Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Jenseits der grünen Mitte

Eine geistig – moralische Wende von links

aus: Vorgänge Nr. 171/172 ( Heft 3/4/2005), S.34-39

Die Linke in der Krise? Kaum war die Bundestagswahl geschlagen und mit Rot-Grün das links-ökologische Projekt der Bonner Republik endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet, erlebte man die parlamentarische Linke schon wieder in erstaunlicher Selbstzufriedenheit.

Kein Wunder, denn allzu große Wunden waren ja scheinbar nicht zu lecken – im Gegenteil. Lange Zeit hoffnungslos abgehängt, wurde auf den letzten Metern das Schlimmste verhindert: Die SPD war nur knapp geschlagen, die neue Linkspartei erreichte aus dem Stand 8,7 Prozent, und die potentielle rot-rot-grüne Koalition avancierte prompt zum informellen Wahlsieger.

Doch den tatsächlichen Zustand der Linken verfehlt, wer ihn derart parteipolitisch verengt. Die tatsächliche Krise ist eine geistige. Intellektuelle Strahlkraft geht von dieser Linken nicht mehr aus. Und ihre Krise beginnt eben da, wo sie als solche gar nicht erst wahrgenommen wird. Was heute auf der Linken herrscht, ist bräsige Selbstgefälligkeit, ohne jede Streitlust.

Allen voran bei der SPD: Zwar hatte man soeben die Kanzlerschaft verloren, neben-bei noch einen scheinbar allmächtigen Parteivorsitzenden, ob aus Unvermögen oder gezielt, ins parteipolitische Jenseits befördert, aber prompt präsentierte man einen neuen Strahlemann und feierte weiter, als wäre nichts geschehen. Ex oriente lux heißt jetzt die Devise oder, ins Sozialdemokratische übersetzt: „Jetzt geht’s loos”, dann eben mit Matze Platzeck. Dass Gerhard Schröder, keine zwei Wochen aus dem Amt – man hatte sich kaum an die Bezeichnung „Altkanzler” gewöhnt —, noch ganz nebenbei die Kanzlerschaft gegen die Rolle des Steigbügelhalters von Genosse Putin eintauschte, spielte da auch schon keine Rolle mehr. Für ihn jedenfalls, so der neue Parteivorsitzende, bleibe der Kanzler ein „völlig integrer Mann”. Soviel Eintracht war nie.

Größer waren Realitätsverdrängung und Selbstgefälligkeit nur bei der Linkspartei. Keiner reckte sich so ersichtlich siegesbewusst und genüsslich in seinen Sitzen wie die beiden vormaligen Hinschmeißer und jetzigen Comebacker des Jahres, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi. Jede ihrer Gesten signalisierte: „Da sind wir wieder! Schön wieder dabei zu sein!” Doch sollte die „neue” Linke in Deutschland tatsächlich jene neue parlamentarische Linkspartei sein, dann sieht sie in der Tat uralt aus: eben so alt wie ihre beiden Vorreiter und ihre zahlreichen Adepten auf dem frisch eingerichteten Parteitagspräsidium. Immerhin: Die alten Männer werden stets eingerahmt und angehimmelt von hübschen Jungpolitikerinnen wie Katja Kipping. Diese neue „Linke” ist die Partei der alten Männer mit weiblichem Zierrat.

Allgemeine Wachs­tums­gläu­big­keit

Dass es alles andere als rosig um die deutsche Linke bestellt ist, zeigt der Blick auf die Inhalte ihrer Politik. Faktisch unterscheiden sich die beiden Varianten der Sozialdemokratie nur in Nuancen. „Arbeit, Arbeit, Arbeit” hieß es bei der SPD schon vor Jahren. Oder, fast identisch im Jargon der Linkspartei, damals noch PDS: „Arbeit soll das Land regieren”. ,Wachstum, Wachstum über alles‘ lautet beider Devise. Konsumverzicht war gestern, heute ist Konsumieren geil, damit die deutsche Wirtschaft brummt. Und dafür braucht man das Volk – als konsumierende Masse. Denn über allem schwebt das moderne Damoklesschwert namens Rückgang der Binnennachfrage. Und nur jene schaffe und erhalte deutsche Arbeitsplätze. Diese sozialdemokratisch-materialistische „Fortschritts“-Linke ist also mitnichten neu, sondern uralt.

