Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Der Mythos des indivi­du­a­li­sierten Wählers

Soziale Milieus, gesellschaftspolitische Lager und die Chancen für einen neuen historischen Kompromiss in Deutschland*

aus :Vorgänge Nr. 171/172 (Heft 3-4/2005), S. 56-73

Die Bundestagswahl im September 2005 hat eine neuartige Situation geschaffen. Die Wählerinnen und Wähler haben einer Modernisierung, die die soziale Balance außer Acht lässt, eine Abfuhr erteilt. Die beiden Volksparteien haben für ihre Wunschkoalitionen keine Mehrheit erhalten und müssen sich mit Alternativen auseinandersetzen, die von den erstarkten drei kleinen Parteien repräsentiert werden. Das Ergebnis hat den modischen Konzepten der letzten Jahre, dem „volatilen Wechselwähler” und „der neuen Mitte”, den Boden entzogen. Aber auch die umstandslose Rückkehr zu traditionellen Umverteilungskonzepten wäre nicht mehrheitsfähig.

Die Bundestagswahl bietet damit die Chance eines neuen historischen Kompromisses, der eine sozial balancierte Modernisierung auf den Weg bringen könnte. Die nach-folgenden Koalitionsverhandlungen haben das Spektrum möglicher Alternativen aber wieder verengt. In der Großen Koalition dominieren die konservativ-technokratischen Flügel der beiden Volksparteien. Gleichwohl ist eine Rückkehr von den Versuchen autoritären Durchregierens zu einer gewissen Wiederbelebung der Kultur des Aushandelns zwischen den gesellschaftspolitischen Strömungen zu spüren.

Blockierung oder neue Beweg­lich­keit?

Das Wahlergebnis ist machtpolitisch kompliziert, aber gesellschaftspolitisch ermöglicht es eine neue Beweglichkeit. Das Wahlvolk hat ein machtpolitisches Mandat zum „Durchregieren” (Merkel) oder zur „Geschlossenheit” (Schröder) verweigert. Die von Merkel und Schröder repräsentierten Volksparteien sind auf ein historisches Tief von 35,2 (-3,3) und 34,2 (-4,3) Prozent gefallen, das ihre Wunschkoalitionen unmöglich macht. Schwarzgelb vereinigt 45,0 Prozent, Rotgrün 42,3 Prozent. Damit ist, so Bettina Gaus in der taz, das Wahlergebnis „sehr viel klarer, als die seltsamen Rangeleien von Spitzenpolitikern derzeit nahe legen: Eine große Mehrheit der Bevölkerung steht Veränderungen nicht prinzipiell ablehnend gegenüber, will aber den Sozialstaat nicht wegreformiert sehen. Eine relevante Minderheit wünscht, dass Positionen, die grundsätzlich vom Konsens der Altparteien abweichen, im Parlament gehört und berücksichtigt werden müssen. Diese Minderheit hat links gewählt.” (taz vom 23. September 2005)

Gleichzeitig hat das Wahlvolk der Linkspartei nicht das gesamte Potential ihrer Sympathisanten von etwa 18 Prozent zugewiesen, sondern nur 8,7 Prozent. So existieren neben der Linkspartei auch andere linke Potentiale als Wählerklientele von SPD, Grünen und CDU. Führt dies mittelfristig zu einem Ende der konzeptionellen Stagnation und damit auch zu einem innovativen, neukeynesianischen Ausweg aus der wirtschaftlichen Stagnation? Oder führt es nur zu einer noch vom wirtschaftsliberalen Spardiktat beherrschten Vergrößerung sozialer Ungleichheiten, die aber etwas verlässlicher durch eine ständisch-konservative Stufung sozialer Garantien im Zaum gehalten wird?

Die Neuwahl war nötig gewesen aufgrund einer Blockierung der politischen Entscheidungsfähigkeit. Diese bestand vordergründig zwischen Bundestag und Bundesrat, zwischen Regierungskoalition und Opposition. Entstanden war sie durch den Vertrauensverlust der Sozialdemokratie in den Ländern, der nach 1998 teilweise und nach 2002 flächendeckend zu nie dagewesenen, bis zu zweistelligen Verlusten an Wählerstimmen, zum Austritt vieler ihr Lebenlang für die SPD engagierter Mitglieder und zum Machtverlust auf Länderebene geführt hatte. Damit verbunden war auch eine Blockierung innerhalb der Parteien, die die Debatten zwischen den Flügeln um Alternativen und um die Akzeptanz im Wahlvolk stillstellte.

Das Gebot der Geschlossenheit im Handeln ist legitim. Fatal für demokratische Parteien war es aber, dieses auch auf die dem Handeln vorausgehende Meinungsbildung auszudehnen. Zentrale Entscheidungen – nicht allein, aber am sinnfälligsten bei der Agenda 2010 – wurden ohne vorausgehende Verständigung zwischen den verschiedenen Strömungen von oben durchgesetzt. Dieser Stil hat nicht nur autoritäre Führer-Gefolgschafts-Strukturen begünstigt. Er hat auch verhindert, dass die – durchaus notwendigen – Innovationen sozial ausbalanciert wurden. Steigende Belastungen und Unsicherheiten für die Arbeitnehmer, die, wie Hartz IV, die Entstehung einer neuen sozialen Unterschicht beschleunigen, wurden kombiniert mit enormen, vor allem steuerlichen Entlastungen für die großen Unternehmen. Dahinter stand – daran ist nicht zu zweifeln – keine moralische Unempfindlichkeit, sondern der missionarische Glaube an die Verheißungen der wirtschaftsliberalen Ideologie — Leistungssteigerung unten, beschäftigungswirksame Investitionen oben. Und damit auch die Überzeugung, auf diese Weise das Wahlversprechen einer Mobilisierung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und eines wesentlichen Abbaus der Arbeitslosigkeit einlösen zu können.

Dass diese Erwartungen sich nicht erfüllt haben, dass die Massenarbeitslosigkeit am unteren Ende der Gesellschaft und die Stagnation der Einkommen und sozialen Standards in der großen Arbeitnehmermitte zugenommen haben, hat die Volksparteien — schon seit Beginn der 1990er Jahre – viel von ihrer Mobilisierungs- und Integrationskraft gekostet und eine parteipolitische Verdrossenheit von 60 und mehr Prozent der Bevölkerung erzeugt. Dies ist beredtes Zeugnis der Krise der politischen Repräsentation, der Entfremdung der politischen Repräsentanten von den sozialen Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen der zu repräsentierenden Volksmilieus.

Seit dem 18. September 2005 bildet die Konstellation eines neuen Parteienpluralismus die Ausgangslage für einen mittelfristig möglichen neuen historischen Kompromiss zwischen den in der Bevölkerung tatsächlich vorhandenen Milieus und Lagern. Anstelle der innerparteilichen Gleichschaltung hat das Wahlvolk den Zwang zur Verständigung zwischen unabhängigen Akteuren gewollt, die den Volkswillen vergleichsweise weniger unverzerrt repräsentieren als bisher.

Dies wird aber nur dann möglich sein, wenn der ideologische Nebel fortgeblasen wird, den der langjährige selbstgefällige Konsens zwischen den dominanten Akteuren der Parteien- und Medienbühne gebildet hat. Die Klugheit der Wählerinnen und Wähler hat, in verteilten Rollen, diesem ideologischen Gespinst eine Abfuhr erteilt. Gescheitert sind vor allem die marktradikalen Ideologien, die ein völlig wirklichkeitsfremdes Bild von der Mentalität der Bevölkerung, vom Wahlverhalten, von den Ursachen der wirtschaftlichen Stagnation und von der Rolle der Politik zum unhinterfragten und unhinterfragbaren Dogma entwickelt haben. Die wirtschaftliche Stagnation und die politischen Blockierungen hatten sich gegenseitig bedingt. Diese ideologischen Konzepte müssen wir uns vor Augen führen, wenn wir die Bedingungen eines neuen frischen Windes verstehen wollen.

