene und mobilisierungsfähige Gewerkschaft ihre Aktivitäten strukturell mit der europäischen Ebene verkoppelt und auf diesem Wege zusätzliche Handlungsoptionen entstehen. Eine Europäisierung der Arbeitsbeziehungen nach deutschem Muster ist unwahrscheinlich. Aber eine Aufwertung der europäischen Ebene im Rahmen einer neuen Mehrebenenpolitik ist realistisch und notwendig. Das Markenzeichen des Reformweges besteht darin, dass sich die Gewerkschaften auch zukünftig nicht nur als Interessenverband; sondern auch als politischer Verband, der die Gesellschaft mitprägt, engagieren.

Die derzeitige Situation der Gewerkschaftspolitik entspricht dem Inkrementalismus-Szenario. Welches aber ist das realistische Szenario für die Zukunft? Leider lassen sich aus den Entwicklungen der 1990er Jahre keine eindeutigen Schlussfolgerungen ziehen. Diese Jahre waren nicht nur für, sondern auch von den Gewerkschaften verschenkte Jahre, im Hinblick auf das Reformszenario. Dies trifft insbesondere auf die nicht genutzten Möglichkeiten des deutschen Einigungsprozesses zu, dessen Folgen sich in der gewerkschaftlichen Streikniederlage in der ostdeutschen Metallindustrie (2003) vor aller Öffentlichkeit besonders deutlich ausbreiteten. Heißt das nun, dass die Gewerkschaften nur reagiert haben und sich beharrlich den Herausforderungen verweigert haben? Keinesfalls. Sie haben seit den 1990er Jahren viele kleine Baustellen aufgemacht und sich dort mit neuen Reforminitiativen versucht. Besonders beeindruckend sind ihre tarifpolitischen Aktivitäten; mit denen sie sich dem Wagnis einer neuen Form der Regulierung zwischen Betriebs- und Flächentarifverträgen stellen. Sie haben aber letztlich doch zu wenig bewegt, um die drängenden Probleme offensiv anzugehen und die beachtlichen Neuansätze sind im Großen und Ganzen zu wenig nachhaltig. Es ist teilweise auch schwer zu erkennen, dass die vielen kleinen Baustellen Teil einer Großbaustelle sind. Es gibt also viele Baustellen, mit vielen Polieren, aber ohne Bauleitung. Der Mangel an Strategie im Gewerkschaftshandeln macht eine Aussage über die Zukunft schwierig. Gleichzeitig ergeben sich hieraus aber Anhaltspunkte für zukünftige Potentiale. Das Beharrungsvermögen von Organisationsstrukturen und -kulturen wird eine große Reformaktivität nicht zulassen. Es wird also beim Inkrementalismus bleiben — allerdings sind die Herausforderungen und der Druck so groß, dass mit starken Einsprengseln des Reformmodells zu rechnen ist.

Woran liegt es, dass sich die deutschen Gewerkschaften so schwer tun, mit einer offensiven Reformpolitik, die sowohl den Bedürfnissen der Gewinner wie auch der Verlierer des kapitalistischen Umbauprozesses gerecht wird? Eine mögliche Antwort lautet: Die Kräfte des Marktes sind in den letzten Jahrzehnten stärker geworden, während die regulierende und gestaltende Kraft der Politik schwächer geworden ist. Das Prinzip des Marktes hat zunehmend Einfluss gewonnen in Bereichen, die bisher dem Staat, den Verbänden, ja der Politik vorbehalten waren. Dazu kommen die dargestellten Umweltveränderungen. Mit diesen eher externen Ursachen ist aber nur ein und zudem ein unzulänglicher Teil der Antwort gegeben. Unzulänglich deshalb, weil es zu den Aufgaben der Gewerkschaften gehört, nachteiligen Markt- und Kapitalkräften entgegenzuwirken. Es sind vor allem auch innerorganisatorische Gründe zu benennen, die den offensiven Reformkurs verhindern. Die zukünftige Gestalt des deutschen Gewerkschaftsmodells und die Zukunft der Gewerkschaften wird davon abhängen, ob die organisationspolitische Selbstblockade überwunden wird, indem offensive Antworten auf die Mitgliederkrise und die notwendige flexible Mehrebenenkoordinierung gegeben werden. Das Ziel der Reform des deutschen Gewerkschaftsmodells besteht letztlich darin, durch mehr Service, bessere Kommunikation und partikulare Ansätze darauf hinzuarbeiten, weiterhin als gesellschaftlich relevanter politischer Verband zu wirken und nicht als partikulare Interessengruppe einiger Beschäftigtengruppen und Arbeitsplatzbesitzer zu enden.

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