Doch mehr noch: Tatsächlich eint der Fetisch „Wachstum” eine ganz große Koalition von links bis rechts. Ob Neoliberalismus oder Keynesianismus: Allerorten herrscht pure Tonnenideologie. Was wir derzeit erleben, ist die ganz große Koalition des Konsumismus zur Verteidigung der westlichen Wohlstandinseln. Während sich die SPD als nationale Standortpartei im Kampf gegen ausländische Heuschrecken präsentiert, propagiert das Parteiprogramm der CDU ganz unverhohlen: „Ohne Wachstum ist alles nichts”. Erstaunlich genug für eine Christ-demokratische Partei, die doch eigentlich andere oberste Werte haben sollte. Doch wer würde sich heute noch über den Allgemein-platz der Wachstumsvergötzung aufregen?

Und an dieser Stelle beginnt das Problem: Dramatisch wird die Sache nämlich dann, wenn mit Wachstum auch alles nichts ist. An diesem Punkt scheinen wir uns heute zu befinden. Denn das Einzige, was in den letzten Jahren stetigen wirtschaftlichen Wachstums gewachsen ist, ist das Millionenheer der Arbeitslosen. Sozial ist, was Arbeit schafft? Die Ironie an der Geschichte: Diese Gesellschaft schafft es mit bloßem Wirtschaftswachstum gerade nicht, Arbeit zu schaffen. Im Gegenteil: Das Phänomen des jobless growth hat sich im Dienstleistungskapitalismus radikal verschärft. Immer mehr führen Wachstumsgewinne zu arbeitsplatzvernichtenden oder -verlagernden Investitionen. Immer deutlicher wird, dass es sich bei den Goldenen Jahrzehnten der Vollbeschäftigung um ein Transitorium des Kalten Krieges handelte, eine Übergangsgesellschaft in Ost und West, die mit 1989 und dem Einbruch der neuen Globalisierung endgültig an ihr Ende gelangt ist. Schon deshalb betreiben sowohl Linke als auch Konservative mit ihren Wachstumsparolen schlicht Augenwischerei.

Was ist heute links?

Was also wäre heute links? Heute hätte die moderne, neue Linke nicht fortschrittsgläubig, sondern wieder wachstumskritisch zu sein. Diese Linke steht heute nicht am linken Rand des Parlaments, sie steht in dessen grüner, bürgerlicher Mitte. Vielmehr: Sie könnte dort stehen, wenn dort nicht die realexistierenden Grünen stünden.

Dafür spricht schon die Geschichte: Ob im Falle von Marx und Engels, ob 1848 oder auch 1968 und 1989 — stets kam die neue Linke aus der Mitte, war sie, jedenfalls in ihren revolutionären Vordenkern, ein zutiefst bürgerliches Phänomen. Aus gutem Grund: Bekanntlich kommt die Moral, wenn sie denn überhaupt entsteht, erst ab einem gewissen Sättigungsgrad, der den Kopf frei macht für anderes als die Primärbedürfnisse. Auch deshalb entstanden in den späten 1970er Jahren in bürgerlichen Kreisen die post-materialistischen Grünen gegen eine selbstgefällig materialistische SPD. Schon die damaligen Grünen waren ein Kind der Krise der parteipolitische Linken und der Unsensibilität der Sozialdemokratie. Der einsetzende Wertewandel war damals wahrlich nicht bei der Schmidt-SPD zu Hause.

Auch heute fehlt es der sozialdemokratischen Linken ersichtlich an Krisenbewusst-sein und an der Sehnsucht nach Visionen. Und auch ansonsten gibt es erstaunliche Parallelen: Schon damals waren die Grünen eingeklemmt zwischen Wachstumsfetischisten von links und rechts. Umgekehrt lag in den 1970er Jahren gerade in der Krise und im fundamentalen Zweifel an der westlichen Industriegesellschaft das eigentliche Potential der Neuen Linken, aus der die Grünen hervorgingen.

Heute jedoch sind auch die Grünen ideell-programmatisch entkernt und zu bloßen Pragmatikern im Dienste der parlamentarischen Gesäßgeographie geworden. Durch die allgegenwärtige demoskopische Ausdeutung angestachelt, interessieren sie sich primär für kommende Koalitionsalternativen. Die Grünen reduzieren sich auf diese Weise zum bloßen Zünglein an der Waage kommender Mehrheitsspekulationen.

Hier rächt sich, dass die Grünen vom „Realismus” Joschka Fischers gleichsam fundamentalistisch auf bloße Regierungstauglichkeit getrimmt wurden. „Opposition ist Mist” scheint heute auch die grüne Devise zu lauten. Schlimmer noch: Die charismatische Ausstrahlung, die den Grünen ursprünglich auch über ihre Inhalte zugeschrieben wurde, verengte sich völlig auf die Figur Fischer und ihre karrieristischen Brüche und Häutungen. Am Ende von Rot-Grün war Joschka Fischer die grüne Partei, und die Grünen waren Joschka Fischer.

Hinzu kam, dass Fischer es virtuos verstand, seinen „Realismus” auf Kosten der vorgeblich pubertären Partei zu inszenieren. Fischer inszenierte sich selbst als der „Moses der Bewegung” (Claus Christian Malzahn), der für diese das Wasser teilte. Das Charisma fokussierte sich so allein auf den großen Führer, der folgerichtig nach seinem politischen Abgang die Fallhöhe klarmachte: Nach ihm als letztem „Live-Rock’n Roller der deutschen Politik” käme jetzt in allen Parteien die „Playback-Generation” — also auch bei den Grünen. Aus dieser totalen Personalisierung resultierte eine inhaltliche Unsichtbarkeit der Partei, an der sie heute krankt.

Die geistig-­mo­ra­li­sche Wende von links

Was heute dagegen not und den Grünen gut täte, wäre eine geistigmoralische Wende von links: die Besinnung auf das Inhaltliche, weg von der Dominanz des Technokratisch-Strategischen. Gesucht wird die postmaterialistische Linke des neuen Jahrhunderts. Dafür aber müssen jene Inhalte wieder entdeckt werden, die in den vergangenen zwanzig Jahren auf der Strecke blieben, vor allem die Kapitalismus- und Konsumkritik.

Diese Inhalte finden sich jedoch heute zu erheblichen Teilen wieder dort, wo sie einst herkamen: auf der Seite der konservativen Kulturkritik. Heute sind die Herren Di Fabio, Nolte und Miegel die entschiedensten Propagandisten eines Wertewandels — allerdings nicht hin zu post-materialistischen Werten, sondern zurück zu der guten alten Zeit, zu Familie, Leistung, Anstand und Sitte. Also zu exakt jener protestantischen Ethik, die die Linke oft leichtfertig als bloße Sekundärtugend verunglimpfte.

Die Sache hat jedoch einen Haken: Auch Konservative wie Di Fabio, die das Arbeitsethos der 1950er Jahre propagieren, können nicht erklären, wo die Arbeit in Zukunft überhaupt herkommen soll. Offensichtlich kommt Marx erst heute, im globalisierten Turbokapitalismus, ganz zu seinem Recht. Stündlich wächst in den westlichen Industriegesellschaften die industrielle Reservearmee — eine „Reserve” jedoch, die niemand mehr einwechselt, da die billigeren, aber zunehmend hoch-qualifizierten Einwechselspieler im Süden leben. Mit schlichten Appellen an die Arbeitsmoral kommt der Westen hier nicht weiter.

Heute stellt sich die Frage, wie die Arbeitsgesellschaft, der die klassische Erwerbsarbeit ausgeht, zukünftig weiter existieren kann. Denn Arbeit ist in den westlichen Industriegesellschaften weit mehr als bloße materielle Existenzgrundlage des Einzelnen. Sie ist Sinnstiftung und primäre Glücks- und Anerkennungsressource. Kurzum: Diese Gesellschaft hängt am Fluss der Arbeit, doch die Quelle scheint mehr und mehr zu versiegen. Wie aber ist Integration, wie ist soziale Sicherheit zu leisten, wenn nicht mehr über Arbeit? Die Zukunft der Industriegesellschaften hängt entscheidend an der Beantwortung dieser Frage.

Wer die Antwort auf diese Frage geben kann, avanciert, so Meinhard Miegels über-zeugende Prognose, zur Avantgarde nicht nur für das alte Europa, sondern bald auch für die immer größer werdende industrialisierte Welt. Dies müsste allerdings eine Avantgarde nicht der permanenten materialistischen Fortschrittsbegeisterung sein, sondern eher der Aufräumarbeit an dem, was in gut zwei Jahrhunderten industrialistischer Zerstörung angerichtet wurde. Heute wäre „schöpferische Zerstörung” im Sinne Schumpeters wohl eher in Richtung einer intellektuellen Reparatur des kapitalistisch Zerstörten und der Pflege der vorindustriellen Traditionen zu denken.

Genauer traf es Walter Benjamin mit seiner klassischen Uminterpretation des alt-linken Fortschrittsverständnisses: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Vielleicht ist dem ganz anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.” Wer heute, da wir alle im ICE eines immer rasenderen Kapitalismus sitzen, in der Lage wäre, diese Notbremse nur zu erkennen, stünde an der Spitze wirklichen Fortschritts. Für eine neue Linke und insbesondere für die Grünen kommt es deshalb darauf an, den Abschied von der Industrie- und Arbeitsgesellschaft nicht durch stupide Aufrufe zum Konsumismus bloß zu verlängern, sondern ihn post-materialistisch vorzudenken. In der Tradition der kritischen Theorie wird Zivilisations- und Industrialismuskritik mehr denn je zur geschichtlichen Notwendigkeit. Im Konservativen, im Bewahrenden läge, wie schon bei den bürgerlichen Grünen der 1970er/80er Jahre, das eigentliche Revolutionäre.

Die Avantgarde der Alten

Früher wollten die Grünen weder links noch rechts, sondern schlicht vorne sein. Vorne und damit gerade links, allerdings im Sinne post-materialistischen Fortschritts, wäre heute ein Nachdenken darüber, wie ohne die Glücksressource Arbeit gesellschaftlicher Zusammenhalt, gesellschaftliches Glück und die Bewahrung der natürlichen Umwelt möglich sind. Doch offensichtlich wachsen in der Republik derartige Gedanken gegenwärtig kaum nach. Anders als noch in den 1970er und 1980er Jahren fehlt den Jüngeren die post-materialistische Emphase – ungeachtet der ersichtlich immer dramatischeren globalen Zustände. Auch wenn kurzzeitig Attac modern zu werden schien: Längst hat sich der mediale Hype gelegt, wirken die Altermondialisten wieder eher im unscheinbar Verborgenen. Die gesellschaftliche Empörung über globale Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Schöpfung ist weitgehend verschwunden.

Den Geist der Zeit, gerade der jungen Generation, bestimmen vielmehr zynische „Vordenker” wie Harald Schmidt. So erklärt sein treuer Jünger, der Popliterat und Trendsetter Benjamin von Stuckrad-Barre: „Was mich betrifft, ist es wie mit der deutschen Musik: Ich habe weder eine Bewegung losgetreten, noch sehe ich mich an irgendeiner Spitze. Ich bin asozialer Alleinkämpfer wie alle anderen. Für das, was hinterher kommt, ist man nicht verantwortlich.”

Wenn aber selbst der Jugend im immer früher einsetzenden Kampf um Anerkennung und Karriere zunehmend der moralische Rigorismus abhanden kommt, fällt der Blick notwendigerweise auf die Alten. Und so könnte es sein, dass wir lernen müssen, in der vielbeschworenen Überalterung der Gesellschaft die eigentliche Chance zur Veränderung zu sehen. Wo, wenn nicht im Alter und der mit ihm einher gehenden Verlangsamung und Vergeistigung fände die Wende zum Weniger, der Abschied vom Materiellen Widerhall?

Obwohl die „neuen Kreativen” in Werbung und Marketing derzeit alle Anstalten unternehmen, um gerade die Alten als Konsumenten für die kapitalistische Wachstumsgesellschaft zu erobern, sind die Voraussetzungen für Renitenz und intellektuellen Widerstand gerade bei dieser Generation tatsächlich nicht schlecht. Bereits in den 1970er Jahre wanderte dieselbe Generation, die heute zu den Alten zählt und damals die neue Linke stellte, in großer Zahl geistig in den Osten, um nach dem Ende der revolutionären Illusionen ihr Heil in der Kontemplation zu suchen. Vielleicht müsste heute, da der gan-ze Osten, von China bis Indien, zur Verwestlichung aufbricht, der Westen seine Genesung in der Tat wieder stärker jenseits seiner industrialistischen Traditionen suchen.

In dieser Besinnung auf das Bewahrende, das in den großen Geistestraditionen des Westens und des Ostens angelegt ist, von der christlichen Mystik bis zur Weisheit des Buddhismus, könnte heute vielleicht am Ehesten ein neues revolutionäres Potential stecken. Im entschiedenen Innehalten gegen die Raserei des Kapitalismus liegt jedenfalls weit mehr neu-linkes Ethos als in allen konsumistischen Wachstums- und Fortschrittsutopien altlinker Couleur.

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