Wechsel­wähler oder Lager­wäh­ler?

Mit der Wahl vom 18. September hat sich als erstes die modische These des individualisierten Wechselwählers, der durch Medien und Politiker kurzfristig zu mobilisieren sei, als optische Täuschung erwiesen. Nicht die Parteibindungen im einzelnen, aber doch die Bindungen an die beiden großen Lager der „bürgerlichen” und der „linken” Parteien haben sich als langfristig stabil und entscheidend erwiesen. Dies entspricht dem Konzept der klassischen, von Lazarsfeld (1968 [1944]) sowie Lipset und Rokkan (1967) begründeten Wahlsoziologie, die, in modernisierter und differenzierter Form, heute in den Untersuchungen insbesondere der Freiburger Schule Oberndörfers (Eith/Mielke 2001), von Niedermayer (2003) oder Brettschneider, Deth und Roller (2002, 2004) und auch in der hannoverschen Wahlforschung (Geiling 2003) vertreten wird.

In der Politikberatung und der Medienöffentlichkeit ist allerdings das Konzept des individualisierten, bindungsfreien Wählers beherrschend geworden. Dieses Konzept geht, mit dem Soziologen Ulrich Beck (1986), von der These der „Erosion” der sozialen Milieus aus, die in verschiedener Form von renommierten Beratern des Kanzlers Gerhard Schröder wie den Soziologen Anthony Giddens (1999) und Oskar Negt (2001: 123ff.) und dem Leiter des Berliner Forsa-Instituts, Manfred Güllner (Güllner u.a. 2005) vertreten wird und auch dem Zielgruppenkonzept der „neuen Mitte” zugrunde lag. Nur eine Woche vor der Bundestagswahl haben Güllner u.a. einen anspruchsvollen Sammelband herausgebracht. Dessen Autoren betonen gegenüber der Freiburger Schule die eigene „zentrale Stellung” und die Aktualität ihrer These der „Entstrukturierung des Wählermarktes und des Wählerverhaltens […]. Ein wichtiges Merkmal des individualisierten Wählers in der Mediendemokratie ist die starke Orientierung an den kurzfristigen Einflußfaktoren der Wahlentscheidung, also den politischen Streitfragen, den Problemlösungskompetenzen und den Spitzenkandidaten. Langfristige Parteibindungen treten demgegenüber in den Hintergrund.” (Ohr 2005: 7, 9)

In fast allen Medien ist diese Tendenzannahme verabsolutiert worden zur These des unberechenbaren oder „volatilen”, also „flatterhaften”, Wechselwählers. Diese These war wesentlich mitverantwortlich für den Verlauf des Wahlkampfes — nicht aber für das Wahlergebnis. Sie war, wie ich aufzeigen möchte, mitverantwortlich dafür, dass die Demoskopen der CDU monatelang sechs bis sieben Prozent mehr voraussagten als die dann erhaltenen 35,2 Prozent, während die Voraussagen für die SPD dagegen weniger als ein Prozent von den erreichten 34,3 Prozent abwichen (Spiegel-Wahlsonderheft: 63).

Die hohen CDU-Voraussagen waren äußerst folgenreich. Angesichts dieser Siegesgewissheit hielten es 1,3 Millionen CDU-Anhänger für kein Risiko, mit ihren Zweit-stimmen die FDP zu stärken, die einen entschieden wirtschaftsliberalen Kurs und die Verhinderung einer Großen Koalition versprach. Durch diese 2,6 Prozent erreichte die FDP ihr Rekordergebnis von 9,8 Prozent. Die Siegesgewissheit trug sicherlich auch da-zu bei, dass Angela Merkel es für kein Risiko hielt, am 17. August 2005 den früheren Verfassungsrichter Paul Kirchhof mit seinem die Wohlhabenden begünstigenden Finanzkonzept in ihr „Kompetenzteam” zu berufen und damit, wie eine Zeitung schrieb, die „neoliberale Katze aus dem Sack zu lassen”. Kirchhof wiederum ermöglichte Ger-~hard Schröder seine Kampagne gegen die „Politik der sozialen Kälte” der CDU. Mit dieser mobilisierte er, nach einem fast dreijährigen Umfragetief von meist unter 30 Prozent, von Mitte August bis Mitte September die vier Prozent, die die SPD über die 30-Prozent-Marke hoben (Der Spiegel vom 22. August 2005: 23).

Die Legende einer „Chaos-Wahl” (Spiegel-Wahlsonderheft) oder „Sensationswahl” (Focus Wahl-Spezial) war geboren. „Noch nie wurden Politiker und Medien von einer Wahl so überrumpelt”, titelte Die Zeit (22. September 2005). Die Umfrageinstitute führten diesen anscheinenden Last-Minute-Swing (Focus Wahl-Spezial: 22) von der Union zur SPD auf den hohen Prozentsatz von mindestens 20 Prozent (2002 waren es 13 Prozent) der Stimmberechtigten zurück, die bis kurz vor der Wahl noch unentschlossen gewesen waren (ebd.: 23). Die Medien hatten in ihnen schon vor der Wahl die berühmten Wechselwähler vermutet, die sprunghaft, unberechenbar und kurzfristig beeinflussbar seien. Am Wahlabend ließ sich Gerhard Schröder selbst als den Urheber jenes sensationellen Swings von vier Prozent und des „Absturzes” der CDU bejubeln und beanspruchte in seinem berühmten Auftritt in der Fernsehdiskussion erneut die Kanzlerschaft.

Demgegenüber waren die realen Daten äußerst ernüchternd: Im Vergleich mit der Bundestagswahl 2002 gab es keinen Swing von der SPD zur CDU/CSU und auch keinen „Absturz” der CDU/CSU. Auffällig war vor allem die hohe Zahl von Unentschiedenen bis zum Wahltag. Infratest dimap präzisierte, 28 Prozent hätten sich erst während der letzten Tage vor der Wahl entschieden, darunter 13 Prozent erst am Wahlsonntag selbst (wahl.tagesschau.de, 19.9.2005). Focus gibt an, von den „Kurzentschlossenen” seien 34 Prozent zur SPD, 30 Prozent zur Union, aber noch mehr, nämlich 36 Prozent, zu den kleinen Parteien gegangen (Focus Wahl-Spezial: 23).

Im Wahlergebnis haben sich, nach diesen Schwankungen, doch die bekannten längerfristigen Bindungen an das bürgerliche und das nicht-bürgerliche Lager durchgesetzt. Dies zeigt die im Focus veröffentlichte Bilanz der Wählerwanderungen seit der Bundestagswahl 2002 (ebd.: 22). So verzeichnet die Bilanz nicht den von Schröder behaupteten Swing von der CDU zur SPD. Die SPD hat sogar etwas, nämlich 1,3 Prozent, an die Union verloren. Vor allem aber hat sie an die Linkspartei (2,0 Prozent), an die „Grünen” (0,4 Prozent) und an die Nichtwähler (1,1 Prozent) verloren. Die größten Anteile der Unionsverluste (3,3 Prozent) beruhte auf Abwanderungen zur FDP (2,6 Prozent) und zu den Nichtwählern (1,5 Prozent). Die Daten bestätigen also, dass es sich primär um Wanderungen innerhalb des „bürgerlichen” und des „linken” Parteienlagers und zu den Nichtwählern – als einer stillen Reserve dieser Lager – handelt. Die „Partei der Nichtwähler” war immerhin seit 1998 von 17,8 auf 22,3 Prozent angewachsen, was darauf hinweist, dass viele Enttäuschte lieber zu Hause blieben als zu „den anderen” überzulaufen.

Diese Daten stützen die Vermutung, dass die zu hohe Wahlprognose für die CDU/CSU nicht auf falschen Erhebungen, sondern auf einer falschen Einschätzung der „Unentschiedenen” beruht hat. Sie wurden offenbar nicht für enttäuschte Stammwähler, sondern für ungebundene Wechselwähler gehalten und daher in ihren Berechnungen gleich Null gesetzt, als würden sie sich später proportional auf die Präferenzen der etwa 70 Prozent „Entschiedenen”, bei denen die CDU dominierte, aufteilen. Aber sie gingen, so die Daten, allenfalls zu 30 Prozent an die CDU. Die Unentschiedenen haben nicht die CDU symmetrisch gestärkt, sondern überwiegend das „linke” Lager, in dem die politische Enttäuschung noch größer war.

Schröders Kampagne hat also hauptsächlich dazu beigetragen, ein noch schlechteres Ergebnis zu verhindern, indem sie die Abwanderungen von enttäuschten SPD-Wählern zur Linkspartei und zu den Nichtwählern bremste oder umkehrte. Denn die von ihm geführte SPD hatte ja bereits seit 1999 partiell und seit 2003 flächendeckend hohe, zunehmend zweistellige Stimmenverluste hinnehmen müssen, die sie die Regierungsmacht in sechs Ländern kostete – in Hessen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Auch diese verheerenden Verluste waren kein Swing sprunghafter Wechselwähler ins andere Lager, sondern, wie wiederum statistische Analysen bestätigen, primär Wahlenthaltungen der eigenen arbeitnehmerischen Klientel. Die Wahlforschung der Freiburger Schule faßt für die SPD zusammen:

„Wie schon 2002 hat der Kanzler mit dem Kunstgriff einer rhetorischen Retraditionalisierung der SPD und seiner Politik die spannungsgeladene Atmosphäre eines symbolischen Richtungswahlkampfes zwischen einer auf Gerechtigkeit und soziale Balance ausgerichtete SPD und einer auf soziale Kälte und Gefährdung eben dieser Balance ab-zielenden neoliberalen Opposition aus Union und Liberalen zu erzeugen versucht. Mit dieser Re-Traditionalisierung sollten die […] Assoziationen der sozialdemokratischen Regierungspolitik mit Hartz IV und der Agenda 2010 überspielt werden. Und zweifellos hat diese atmosphärische Zuspitzung […] den Absturz unter die 30-Prozent-Grenze verhindert.” (Oberndörfer u.a. 2005)

Der Kreis von Intellektuellen und Gewerkschaftern, die dennoch mit Günter Grass die Wahlanzeige Für eine starke SPD unterzeichnet haben, haben sich zwar diesem symbolisch anti-neoliberalen Richtungswahlkampf angeschlossen. Aber ihr Aufruf formuliert einen Vorbehalt, einen in der nächsten Wahlperiode einzulösenden Anspruch: „Es geht darum, ein möglichst großes Maß an sozialer Gerechtigkeit zu verwirklichen: beim Zugang zu Bildung und Arbeit, bei der Teilhabe an Bildung und Kultur und bei der Verteilung des erwirtschafteten Reichtums in der Gesellschaft.” (zit. n. taz vom 16. September 2005) Dies war eine Mahnung: Das Mandat meint für die SPD und ihre Abgeordneten nicht eine bedingungslose Unterstützung der Agenda 2010, sondern die Wiederherstellung der sozialen Balance. Diese Mahnung wurde von den Unterzeichnern während der Koalitionsverhandlungen in einer neuen seitengroßen Anzeige wiederholt, in der sie sich u . a, für eine höhere Besteuerung der wirtschaftlich Starken einsetzten.

Neue Mittel­schichten oder neue Arbeit­neh­mer?

Die Wahlergebnisse sind bedeutsam für die Kontroverse zwischen den beiden Hauptrichtungen der Wahlforschung. Hier geht es um die Frage, ob die sozialstrukturellen Verortungen der Wählerschaft und damit der Parteien sich auflösen oder nicht. Dabei bestehen keine Meinungsverschiedenheiten darüber, dass die großen Volksparteien an Bedeutung verlieren und dass die Ursachen dafür im Wandel der Sozialstruktur gesucht werden müssen (Oberndörfer u.a. 2005; Güllner u.a. 2005; Güllner laut Frankfurter Rundschau vom 21. September 2005; Niedermayer 2003; Brettschneider u.a. 2002). Kontrovers ist vielmehr, worin dieser Wandel besteht.

– Die Individualisierungsthese geht von der Entstrukturierung aus,    durch die die
Wähler unabhängig von den Milieus und damit unkalkulierbar werden.

– Die klassische Wahlsoziologie geht von einer Umstrukturierung aus. Danach sind die Wählerbindungen immer noch nach relativ stabilen Cleavages oder „Konfliktlinien” strukturiert. Diese sind allerdings mehrdimensional und haben auch einen Formenwandel durchgemacht. Wenn man diesen Wandel berücksichtigt, sind sie immer noch eine gute Prognosegrundlage.

Theoretisch schließt das erste Konzept an ökonomische Modelle atomistischer Märkte an, das zweite an das Modell strukturierter Felder.
Das Marktmodell vermutet eine „Entkoppelung der Beziehungen zwischen politischen Parteien und Wählern”, verursacht durch eine veränderte „Nachfrage” auf der Wählerseite, d.h. eine nachhaltige Veränderung der Werte, ideologischen Orientierungen und vor allem der Parteiidentifikation „als einer langfristig-stabilen, emotional ab-gestützten Bindung” (Güllner u.a. 2005: 15). Angeführt werden zwei Phänomene: Die Lockerung der Bindung an die SPD wird auf den „wirtschaftlichen Strukturwandel” zurückgeführt, der die Bedeutung der sozio-ökonomischen Konfliktlinie „fundamental verändert” habe (ebd.: 16). Durch die „starke Ausweitung des Dienstleistungssektors” sei die traditionelle Arbeiterschaft mit ihren gewerkschaftlich geprägten Wertvorstellungen auf etwa 20 Prozent der Wählerschaft geschrumpft. Gewachsen sei demgegenüber der „so genannte ,neue` Mittelstand”, bestehend aus den „nachwachsenden Generationen von Angestellten und Beamten” (ebd.: 16). Die Lockerung der Bindungen an die CDU wird auf die „zunehmende Entkirchlichung als eine Spätwirkung der Rationalisierung moderner Gesellschaften” bezogen, durch die die kirchlich-konfessionelle Cleavage stark an Bedeutung verloren habe (ebd.: 17).

Weder die Tertiarisierung noch das Nachlassen des Kirchenbesuchs sind als Tatsachen bestreitbar. Aber dürfen sie auch als Ursache der Bindungsverluste angesehen werden? Die Forschung weist darauf hin, dass diese beiden Entwicklungen schon in den 1960er Jahren weit fortgeschritten waren, während die SPD erst nach 1980, mit der Entstehung der Grünen, und die CDU/CSU erst nach 1990, als die Verdrossenheit über soziale Ungleichheiten zunahm, unter 40 Prozent sank.

Es war auch nicht so sehr die Wahlsoziologie wie die zeitdiagnostische Soziologie, die in den 1980er Jahren als erste die These einer „Erosion sozialer Milieus” (ebd.: 17) aufstellte. Belegt wird dies nicht mit empirischen Untersuchungen, sondern nur mit hypothesenförmigen deutenden Ableitungen. Die erste These, die Individualisierungsthese von Ulrich Beck, beschreibt die zunehmende individuelle Unabhängigkeit und Horizonterweiterung: Die Zunahme von Wohlstand und Sozialstaatlichkeit führe auch zu einem kollektiven „Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum” und dazu, dass „subkulturelle Klassenidentitäten und -bindungen ausgedünnt und aufgelöst” würden (Beck 1986: 122). Die zweite These, die These der kognitiven Mobilisierung von Russell Dalton (1984), geht davon aus, dass die Bildungsexpansion die Bürger befähige, in einer komplexen politischen Wirklichkeit eher zu einem eigenständigen politischen Urteil zu gelangen und damit eher unabhängiger von der Autorität einer Partei zu werden. Beide Thesen beschreiben nichts anderes als die Zunahme von Mündigkeit, d.h. der Emanzipation von äußeren Vormundschaftsinstanzen. Über den Zerfall gesellschaftspolitischer Ordnungsbilder sagen sie nichts.

In großen qualitativen wie quantitativ-repräsentativen Untersuchungen ist dagegen schon 1991 ermittelt worden, dass es diese Tendenzen zu mehr individueller Selbstbestimmung und Kompetenz gibt, dass ihre Wirkung aber nicht zur Populärthese einer umfassenden Auflösung sozialer ldentitäten und Bindungen verabsolutiert werden darf (Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001 [1993]). Die Klassenmilieus mit ihren Mentalitäten, Wertsystemen und sozialen Ordnungsvorstellungen haben sich nicht aufgelöst, wohl aber in sich selbst modernisiert. Insbesondere die jüngeren Generationen, die eher in Dienstleistungen als in Industrie und Landwirtschaft arbeiten, sind eigenständiger, eigen-verantwortlicher und reflexiver geworden. Die Milieus haben sich damit gleichsam nach der Art von Familienstammbäumen in jüngere und modernere Zweige aufgefächert. Aber auch diese erfahren und verorten sich immer noch vertikal als Arbeitnehmer einerseits oder Akademiker und Führungskräfte andererseits. Die vertikalen Klassengegensätze ha-ben sich also nicht aufgelöst. Sie haben sich aber deutlich horizontal differenziert. Dem entspricht auch eine stärkere Neigung zu einer anderen, damals neuen Partei des „linken” Lagers, den Grünen. Die Differenzierung des „linken” Parteienlagers in SPD und Grüne entsprach also durchaus der Differenzierung der sozialen und kulturellen Strukturen.

In die gleiche Richtung weisen die umfangreichen statistischen Langfristuntersuchungen des Mannheimer Sozialstrukturforschers Walter Müller (1997 u. 1998). Die wachsenden Angestellten- und Beamtenschichten sind danach kein amorphes oder „heterogenes Aggregat”, wie dies im Güllner-Band angenommen wird (Ohr 2005: 17), sondern in sich vertikal und horizontal in relativ homogene Untergruppen geteilt. Die vertikale Teilung sieht Müller zwischen Unternehmensmanagern und höheren Beamten einerseits, die „bürgerliche” Parteien vorziehen, und Beschäftigten der sozialen und kulturellen Dienste andererseits, die sich stärker der SPD und den Grünen verbunden fühlen. Die horizontale Teilung besteht zwischen eher konservativen oberen Klassenfraktionen (der „administrativen Dienstklasse” von Managern usw.) und eher rot-grün tendierenden oberen Gruppen (den „Experten”, die professionelle und semiprofessionelle technische und naturwissenschaftliche Berufe ausüben, und der „sozialen und kulturellen Dienstklasse“). Müller bestätigt damit die horizontale Differenzierung der Sozialstruktur in Richtung der Technik- und Humandienstleistungen, in denen eben häufiger „grün” oder „rot-grün” gewählt wird.

Diese horizontale Differenzierung kombiniert sich mit einer fortwirkenden und, wie die klassische Forschungsrichtung hervorhebt (u.a. Eith/Mielke 2001, Brettschneider 2002), seit den 1990er Jahren revitalisierten Virulenz der vertikalen sozioökonomischen Teilung.

Auch nach der umfangreichen Wahlforschung von Oskar Niedermayer (2003) ist der Vertrauensverlust der Volksparteien nicht einseitig mit einer Erosion der Milieus zu erklären. Zwar verloren die Volksparteien seit den 1980er Jahren an Integrationskraft. Der jetzige Rückgang beider von 38,5 Prozent (2002) auf etwa 35 Prozent (2005) markiert keine sensationell neue Tendenz, sondern entspricht den Entwicklungen der 1990er Jahre. Schon damals lag die CDU einmal bei 35,1 Prozent (1998) und die SPD einmal bei 33,5 Prozent (1990) und ein anderes Mal bei 36,4 Prozent (1994). Vor allem haben sich die beiden großen Parteienlager trotz gewisser Schwankungen langfristig überraschend stetig entwickelt. Dabei ist von 1980 bis 2005 nur das „bürgerliche” Lager (CDU/CSU und FDP) geschrumpft, und zwar nachhaltig um etwa 10 Prozent auf 45 Prozent der gültigen Stimmen. Die Abnahme der SPD war dagegen seit 1980 mit der Ausdifferenzierung des gesamten „linken” Parteienlagers verbunden. Diese führte sogar zu einer allmählichen Vergrößerung des „linken” Parteienlagers um etwa 6 auf 51 Prozent. Die Herausdifferenzierung von Grünen und PDS/Linkspartei ging nicht nur auf Kosten der SPD, sondern auch teilweise des „bürgerlichen” Parteienlagers. In diesem Prozess hat das „linke” Parteienlager 1998, zum ersten Mal in seiner Geschichte, Parität mit dem bis dahin überlegenen „bürgerlichen” Lager erreicht.

Angesichts der neuen Entwicklungen und Differenzierungen hat die klassische Wahlforschung für eine offenere und heuristische Handhabung des Cleavage-Ansatzes optiert, welche die ursprünglich von Lipset und Rokkan (1967) formulierten vier aus großen historischen Konflikten hervorgegangenen Cleavages oder Trennlinien allgemeiner fasst und um zwei neue Cleavages ergänzt (Eith/Mielke 2001, Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001 [1993], Brettschneider u.a. 2002, Niedermayer 2003). Wenn die Cleavages grundsätzlicher und im Detail weniger eng definiert werden, lassen sie sich weitgehend auf die gleichen zwei Achsen des sozialen Raums verteilen, die nach Bourdieu (1983), nach Müller (1998) und auch unserer Analyse (Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001[1993]) die Sozialstruktur gliedern:

– Die vertikale Stufung hat sich modernisiert. Der alte Gegensatz zwischen Kapitalisten und Arbeitern hat moderne Entsprechungen in dem Gegensatz zwischen Managern und Arbeitnehmern bzw. zwischen den Befürwortern des Marktliberalismus und der Sozialstaatlichkeit.
– Die horizontale Unterteilung der einzelnen Stufen kann allgemeiner als Gegensatz zwischen konservativen (autoritätsorientierten, traditionellen) und modernen (libertären, selbstbestimmten) Orientierungen gefasst werden. Auf dieser horizontalen Achse können dann die älteren Gegensätze zwischen Kirche und Staat, zwischen ländlich-agrarischen und städtisch-handwerklichen Interessen sowie die neuen Gegensätze zwischen „materialistischen” und „postmaterialistischen” Werten abgetragen werden.

Das Konzept der zwei grundlegenden Cleavages (zu denen die regionale Ost-West-Disparität hinzukommt) hat einen hohen Erklärungswert. Auch die Entkirchlichung kann aus dem Zusammenspiel der sozialen Kräfte auf beiden Achsen überzeugender er-klärt werden, etwa am Überwechseln von früheren Zentrumswählern zur SPD.‘ Insbesondere lassen sich die Wahlergebnisse seit 2003, in denen für die Volksparteien die Arbeitnehmerklientele, auch im Dienstleistungsbereich, zunehmend unsicher wurden, damit besser erklären.

Das Konzept der „neuen Mitte”, das dem sozialdemokratischen Wahlkampf von 1998 und nicht zuletzt Schröders Agenda 2010 von 2003 zugrundelag, hat, wie es in Güllners Sammelband heißt, diese Cleavages absichtlich nicht in ihr Zielgruppenmodell aufgenommen: „Indem der Begriff bewusst vage formuliert war, sollte er von der immer stärker individualisierten Wählerschaft weniger als sozialstrukturelles Merkmal denn als Mentalität im Sinne engagierter und aufgeschlossener Leistungsbereitschaft verstanden werden. Indem er das Bedürfnis nach Wandel und Kontinuität gleichermaßen betonte, sollte er potenziellen Wechselwählern die Furcht vor einem Regierungswechsel nehmen”, d.h. „neben den Stammwählern auch andere Wählersegmente anzusprechen” versuchen (Dülmer 2005: 33).

Als Wahlkampfkonzept, das 1998 zusätzliche Zielgruppen gewinnen sollte, war dies sicher sinnvoll. Aber als Politikkonzept der „neuen Mitte”, wie es 1999 unter Beratung des Soziologen Anthony Giddens zustandekam, verwischte es die Grenzen zwischen oben und unten derart, dass es die soziale Balance zugunsten der oberen Schichten verschob. Giddens (1999) ging es um die Belohnung der sog. „Leistungsträger”. Diesegrenzte er nach unten ab gegen die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, die aufgrund der nach seiner Auffassung zu hohen sozialstaatlichen Leistungen kein Motiv zum Arbeiten hätten und daher die Arbeitslosigkeit hauptsächlich verursachten. Giddens und ein anderer Vordenker von Tony Blairs New Labour, Peter Mandelson, rieten der SPD, sich von der „schrumpfenden Basis der traditionellen Arbeiterschicht” zu lösen, die nur materielle Umverteilung wolle, um sich auf der komfortablen Vergangenheit auszuruhen. Statt dessen müsse man auf die „neuen Dienstleistungsschichten” und ihre „post-materialistischen Werte” – „jenseits von links und rechts” – setzen: auf Ökologie, Gleichstellung der Frauen, Multikulturalität, Pluralität der Lebensstile usw.

Dieses Gesellschaftsbild enthält nicht nur eine starke Abwertung der Volksmilieus, die, aus der Perspektive der alten puritanischen Arbeitsmoral, als faul, sittenlos und selbstsüchtig erscheinen – eine Rechtfertigung für das sozialdarwinistische no pity for the poor. Es enthält auch eine besondere Idealisierung der oberen Gruppen, die von der Forderung nach Umverteilung ausgenommen werden. Die Diagnose mündet in einen neuen puritanischen Tugend-Diskurs. Der Staat müsse die Bürger zum Sparen und zur Verantwortung aktivieren und alle Möglichkeiten des „Missbrauchs” und der Verschwendung der sozialen Leistungen abbauen.

Der gleiche Tenor durchzog die berühmte Rede, mit der Schröder am 14. März 2003 die Agenda 2010 ankündigte. Die Maßnahmen wurden moralisch begründet. Die Absenkung des Arbeitslosengeldes solle als „Arbeitsanreiz” wirken – also als Maßnahme, vorgebliche Arbeitsunwillige zur Hinnahme von Niedriglöhnen zu nötigen: „Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.”

Das sozialdemokratische Grundmotiv der Solidarität auf gleicher Augenhöhe, wie es in den sozialen Sicherungssystemen auf der Basis der Gegenseitigkeit vertreten wird, ist von Schröder umgedeutet worden. Solidarität versteht er, so Gesa Reisz, nur noch „asymmetrisch”, als Solidarität der Gesunden mit den Kranken und der Starken mit den Schwachen; denn „das ,Wer muss Wem zahlen‘ in der Rhetorik Schröders stellt vor allem die Belastung der vermeintlich gerade Starken und Wohlhabenden dar und nicht den gegenseitigen Risikoausgleich unter Gleichen.” (Reisz 2004: 60)

Mit diesem drohenden Ton des moralischen Vorwurfs gegen Faulheit und Verschwendung sollte Schröder in der großen Arbeitnehmermitte, die sich nicht auf den Status unverantwortlicher Kinder herabmindern lassen möchte, viel Unwillen erzeugen. Schröders Verkennung beruhte darauf, dass das Sozialmodell der Bundesrepublik im Grundverständnis der meisten Milieus nicht nach dem Fürsorge- und Protektionsprinzip, sondern nach dem Prinzip der sozial ausbalancierten Eigenverantwortung, wie es das Sozialversicherungsprinzip institutionalisiert hat, interpretiert wird. Die Bereitschaft zur Eigenverantwortung ist viel weiter verbreitet als die rot-grüne Führung es annahm. Nur war sie mit der Erwartung einer sozialen Balance verbunden. Das historische Konsensprinzip des deutschen Sozialmodells heißt Leistung gegen Teilhabe: Leistung, Eigenverantwortung, Flexibilität, ja durchaus auch Opferbereitschaft sind keine Zumutung – solange sie auf Gegenseitigkeit beruhen und wenn sie sozial ausbalanciert sind.

Soziale Milieus und politische Lager

Die Wahlniederlagen der Volksparteien beruhten zweifellos darauf, dass die gesellschaftspolitischen Lager der Bevölkerung innerhalb der Volksparteien nicht mehr hin-reichend repräsentiert worden waren. Sie waren Ausdruck der schon länger anhaltenden, von den Parteien aber nicht ernstgenommenen Krise der politischen Repräsentation. In beiden Parteien waren die Flügel, die Kompromisslinien miteinander hätten aushandeln können, immer weniger angemessen, d.h. entsprechend ihren Lagergrößen in der Bevölkerung, vertreten. Dies hängt nicht zuletzt mit der Art und Weise zusammen, in der Angela Merkel und Gerhard Schröder ihre Machtkämpfe führten. Sie und ihre engeren Klientele setzten sich durch, indem sie ihren eigenen Kurs als alternativlos darstellten, d.h. nicht als Kompromiss zwischen verschiedenen Flügeln, der in einer neuen Integrationsformel hätte münden können. Infolge dieser Blockierung der Aushandlungskultur waren die von ihren Rivalen repräsentierten Alternativen in den vorpolitischen Bereich abgedrängt worden. Die wirtschaftsliberalen Positionen waren in der Programmatik überrepräsentiert. Dies stand in einem deutlichen Kontrast zu der Tatsache, dass nach vielen Umfragen mehr als drei Viertel der Bevölkerung eine Fortsetzung des solidarischen Sozialmodells der Bundesrepublik befürworten.

Diese Mehrheit kommt auch in den Prozentangaben der folgenden Tabelle zum Aus-druck. Allerdings zeigt sie auch, dass damit noch kein einheitliches Konzept einer solidarischen sozialen Ordnung vorgezeichnet ist. Dieses muss vielmehr erst zwischen den politischen Repräsentanten ausgekämpft und ausgehandelt werden. Denn die mehrheitliche Befürwortung des sozialen Ausgleichs verteilt sich auf verschiedene Varianten des solidarischen Sozialmodells, die wiederum in verschiedenen Interessenvertretungen und verschiedenen Flügeln der Parteien und ihren Sprechern verkörpert sind, also auf immer neue Ebenen des politischen Feldes „übersetzt” werden müssen. Die Repräsentanten sind dabei nicht völlig frei, wie dies die heute wiederauflebenden populistischen Vorstellungen einer direkten Beziehung zwischen Politikern und Volk, die teilweise auch in den Äußerungen Schröders mitschwangen, nahelegen. Die Akteure können sich langfristig nicht ungestraft von den Spielregeln des Feldes der korporativen und bürgergesellschaftlichen Interessenvertretungen und des Feldes der politischen Parteien und Institutionen lösen.

Die sechs Varianten der normativen Modelle der Sozialordnung unterscheiden sich danach, wie die soziale Ordnung insgesamt gegliedert sein soll. Die Tabelle zeigt, in sehr stark vereinfachter Darstellung, diese grundlegenden Ordnungsmodelle in der Gesellschaft der Bundesrepublik. Die Ordnungsmodelle sind 1991 zum ersten Mal auf der Grundlage einer großen repräsentativen Stichprobe empirisch gewonnen worden (vgl. Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001: 58-64, 249f., 427-491). Nachfolgende Befragungen haben bestätigt, dass es sich um lang anhaltende Grundüberzeugungen handelt (vgl. u.a. Vester 2001).

Die sozialen Ordnungsmodelle der sechs gesellschaftspolitischen Lager in der Bevälkerung[2]

Moderne Orientierung: Eigenverantwortung (ca. 40%) Traditionelle Orientierung: ständischer Rang (ca. 60%)
Elitemodelle der oberen Milieus (ca. 25%)
„Hierarchie nach Arbeitsleistung” (achievedstatus) „Hierarchie nach zugeschriebenem Status” (ascribedstatus)

  • (1) Radikaldemokratisches Lager, ca.11 %: postmaterialistisch-liberales Elitemodell (meritokratische Leistungshierarchie)
     Parteipräferenzen: SPD+, Grünes-, FDP+, CDU/CSU-, Rechte-Parteipräferenzen: CDU/CSU+, FDP+, Rechtsparteien durch-
    Schwerpunkt des SPD-Netzwerk-Flügels schnittlich, SPD-, Grüne; Schwerpunkt u.a. der Mittelstandsver-
    einigung der CDU/CSU
    Solidaritätsmodelle der Arbeitnehmer- und Volksmilieus der
    Mitte (ca. 49%)
    „Leistung gegen Teilhabe” „Leistung gegen Fürsorge”
  • (2) Sozialintegratives Lager, ca. 13%: postmaterialistisch-solidarisches Solidaritätsmodell (progressiv-idealistisches Modell der Gleichstellung bzw. Inklusion)
     Parteipräferenzen: CDU/CSU+, SPD durchschnittlich, FDP-, Grüne-, Rechte-; Schwerpunkt des rechten SPD-Flügels und des Arbeitnehmerflügels der CDU/CSU
  • (3) Skeptisch-distanziertes Lager, ca. 18%:
    Solidaritätsmodell nach der Volkstradition der Nachbarschafts- und Nothilfe (Eigenverantwortung und Gegenseitigkeit)
     Parteipräferenzen: SPD+, CDU/CSU und FDP durchschnittlich, Grüne-, Rechte-; Schwerpunkt des linken Flügels der SPD (DL
     21) und des Arbeitnehmerflügels der CDU/CSU
    Protektionistische Modelle der unterprivilegierten Milieus
    (ca. 27%)
    Schutz vor Modernisierungsrisiken und Zuwanderung
  • (4) Enttäuscht-autoritäres Lager, ca. 27%: populistisches Anspruchsmodell
    (Schutz vor Ausgrenzung bzw,Exklusion)
    Parteipräferenzen: CDU/CSU+, SPD+, Rechtes-, FDP-, Grüne-

Bemerkenswert ist, dass sich, trotz der Offenheit der Befragung[3], sechs in sich relativ konsistente Vorstellungen von einer gerechten sozialen Ordnung herauskristallisiert haben. Sie knüpfen an die großen historischen und auch neuen Cleavages und Lagerbildungen an. Die Ordnungsvorstellungen der Bevölkerung sind zwar nicht intellektuell ausgearbeitet, sondern in Begriffen des Alltagsbewusstseins formuliert. Dennoch knüpfen sie sichtbar an die liberalen, sozialdemokratischen, sozialistischen, konservativen und protektionistischen, aber auch die neuen postmaterialistischen Cleavages an. Von der in der ldeologie der „neuen Mitte” behaupteten Auflösung in individualisierte Einzelmenschen kann auf der Ebene der Grundüberzeugungen also kaum die Rede sein.

Wenn sich die Milieu- und Lagerbindungen auch nicht aufgelöst haben, so haben sie sich doch erkennbar differenziert.[4] Hinter unserem vereinfachten Raumbild steht ein differenziertes Zusammenspiel von ökonomischer Lage, Milieukultur und politischen Ordnungsvorstellungen der Individuen, die dann von den Parteien mobilisiert, repräsentiert und in Kompromisse überführt werden müssen. Die klassische Wahlsoziologie hatte schon diesen Gesamtzusammenhang vor Augen, wenn sie von längerfristigen, milieubezogenen Grundüberzeugungen ausgeht, die die Parteien nicht verändern, sondern nur verstärken und mobilisieren können (Lazarsfeld u.a. 1968 [1944]). Die Auffassung, medienbegabte Politiker könnten, Magiern gleich, ohne Rücksicht auf diese Grundüberzeugungen beliebig Wählerinnen und Wähler aus dem anderen Lager zu sich herüber-ziehen, ist demnach eine Illusion – wie alle Magie.

Die dem Individualisierungsansatz verpflichtete Umfrageforschung widmet sich nur einem Ausschnitt dieses komplexen Feldes, nämlich der Mobilisierung und Verstärkung der bereits vorhandenen Wählerneigungen in Wahlkämpfen. Diesen Ausschnitt unter-sucht sie facettenreich mit hochentwickelten professionellen Techniken, wie dies der Sammelband von Güllner (2005) dokumentiert. In dem Band wird jedoch ausdrücklich eingeräumt, dass ihre Umfrageforschung bisher noch nicht untersucht hat, welches denn die mittel- und längerfristigen Grundauffassungen sind, die von den Akteuren der Wahlkämpfe mobilisiert und verstärkt werden.5 Die hannoverschen Untersuchungen seit 1991 haben dazu beigetragen, diese Lücke in der repräsentativen Umfrageforschung zu schließen und die dauerhaften Grundmuster, wie sie die Cleavage-Theorie im Auge hat, quantitativ näher zu ermitteln (Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001, Vester 2001, Geiling 2003).

Durch­re­gieren oder Aushandeln?

Die diese Untersuchungen zusammenfassende, vereinfachte Tabelle verdeutlicht die grundlegenden Strukturdimensionen des politischen Raumes. Die Größe und räumliche Verteilung der verschiedenen Ordnungskonzepte unterstreichen, dass weder die These der „neuen Mitte” noch die Gegenthese einer „strukturellen linken Mehrheit” aufrechterhalten werden kann.

Zunächst sehen wir, dass die Zunahme der neuen Dienstleistungsberufe an der grundlegenden vertikalen Dreiteilung der Gesellschaft nichts geändert hat. Die Dreiteilung verkörpert sich in typischen gesellschaftlichen Ordnungsbildern der privilegierten oberen Milieus (um 25 Prozent), der nichtprivilegierten Arbeitnehmermitte (um 50 Prozent) und der unterprivilegierten Milieus (um 25 Prozent). Eine Mehrheit gibt es nicht für eine „neue Mitte”, sondern für die grundsätzliche Beibehaltung des historischen arbeitnehmerorientierten Solidaritätsmodells der Bundesrepublik.

Die drei vertikalen Stufen der Gesellschaft teilen sich wiederum entlang der horizontalen Achse. Dabei ist bemerkenswert, dass die ständischen Ordnungsmodelle mit knapp 60 Prozent überwiegen. Die Vorstellung einer modernen linken Mehrheit erweist sich gegenwärtig ebenfalls als Illusion. Sie könnte nicht ohne weiteres gegen die mit 18
Prozent sehr große Gruppe der konservativen Arbeitnehmer, die in der SPD vom Seeheimer Kreis und in der Union von deren Arbeitnehmerflügel vertreten wird, durchgesetzt werden. Eine „linke Mehrheit” bestünde selbst dann nicht, wenn die Linkspartei mitgerechnet würde.

(Hinzugedacht werden muss hier noch die dritte Teilung, die regionale Cleavage. Sie kam sehr deutlich in den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland, aber auch Nord- und Süddeutschland zum Ausdruck. Insbesondere lagen am 18. September 2005 im Norden die sozialdemokratischen, im Osten – und im Saarland – die linksparteilichen Stimmen deutlich über dem Durchschnitt.)

Trotz dieser horizontalen und regionalen Differenzierungen haben die Ordnungskonzepte der Lager durchaus einen potentiellen gemeinsamen Nenner. Die arbeitnehmerischen Solidaritätsmodelle überwiegen mit 49 Prozent. Es sind solche Modelle, für die Solidarität und Eigenleistung zusammengehören und nicht – wie in neoliberalen oder protektionistischen Sozialmodellen – gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Allerdings teilen sich die Solidaritätsmodelle horizontal in eine ständische Untergruppe, die u. a, von den konservativen Gewerkschaftern in der CDU (Arbeitnehmerflügel) und in der SPD (Seeheimer Kreis) vertreten wird, und eine modernere Untergruppe, die u.a. von der SPD-Linken (Demokratische Linke 21) vertreten wird. Eine Große Koalition böte die Chance, wenn auch nicht Gewissheit, dass diese beiden Richtungen weniger auseinanderdividiert werden könnten als bisher. Eine solche horizontale Allianz der Arbeitnehmerflügel wäre nicht allein für Arbeitsmarkt-, Wirtschaftspolitik, sondern auch für die Sozial- und Bildungspolitik bedeutsam. Nicht zuletzt die Bildungspolitik war seit den 1980er Jahren von konservativer Seite vollständig blockiert, Ursache des internationalen Rückstands in der Mobilisierung der hochqualifizierten wie auch der niedrigqualifizierten Bildungspotentiale.

Die Chance eines neuen historischen Kompromisses bestünde außerdem in potentiellen vertikalen Aushandlungsprozessen. In einer Großen Koalition kommt das Traditionell-konservative Lager mit an den Tisch, für den sich im CDU-Vorstand Koch positioniert, mit Rüttgers als Gegenspieler, der für das konservative Arbeitnehmerlager
spricht, und Maas als Vermittler zwischen beiden (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Dezember 2005). An dieser Konstellation ist schon zu sehen, dass die Flügel sich jetzt über Landesfürsten positionieren, um mehr Gewicht zu bekommen. Die Blockade zwischen so starken Flügeln kann nicht durch „Durchregieren”, sondern allenfalls durch „Aushandeln” aufgelöst werden. Der Stachel der Wählerverluste an die Nichtwähler und die Linkspartei könnte dazu beitragen, dass es – anstelle des bisherigen Ausgrenzens einzelner Parteiflügel – wieder zum Aushandeln kommt.

Von dem in einer Großen Koalition zusammengebundenen Kern eines neuen historischen Kompromisses aus könnten auch die Minderheitengruppen, die derzeit mehr durch die kleinen Parteien und die Nichtwähler repräsentiert werden, interessiert werden. Die große Minderheitsgruppe der Modernisierungsverlierer von 27 Prozent, die ein protektionistisches Modell gutheißen, könnten durch eine Politik sozialer Mindestgarantien ins Boot geholt und dem Rechtspopulismus, der bei der Bundestagswahl in einigen ostdeutschen Regionen als sechste Partei erkennbar wurde, abspenstig gemacht werden. Die Minderheitsgruppe der „postmaterialistischen” Radikaldemokraten (11 Prozent) könnte interessiert werden durch eine partizipatorische Gestaltung des Wohlfahrtsstaates und eine dynamisierende, sozial ausgewogene Politik des öffentlichen und privaten Dienstleistungssektors, in dem die Klientele der Grünen und des „grünen Teils” der Sozialdemokratie ihr Brot verdienen.

Konser­va­tive oder sozial­de­mo­kra­ti­sche Moder­ni­sie­rung?

Die Chance einer Modernisierung des Sozialstaats liegt nicht im populistischen Durchregieren, vorbei an dem scheinbar unbeweglichen Feld des korporativen und bürgergesellschaftlichen Aushandelns der Interessen und gestützt auf den direkten Appell an das Wahlvolk. Das Wahlvolk hat diesen Appell zurückgegeben und Druck auf die Akteure dieses Aushandlungssystems gemacht. Sie sind jetzt gefordert. Wenn sie versagen, dann könnten kommende Wahlen deutlich machen, dass das jetzt noch glimpfliche Abschneiden der Volksparteien nur ein Mandat auf Widerruf war.

Die Lagergrößen der Bevölkerung haben sich, wie zu erwarten, nicht in der Zusammensetzung der Bundesregierung abgebildet. Hier sind die linken bzw. arbeitnehmerischen Flügel der Volksparteien unterrepräsentiert. Statt dessen haben sich die Führungsgruppen der Volksparteien mit ihrer Vorliebe für scheinbar richtungsungebundene Technokraten einerseits und die konservativeren Parteiflügel andererseits überproportional durchgesetzt, die die Politik der Agenda 2010 ausdrücklich fortsetzen, aber sozialverträglicher abfedern wollen. Die neoliberale Neigung drückt sich nicht allein in der von der Kanzlerin betonten Rhetorik der „Freiheit” aus. Sie ist in die von der Regierung frei gewählten „Sachzwänge” mit eingebaut worden. Das Maastrichter Abkommen, das die Staatsausgaben auch bei schwacher Konjunktur dämpft, soll nicht wirklich neu verhandelt werden. Daher ist eine Ausgabeneinsparung von jährlich mehr als 35 Milliarden Euro vorgesehen, der konjunkturanregende Teilprogramme von nur acht Milliarden Euro jährlich gegenüber stehen. Die Nachfragelücke und die sozialen Disparitäten werden also eher zunehmen.

Um die zu erwartenden Konflikte handhaben zu können, bemühen sich die Volksparteien aber doch um etwas mehr sozialpolitische Sensibilität. Ob dabei mehr herauskommt als eine durch den verbindlicheren Stil des neuen SPD-Vorsitzenden Platzeck und den linken Unionsflügel weichgespülte Agenda 2010, bleibt abzuwarten. Für die kommenden Auseinandersetzungen werden nicht allein die Parteigremien und die Bundestagsfraktionen, in denen ja die linken Flügel schon deutlich stärker vertreten sind als in der Regierung, wichtig werden. Es ist jetzt schon deutlich, dass der Hauptwiderstand gegen zu offensive neoliberale Elemente aus den Ländern kommen wird. Die Länder haben, wie die Gemeinden, den „Schwarzen Peter” der Haushaltspolitik. Sie haben konkurrierende sozial, infrastrukturell und bildungspolitisch wichtige Aufgaben, die sich gegenseitig die Luft wegnehmen. Die Länder müssen eher auf soziale Konflikte reagieren als das abgehobene Berlin. Gleichzeitig bangt hier die vielbeschworene jüngere Generation der Parteien darum, durch Wahlsiege der anderen Parteien von den Berufswegen im öffentlich-politischen Sektor abgeschnitten zu werden.

Ein – dringend erforderlicher – modernisierter Keynesianismus wird sich, wie vor achtzig Jahren in der letzten Weltwirtschaftskrise, nicht durchsetzen, nur weil bestimmte Ökonomen und Theoretiker entsprechende Blaupausen vorlegen. Er kann sich nur, wie damals, neu entwickeln, wenn der ganz untheoretische Druck von unten, die Dämpfung der Nachfrage zu beenden, zunimmt. Jeder Euro, der zusätzlich für Lernende, Kranke, Alte, Infrastrukturen und alle anderen vorgeblich kostentreibenden Zwecke ausgegeben wird, kehrt in Wirklichkeit als Nachfrage auf den Markt zurück. Im Dienstleistungssektor liegen die größten Potentiale für eine Erholung der Beschäftigung. Andere Länder sind hier erfolgreich von dem restriktiven Haushaltskurs abgewichen, der in Deutschland noch das Credo ist. Hierum werden die Kämpfe der nächsten Jahre gehen.

Es kann sich dabei als Illusion erweisen, nur auf den Konkurrenzdruck der Linkspartei, die der SPD sicherlich mehr Wählerinnen und Wähler abspenstig machen kann als bisher, oder gar auf eine spätere Linkskoalition zu setzen. Das Beispiel der Niederlande macht deutlich, dass ein Machtkartell der beiden Volksparteien mit seiner überwältigenden Mehrheit es sich durchaus leisten kann, nach rechts und links immer wieder Stimmen zu verlieren, da es durchaus in der Lage ist, als Große Koalition über viele Wahlperioden weiterzuregieren.

Zugleich ist es nicht auszuschließen, dass eine konservativ-technokratische Koalition für einige Zeit eine revidierte „soziale Marktwirtschaft” institutionell sichern kann. Das Machtzentrum der Koalition liegt bei den Repräsentanten der konservativen Arbeitnehmermilieus in allen Volksparteien. Deren Konzept, das derzeit sehr reflektiert von konservativen Vordenkern und Vordenkerinnen – wie Annette Schavan oder bestimmten Landesfürsten – vorgetragen wird, ist nicht soziale Chancengleichheit, aber doch die Gewährleistung einer gewissen sozialen Sicherheit für die Mehrheit der Milieus in Gestalt einer hierarchisch gestuften Ordnung, unterschichtet von einer unterprivilegierten Klasse, die die klassische Maximalgröße des submerged fifth (Harrington 1964) nicht überschreitet. Die Linke hat zu diesem aufgeklärten Konservatismus in der Bildungs- wie in der Sozialpolitik kein praktisch umsetzbares Gegenkonzept. Sie wird es brauchen. Die Erwartung, die konservative Abmilderung krasser sozialer Polarisierungen würde den sozialen Frieden auf Dauer sichern, wird nicht ausreichen. Denn die modernen Arbeitnehmermilieus brauchen mehr als eine Rückkehr in die sichere, aber bevormundende Hierarchie der 1950er Jahre.

* Der Beitrag basiert auf einem überarbeiteten Vortrag vor der Demokratischen Linken der SPD (DL 21) am 24. September 2005 in Berlin, ausgearbeitet in Zusammenarbeit mit der Wahlforschung der Universität Hannover (Prof. Dr. Heiko Geiling).

[1] Der langsame Wähler-Trend von der CDU zur SPD in den 1950er und 1960er Jahren kann nicht allein mit einer allgemeinen Tendenz der Säkularisierung oder Rationalisierung erklärt werden. Er hat auch mit einem Seitenwechsel der katholischen Arbeitnehmer von der unternehmernahen CDU zur SPD zu tun. Insbesondere in Nordrhein-Westfalen gewann die frühere Klientel der in der CDU aufgegangenen linkskatholischen Zentrumspartei nach und nach mehr Vertrauen in die neue Basisinstitution der auch kommunalpolitisch bedeutsamen Betriebsräte (vgl. Niethammer u.a. 1983ff.). Von den 1980er Jahren an hat sich diese Bindung weiter horizontal verschoben, von der basisferner werdenden SPD zu den Grünen und schließlich der gewerkschaftsnahen Wahlinitiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), die sich nun mit der Linkspartei verbindet.

[2] Nach den vertikalen und horizontalen Konfliktlinien (cleavages) der westdeutschen Gesellschaft, mit Schwerpunkten von Parteiflügeln und Parteipräferenzen (Daten zu Ostdeutschland und zur PDS bzw. Linkspartei standen nicht zur Verfügung). Repräsentativbefragung „Gesellschaftlich-politische Milieus in Westdeutschland” 1991: n= 2.684; deutschsprachige westdeutsche Wohnbevölkerung ab 14 J. in Privathaushalten. Cluster- und Faktorenanalyse, nach: Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001, Kap. 2.5 und 12.2. Aufgrund von Rundungen addieren sich die Prozentzahlen nicht genau auf 100 Prozent.

[3] Die sechs Ordnungsmodelle sind in der Befragung nicht vorgegeben gewesen, sondern rein explorativ aus der Beantwortung von 45 weit gefächerten Statements hervorgegangen, die mit multivariaten Clusterverfahren ausgewertet wurden. Die Merkmalsprofile der gefundenen sechs Typen wurden sodann mit den ebenfalls erhobenen übrigen sozialstrukturellen Dimensionen (als „illustrierenden Variablen”) vervollständigt (Vester u.a. 2001: 427-491).

[4]Die Vorstellung einer „Auflösung” der Lager- und Milieubindungen hat allerdings einen wahren Kern. Sie ist stark von den ideologischen Frontstellungen der 1970er Jahre beeinflusst, die auch die heutige ältere Generation von Politikern und Publizisten geprägt hat. Die Individualisierungsthese entstand damals als Reaktion auf verschiedene Theorien, die die kulturellen und politischen Verhaltensformen der Menschen unmittelbar aus ökonomischen oder berufsstatistischen Einteilungen abzuleiten versuchten. Diese deterministischen Ansätze unterschätzten erheblich die Eigenlogiken der Alltagskultur und des politischen Feldes, deren Gewicht im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung tatsächlich zunahm. Zweifellos hat sich, mit dem sog. Wertewandel, auch das Gewicht von individueller Selbstbestimmung und nichtmateriellen Werten verstärkt. Aber die inneren Überzeugungen der Menschen wurden damit nicht aufgelöst, sondern, durch die Zurücknahme äußerer Kontrollen, stärker nach innen verlagert, in den Habitus der Menschen, der sich in der Bevorzugung bestimmter Lebensstile und sozialer Ordnungsvorstellungen äußert.

[5]Wenn wir in unseren Analysen für die Bundestagswahl 2002 finden, dass die Kanzlerpräferenz mit der Nähe zum Wahltag an Erklärungsmacht gewinnt, so heißt dies nicht zwingend, dass die Aktivierung und/oder Bestärkung langfristiger Orientierungen bei dieser Wahl nur mehr eine geringe Rolle spielte. Um dies explizit zu prüfen, hätte man im Rahmen komplexer Analysemodelle auch die indirekten Effekte etwa der Parteibindung (Schoen 2004) oder Wechselwirkungen unter erklärenden Merkmalen untersuchen müssen. So gesehen, muss ein strenger Test der Aktivierungsund Bestärkungshypothesen im Sinne Lazarsfelds u.a. weiterführenden Analysen vorbehalten bleiben.“ (Klein/Rosar 2005: 189

Literatur

Beck, Ulrich 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main Bourdieu, Pierre 1982: Die feinen Unterschiede, Frankfurt/Main
Brettschneider, Frank/Deth, Jan van/Roller, