Jürgen Seiferts linke Rechtstheorie
Eine Lektüre nach vierzig Jahren
aus: Vorgänge Nr. 171/172 (Heft 3-4/2005), S.166-174
Jürgen Seifert ist einer der letzten politischen, das heißt eingreifend kommentierenden und auch praktisch tätigen Politikwissenschaftler gewesen, dessen Weg ihn von der Rechts- zur Politikwissenschaft führte. Gegenstand seines Denkens und Wirkens war beinahe lebenslang die Ist-Analyse und Verteidigung der verfassungspolitischen, freiheitsrechtlichen und institutionellen Aspekte des politischen Gemeinwesens. Es war sein Ziel, die Frei- und Entfaltungsräume des Individuums im permanenten Prozess gegen Staat und unkontrollierte soziale Mächte zu verteidigen. Der Schutz des Einzelnen gegen mächtige Bürokratien und Ämter – ein wichtiges, liberales Motiv Max Webers – fand sich bei Jürgen Seifert stets gut aufgehoben.
Mit seinem akademischen Werdegang und seinen inhaltlichen Interessen stand Jürgen Seifert in der Traditionslinie der Weimarer Gründungsväter des Fachs wie Hermann Heller, Ernst Fraenkel, Franz Neumann und Otto Kirchheimer; in der Bundesrepublik setzte vor allem Wolfgang Abendroth diesen Weg fort. Berührungspunkte gibt es zu ,juristischer“ gebliebenen Wissenschaftlern wie Konrad Hesse, Helmut Ridder, Erhard Denninger und Ernst-Wolfgang Böckenförde. Ständiger Abgrenzungsbedarf besteht zum immer noch mächtigen Schatten von Carl Schmitt, dem autoritär und totalitär eingefärbten, pro-politischen Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik, zeitweilig sehr anregend für Jürgen Seiferts Denken. Doch Seifert entwickelte noch eine andere wichtige Facette, indem er nicht bei alt-linken Positionen, d.h. im Kern nur bei der materiellen sozialen Frage und deren rechtlicher Absicherung, stehen geblieben ist: Eine institutionelle Herausforderung sah er in den weichen, post-materiell und post-modern definierten Politiken im Bezug einer radikalen Demokratie (Nancy Fraser). Hier ergeben sich eine Schnittstelle zu Jürgen Habermas, aber auch Berührungen zu den Grünen. Es gibt also viel zu lernen – und nach dem überraschenden Tod Jürgen Seiferts am 4. Juni 2005 auch viel zu bewahren! Denn Jürgen Seifert war einer der letzten kritischen Beobachter der verfassungspolitischen und freiheitsrechtlichen Entwicklung der Bundesrepublik aus dem oben skizzierten Blickwinkel.
Bei seiner Beerdigung am 15. Juni gingen zwei Redner, Joachim Perels und Oskar Negt, auf Jürgen Seiferts Kampf um Verfassungspositionen und die Rolle Carl Schmitts ein. Besonders Oskar Negt verband das Lob Jürgen Seiferts mit einer scharfen Kritik Carl Schmitts. Solchen Akzenten soll hier nachgegangen werden. Was verband die beiden und was trennte sie? Vorrangig wird hierfür eine Arbeit Jürgen Seiferts betrachtet: sein Kampf um Verfassungspositionen betitelter Aufsatz aus dem Jahr 1966. Herangezogen wird ferner die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt von 1985, nachdem Schmitt am 7. April 1985 96jährig gestorben war (Seifert 1997 [1985]). Jürgen Seifert war Briefpartner von Carl Schmitt (vgl. Laak/Villinger 1993: 150). Befasst er sich mit Schmitt, um (wie Dolf Sternberger) gegen den Feind eine Entscheidung für Freundschaft zu treffen? Oder steht am Anfang der (Klassen)Kampf, nicht die biblische Liebe selbst der Feinde? Oder gibt es 1966 und 1985 mehrere Antworten Seiferts auf Carl Schmitt? Wenn das zutrifft, welche erscheint treffender?
Ein blaues Heft aus dem Jahr 1966 und eine erneute Lektüre
Vor mir liegt das Original vom Kampf um Verfassungspositionen. Der Aufsatz ist seit 1966 mehrmals nachgedruckt worden. Hier im Original sind jedoch meine alten Anstreichungen erhalten. Es ist ein dünnes, verblichen blaues Heft von 44 Seiten: die neue kritik. Zeitschrift sozialistischer Studenten vom April 1966. Auf den Seiten 4 bis 11 findet sich Jürgen Seiferts Beitrag zum 2. Mai, dem 60. Geburtstag von Wolfgang Abendroth. Das Heft wendet sich an den politischen Professor Wolfgang Abendroth; Jürgen Seiferts Beitrag soll zeigen, wie sehr sich der SDS Wolfgang Abendroth auch wissenschaftlich verpflichtet fühlt.
Zu dieser Zeit war ich Doktorand bei Iring Fetscher (angeworben“ von Dieter Senghaas) und wollte über Carl Schmitt promovieren. Mit Jürgen Seifert war ich über die Gefahr im Verzuge in Verbindung gekommen, denn ich wollte den Kampf gegen die Notstandsgesetze in die Provinz tragen, nach Kassel, in meine Geburtsstadt und dort über die Jusos und ein Bündnis linker Gewerkschafter in die SPD. Merkwürdig, Jürgen Seiferts Beitrag zu Ehren Abendroths macht schmerzhaft klar, was unwiederholbar ist und heute nur mehr intellektuell gepflegt werden kann. Nach 1966 haben sich meine Wege mit Wolfgang Abendroth und Jürgen Seifert weiter gekreuzt: Bei Abendroth (vgl. Abendroth 1967) wurde ich 1973 – als Mitarbeiter Iring Fetschers – zum Thema Industrie und deutscher Faschismus promoviert. Bei Jürgen Seifert habilitierte ich mich 1976 und arbeitete mit ihm seit Mitte der 1990er Jahre, angeregt durch Michael Th. Greven, in der Redaktion der vorgänge.
Jürgen Seifert redet 1966 nicht von Diskurs und Debatte. Er verwendet nicht die heute modischen bis nichtssagenden Begriffe Differenz und Dissens. Sondern er wählt schon im Titel seiner Schrift das alte Wort Kampf. Jenseits der Zeitgebundenheit zeigt dies, dass es um scharfe Gegensätze geht, wenn Rechtsform und soziale Zivilisierung von Streit und Macht angesprochen werden. Die Feindschaft bzw. ein ungleich ausgetragener Streit in einer zerrissenen Gesellschaft (Hegel) bedürfen der Regelung, für die sich seit Hobbes und Hegel Staat und Recht sowie das rechtsstaatliche Gewaltmonopol des sterblichen Gottes, des einheitlich souveränen Staates, anbieten. Gerade aktuelle, postmoderne Themen wie Akzeptanz, Identität, Differenz, Integration, ein gegenüber Laski, Schmitt und Fraenkel informell ausgeweiteter Pluralismusbegriff ebenso wie die Erosion des modernen Territorial- und Nationalstaates, ergo: alle neuen (wie alten) Unübersichtlichkeiten Jürgen Habermas‘, verlangen (ohne Telos, sondern mit Kontingenz) den Bezug zur Philosophie der aufklärerischen Moderne (so Horkheimer), will man nicht im Fluss der postmodern beliebigen Vielfalt untergehen (Hennig 2005). Anhand von Jürgen Seiferts Kampf um Verfassungspositionen kann man eine orientierende Position gewinnen bzw. heute noch politisch wie wissenschaftlich entscheidende Fragen stellen.
Der Kampf um Verfassungspositionen widerspricht Schmitts Kampf für den total starken (nationalsozialistischen) Maßnahmestaat mit seiner Pluralisierung aus der Gunst von totaler Macht. Die normativ und institutionell eingebundene Autonomie universeller Regeln steht im Zentru.m und muss heute eher breiter bedacht werden als 1966. Diese Sichtweise drängte sich mir auf, als ich den Aufsatz erneut las. Ebenso wird es mir zum Problem, ob die 1966 gesetzte Griffigkeit des Rechts als Ausdruck (und Bändigung) von Interessen noch gegeben ist, ob sich folglich der Kampf um Verfassungspositionen noch von Interessen her strukturieren und initiieren lässt bzw. ob nicht die seinerzeit schwachen universellen Implikate stärker betont werden müssen. Das mündet in die seit Marcuses Eindimensionalem Menschen klassisch gewordene Frage nach dem Subjekt der Transformation: Wer trägt einen universellen Kampf um Verfassungspositionen? Was hilft heute vierzig Jahre später die Fixierung auf SPD und Arbeiterbewegung (Gewerkschaften), wie sie als vergangene Vergangenheit, als Tragik bzw. Hassliebe bei Abendroth und Seifert zu finden ist?
Summa: Die respektvoll-kritische Lektüre von Jürgen Seiferts Kampf um Verfassungspositionen hilft einer gegenüber ihrem Ziel, Selbstbestimmung, Freiheit und Frieden, reflexiv-kritischen, auch selbstkritischen Linken.
In Verteidigung der Verfassung
Kampf warum? Es bedarf keiner Institutionen für Freundschaft, sie muss nur gepflegt werden. Somit ist Feindschaft derjenige zwischenmenschliche Zustand und Kampf derjenige Austragungsmodus, die aus einem Naturzustand heraus der Regelung und Garantie bedürfen (Geulen 2002). Laut dieser durch Hobbes und Schmitt inspirierten Sichtweise regt primär Feindschaft an, über Konflikte, deren Gründe und Austragungsformen sowie über Ordnung und Zivilisierung seitens des Staates mit rechtlichen Mitteln nachzudenken. Dagegen sei Freundschaft weniger produktiv, gewissermaßen privat langweilig. Im Konflikt und Ausnahmefall gelten die Sanktionsgewalt und das Gewaltmonopol des (Rechts)Staats. Dieser Meinung sind Hobbes und Schmitt, die zudem die negative Anthropologie eines bösen, misstrauischen, intelligenten Menschen an den Anfang stellen. Die Vertreter des Institutionalismus sind ebenfalls der Ansicht, soziales und politisches Zusammenleben bedürfe einer verbindlichen, dauerhaften Regelung. Auch die Theoretiker der Arbeiterbewegung begreifen die kapitalistische Gesellschaft mit ihrer fundamentalen Ungleichheit von Kapital und Arbeit als unfriedliches Terrain. Um die Machtordnung und deren institutionelle Gestalt, um Herrschaft in einer kapitalistischen Gesellschaft wird im Klassenkampf gerungen, wenn die Klassen ihr Interesse erkennen und sich vom An Sich der Struktur zum Für Sich des politischen Klassenbewusstseins konstituieren. Im 18. Brumaire, einer nicht-kategorialen politisch-kulturellen Analyse, zeigt Marx, dass dies ein schwieriger und oft gebrochener Prozess ist.
Jürgen Seifert entwickelte sein Thema 1966 ausgehend von Lassalle und Abendroth. Abendroths Werk das unterstreicht Seifert durchziehe, kritisch gerichtet an die SPD, der fast beschwörende Appell, die demokratische Verfassung des Grundgesetzes zu verteidigen. Das stimmt. Dennoch ist Jürgen Seifert besonders seit 1968, seit der Neugründung der DKP, glaubwürdiger und wird es immer mehr: Eine Opportunität gegenüber der DDR und dem Marburger MSB-Spartakus bringt Abendroth bisweilen zum Verstummen oder gar zur Rechtfertigung, auch wenn jene wissenschaftlich und politisch unsägliche Festschrift zu seinem 65. Geburtstag ihm nicht direkt angelastet werden soll(te) (BRD DDR 1971). Es gibt keine Opportunität in Rechts- und Verfassungsfra-gen: Diese Mahnung Abendroths ist wohl mehr von Jürgen Seifert befolgt worden als von ihm selbst. Der Kampf um Verfassungspositionen muss unabhängig und kritisch geführt werden.
Der Begriff Kampf bei Jürgen Seifert
Dass Jürgen Seifert den Begriff Kampf benutzt, ist von Bedeutung. Er verwendet das Wort nämlich mehrmals in diesem Kontext: Zweimal 1966, wiederum 1974 und 1994; 1985 setzt er sich mit der Bedeutung des Kampfes in Carl Schmitts Begriff des Politischen auseinander, diesen Aufsatz publiziert er 1997 erneut. Die Wiederholungen zeigen: Die Wendung vom Kampf um Verfassungspositionen wird bewusst verwendet. Im seinerzeitigen Kontext der formierten Gesellschaft Ludwig Erhards als Ende der Nachkriegszeit versteht sich dies eher als heute (Schäfer/Nedelmann 1967).
Im Sinne der Codierungsregeln von Jürgen Seifert, Carl Schmitt und Niklas Luhmann ist vorab der Gegenbegriff, hier das Kontra zum Kampf, zu benennen. Laut Luhmann bewegt sich jedes System um einen bipolaren Kern von Typ versus Antityp, von Innen und Außen und dann von Autopoesie im System. Carl Schmitt fasst diese Abgrenzung und Bewegung allgemeiner und charakterisiert darüber die Bezeichnungskraft eines Begriffs: Alle politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte haben einen polemischen Sinn; sie haben eine konkrete Gegensätzlichkeit im Auge, sind an eine konkrete Situation gebunden, deren letzte Konsequenz eine (in Krieg oder Revolution sich äußernde) Freund-Feind-Gruppierung ist […] Worte […] sind unverständlich, wenn man nicht weiß, wer in concreto durch ein solches Wort getroffen, bekämpft, negiert und widerlegt werden soll. (Schmitt 1933: 13; [1963: 31]
Diesen Gegensatz gilt es zu bedenken, um die Bedeutung des Kampfes um Verfassungspositionen aufzuschließen. Richtet sich die Redeweise vom Kampf gegen diejenige der Freundschaft, der Liebe, der Teilnahmslosigkeit im Umgang, der Niederlage und dem Verlust, der Hinnahme von Änderungen ohne Streit um nur einige denkbare Gegenpositionen anzuführen? Seifert grenzt 1966 Recht von Politik (Macht) ab, 1985 grenzt er Kampf von Solidarität ab bzw. identifiziert ihn im Sinne Schmitts mit bloßer Politik. Der Gegenpart bezeichnet in Seiferts Worten 1985 die nicht […J von den wirklichen Lebensumständen abgehobene […] Ebene des Politischen bzw. die bloße Politik (im Sinne der Schmitt’schen Intensität von Freund oder Feind, Krieg und Bürgerkrieg).
In diesem Sinne eignet dem Kampf um Verfassungspositionen 1966 die (zeitweilige) Zivilisierung einer Transformation von Feindschaft bzw. Kampf in Rechts- und Verfahrensregeln, die seitens der Arbeiterbewegung an gemeinsamer Unterstützung und Stärkung (Solidarität) ansetzen. 1985 fordert Seifert, normativ und akzeptanzphilosophisch, neue Formen gegenseitiger Hilfe, Anerkennung des Andersdenkenden, ein Mehr an partnerschaftlicher Beziehung (Seifert 1985: 30). Ist dieses Ziel anders als 1966, als es um SPD und Klassenkampf, nicht um Postmaterialismus und Grüne gegangen ist? Jedenfalls weist der verschobene Akzent auf Lernprozesse Jürgen Seiferts hin.
Im Kontext von 1966, dem Geburtsjahr des Kampfes um Verfassungspositionen, ist im Kontext der Studentenbewegung viel von Kampf die Rede: strukturell von Klassenkampf, und individuell bzw. gruppensoziologisch vom Kampf gegen das, was kaputt mache. Kurze Zeit später, ab 1968/69, geht es um bewaffneten Kampf, ab 1969 sogar um Terror (wobei der Begriff zunächst links positiv vereinnahmt wird als die entschiedene Form des gebotenen Kampfes und der Solidarität mit Vietnam und Palästina). Aus einer Urszene des deutschen Terrors (und Antisemitismus) tönt ein Kernsatz: Wenn wir den Kampf nicht aufnehmen, sind wir verloren (Dieter Kunzelmann, zit. n. Kraushaar 2005: 701). Die grünen Akzente, die Jürgen Seifert 1985 für Freundschaft/Partnerschaft/Solidarität setzt (ist er doch gegen eine Nur-Politik), tauchen im politischen Kontext Mitte der 1960er Jahre nicht bzw. nur gruppenintern für den eigenen Zusammenhalt auf. Der Feind im Klassenkampf sind die Machtverhältnisse zu Ungunsten der Arbeiterbewegung, der Gewerkschaften und der außerparlamentarischen Opposition verschiebenden politischen und sozialen Kräfte (1966 erwähnt Seifert hier primär die SPD, wie sie ihre Antrittsprinzipien verlässt), denen die Gegenspieler (Seifert erwähnt die Gewerkschaften, vor allem die IG Metall) als politische Kräfte […], die sehr wachsam sind, gegenübertreten. Die Bezeichnung der Konfliktparteien fällt 1966 seltsam vage aus. Vermutlich möchte Jürgen Seifert Polarisierung meiden, um vor allem innerhalb der Gewerkschaften Bündnisse zur Verteidigung von Verfassungspositionen zu gewissen.
Im Kern geht es um die austromarxistische und bonapartismustheoretische Figur des Klassengleichgewichts, wenn die einen, die Bourgeoisie, nicht mehr, die anderen, das Proletariat, noch nicht richtig regieren können. Die Verfassung erscheint als Summe von Waffenstillstandsbedingungen, als Interessen in Form verfassungsrechtliche[r]
Sicherungen. Der Kampf besteht in der Änderung dieser Regelungen, so dass Interessen qua Macht durchgesetzt werden. Kampf heißt es, weil dies nicht als Nullsummenspiel und Win-Win-Konstellation zu begreifen ist. Des einen Pro ist des anderen Minus. Verliert die Arbeiterbewegung, verliert auf jeden Fall die soziale Demokratie, aber selbst die politische Demokratie wird autoritär und instabiler (siehe das Konzept der formierten Gesellschaft“). Gegen diesen Kampf zur Veränderung der Fixierung ist der Kampf um Verteidigung, Stabilisierung und (idealiter) Ausbau der Waffenstillstandsbedingungen notwendig. Das ist 1966 für Jürgen Seifert unumgänglich, so wie er wachsam in die Schubladen der politischen Mächtigen hineinschaut und dort zukünftige Machtänderungen in Form der sog. einfachen Notstandsgesetze, der Schubladengesetze, erblickt. Sensibilität für diese Dialektik des Kampfes um Verfassungspositionen im Kampf um Erhalt, um Plus und/oder Minus fordert Jürgen Seifert politisch ein. An diesem Punkt schlägt die Analyse in eine Feind- und Frontbestimmung um. Gleichzeitig kann man hoffen, dass im (Verteidigungs)Kampf um die Verfassung Rechtsnormen, Instanzen und Institutionen eine bändigende Rolle spielen und die vorangegangene totale Maßnahmegewalt im faschistischen Non-State des irrationalen Zusammenspiels von autoritärem Staat, autoritärer Persönlichkeit und totalitärem Monopolkapital verhindern. Dies fasst die faschismustheoretische Sichtweise der Frankfurter Schule mit Ernst Fraenkels Dual State und Franz Neumanns Behemoth zusammen, verweist somit auf wichtige Bezugstheorien von Jürgen Seifert.
Jürgen Seifert schildert 1966 die Sicht der durch die Verfassung geregelten Auseinandersetzungen und die Hoffnung auf den demokratisierenden Kampf gegen den autoritären Kampf um bzw. gegen Verfassungspositionen folgendermaßen:
Die Auslegung der Verfassung als Waffenstillstandsbedingungen ist nicht lediglich von akademischem Interesse. Das Bild der Waffenstillstandsbedingungen beeinflußt das eigene Verhalten. Bei Waffenstillstandsbedingungen erwartet niemand, daß sie sich von selbst realisieren. Waffenstillstandsbedingungen setzen voraus, daß die Gegenspieler ihre Interessen selbst wahrnehmen, die markierte Grenzlinie selbst überwachen, jede Verletzung registrieren und zur Sprache bringen gegebenenfalls vor der vereinbarten Schiedsinstanz. Noch wichtiger als die Möglichkeit einer Anrufung einer Schiedsinstanz ist die Drohung, daß bei einer fundamentalen Verletzung der Waffenstillstandsbedingungen die Auseinandersetzung mit anderen Mitteln wiederaufgenommen wird. (Seifert 1966: 7)
1966 verlässt Seifert die Rechtsposition (zugunsten von Politik und Öffentlichkeit) dann, wenn sie im Kampf zerschlissen ist und keinen Waffenstillstand garantiert. An diesem Punkt plädiert er 1966 für ein Schmitt’sches Politikverständnis. Der Kampf um die Verteidigung von Verfassungspositionen endet in der Drohgebärde eines außerrechtlichen Widerstandes, ergo im Verweis auf eine Politik der Unterscheidung und dichotomen Gegenüberstellung der äußerste[n] Intensität einer Verbindung oder Trennung (Schmitt). Sieht man den Kampf so, wie dies Jürgen Seifert 1966 tut und 1994 nochmals bekräftigt, folgt man Max Webers Feststellungen in Wirtschaft und Gesellschaft (I, § 18) zur Bestimmung von Kampf als Durchsetzung des eigenen Willens gegen Widerstand bei entsprechender Verschiebung der Chancen, dann scheiden die vom Bestand der Verfassung ausgehenderen, sentimentaleren Ziele von 1985 Solidarität, Partnerschaft, Anerkennung, Gegenseitigkeit aus. Der Kampf um Verfassungspositionen wird nicht auf dem Kirchentag ausgetragen, bzw. er sprengt, wenn er politisch wird, das dort verwendete Vokabular und vermischt nicht Forderung mit Kampf.
1985 glaubt Jürgen Seifert wohl im Rekurs auf die versiegten Klassenkämpfe in einer Bundesrepublik mit scheinbar ewiger Konjunktur und einer das stetige Mehrprodukt verteilenden Politik gegen Carl Schmitt den guten Willen der selbstbestimmt und gerecht Denkenden ansprechen zu können. Gegen Schmitts bloße Politik i.e. eine Art dreckige Politik, hinter deren Nutzen die Kosten, die Opfer und das Leid aufscheinen wird 1985 eine andere normative Sicht, die des Postmaterialismus ohne political action (jenseits des deutschen Herbstes 1977), gestellt. 1966 (und 1994) argumentiert Jürgen Seifert politischer, sieht tiefere Spaltungs- und Formierungslinien in der deutschen und kapitalistischen Gesellschaft und Parteienlandschaft. Die eine Falle ist der Gutmensch, die andere ist die bloße Politik, ist die Drohung, die Auseinandersetzung, um Verfassungstitel mit anderen Mitteln fortzusetzen bzw. fortsetzen zu können. (Hier wäre allein eine präzise Machtanalyse ein Korrektiv.)
1966 verweist Jürgen Seifert beiläufiger auf den Eigenwert, die Autonomie des Rechts für eine Konfliktregelung durch Verfahren (so Jürgen Habermas). 1966 bleibt die Autonomie des Rechts im Grau von Licht und Schatten, diese Regelungen (ebenso wie der politische Pluralismus) werden als Täuschung, als Verwischung wiederum schmittianisch gesehener Konflikttiefen, Formierungs- und Frontlinien (Cleavages) gesehen. Reform, Sozial-Demokratie und Pluralismus verbergen den latenten Klassengegensatz. 1966 entgeht Jürgen Seifert deshalb der Reduktion von Recht nur auf Macht eben ohne Autonomie, ohne eine per se gegebene Regelungsqualität des Rechts, der Rechtsform bzw. des Norm- und Rechtsstaats nicht weit genug. Der Bezug zur Macht bzw. zur politischen Funktion des Kampfes um Verfassungspositionen (Seifert 1966: 5) hat eine größere Bedeutung, ergibt sich aus der Parteinahme für die Arbeiterbewegung, während überschießende, nicht nur in Macht aufgehende Gehalte wie Wertmaßstäbe, Grenzlinie[n], Freiheitsrechte, Drittwirkungen (über den staatlichen Bereich hinaus) und Formelemente für Konflikte zurücktreten.
Es ist bezeichnend, dass Jürgen Seifert 1966 seinen Aufsatz mit Lassalle beginnt und beendet. Lassalle, eine Art linksgewendeter Bismarck3, verkennt in seinen Vorträgen Über Verfassungswesen 1862 die Rechtsform in finsterer, spätmonarchistischer Zeit (die bis 1966 nicht einfach zu verlängern ist). Lassalle reduziert Recht und Verfassung, streng wissenschaftlich (so heißt es gleich zu Beginn des Vortrags) auf die tat-sächlichen Machtverhältnisse, die in einer gegebenen Gesellschaft bestehen. Die Form, die Regelungen, die Sicherungen, die Instanzen etc., diese 1862 in Preußen in der Tat schwachen Brechungen jener tatsächlichen Machtverhältnisse, spielen für Lassalle keine Rolle. So kommt er zu seinen für die obwaltende Machtperspektive klassischen Aussagen: das Heer, die Kanonen, der Adel, die großen Industriellen: das jeweils ist ein Stück Verfassung. Zusammengefasst: Wir haben jetzt […] gesehen […] , was die Verfassung eines Landes ist, nämlich: die in einem Lande bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse. (Lasalle 1963 [1862]: 27ff., 34)
1966 bezeichnet man als linker Intellektueller diese reale Politik und Verfasstheit als Verfassungswirklichkeit. Der Band Der CDU-Staat dokumentiert diese Sichtweise 1967 nahezu idealtypisch (Schäfer/Nedelmann 1967); idealisierend werden dem die Verfassung, die Normen aus Sicht einer Aufklärungsphilosophie, gegenübergestellt. Jürgen Seifert will die Verfassung unter dem Gesichtspunkt einer Waffenstillstandsvereinbarung analysieren und beruft sich dabei auf Wolfgang Abendroth, auf die Arbeiterbewegung, die die politische Funktion des Kampfes um Verfassungspositionen vor der SPD in der Notstandskoalition gekannt hat. Jürgen Seifert fällt in die Falle der Verkürzung auf die Machtanalyse und die Beschreibung von Machtprozessen. Aus der kulturalistischen Sichtweise des Anti-Schmitt von 1985 handelt es sich 1966 um eine politische Reduktion, um bloße Politik. Dagegen gilt es, eine Sichtweisen zu bestärken, die die Verfassung als Maßstab betont, um Mißbrauch als Mißbrauch zu entlarven (Abendroth 1963 zit. n. Seifert 1966: 10).
Kämpfen und Fragen
Dieser Kampf nicht jener, den Dutschke beschworen hat wird weitergehen, solange die Gesellschaft kontrovers sich als ein Gemeinwesen konstituieren will und von der Basis ökonomischer Ungleichheit und personaler Entfremdung ausgehen muss. Dies ist, wie Jürgen Seifert zeigt, zugleich ein Kampf mit dem Fehler, Macht omnipotent zu setzen oder Macht zu verdrängen, um ins Reich schöner Normen zu flüchten. Die Idealisierung von 1985 erscheint dabei heute von geringer Tragfähigkeit, während die Fixierung auf Interessen, wie sie die Sichtweise von 1966 bestimmt, nur mehr bezüglich der Kapitalinteressen gegeben zu sein scheint, und auch das nicht mehr im nationalstaatlichen Rahmen.
In diesem Sinne trifft die Schlusskritik von Jürgen Seifert an Carl Schmitt zu: Immer dann, wenn die demokratische Legalität bei der Aufrechterhaltung antagonistischer Gesellschaftsstrukturen zur Fessel wird, kommt die Stunde der Theorien von Carl Schmitt. (Seifert 1997: 30) Diese Stunde kommt links wie rechts. Zum Problem wird die Bestimmung vor allem dann, wenn die Zuspitzungen auf Ziel und Gegenüber sowie auf Interessen verschwimmen. In diesem Drifting ist die verfassungspolitische Theorie heute gefordert. Diesbezüglich lässt sich mit Jürgen Seiferts Aufsatz des Jahres 1966 gerade im Vergleich mit der Position von 1985 viel lernen und bedenken. Manchmal ist es schon von großer Bedeutung, wenn man in der Lage ist, eine treffende Fragestellung zu formulieren. Hierbei kann und wird Jürgen Seiferts Kampf um Verfassungspositionen ohne jede Frage noch lange helfen.
[1]gl. schmittianisch in der Gegensatzargumentation Kunzelmanns Brief aus Amman (1969) in: Kraushaar 2005: 68 ff. und zur Wirkung von Carl Schmitt ebd.: 71.
[2]r Schlusssatz in Seifert 1994 lautet: in Zukunft (werde) der Kampf um Verfassungspositionen politisch geführt.
[3] iese Formulierung verdanke ich Ruedi Walther beim Waldlauf.
174 vorgänge Heft 3-4/2005, S. 166-174
Literatur
Abendroth, Wolfgang 1967: Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied/ Berlin Geulen, Christian u.a. 2002 (Hg.): Vom Sinn der Feindschaft, Berlin
Hennig, Eike 2005: Der Begriff der Politik bei Max Weber und Carl Schmitt; in: Beilecke, Fran~ois/ Marmetschke, Katja (Hg.): Der Intellektuelle und der Mandarin, Kassel, S. 161-184 Kraushaar, Wolfgang 2005: Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus, Hamburg
Laak, Dirk vanlVillinger, Ingeborg 1993 (Hg.): Nachlass Carl Schmitt, Siegburg Lassalle, Ferdinand 1963 [1862] :Über Verfassungswesen, Darmstadt Schäfer, Gert/Nedelmann, Carl (Hg.) 1967: Der CDU-Staat. Studien zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, München
BRD-DDR 1971: Vergleich der Gesellschaftssysteme, Köln
Schmitt, Carl 1933: Der Begriff des Politischen, Hamburg [Ausg. Berlin 1932; Neuaufl. Berlin 1963] Seifert, Jürgen 1966: Der Kampf um Verfassungspositionen; in: neue kritik, April (ebenso in: vorgänge 1966, H.7 und Seifert 1974: 105ff.)
Seifert, Jürgen 1974: Der Kampf um Verfassungspositionen, Köln/Frankfurt Seifert, Jürgen 1994: Um Verfassungspositionen politisch kämpfen; in: links, Sept./Okt., S. 10/11 Seifert, Jürgen 1997 [1985]: Durch totalen Krieg zum totalen Frieden. Carl Schmitt als Theoretiker der Gegenrevolution; in: Ders., Politik zwischen Destruktion und Gestaltung, Hannover, S. lff.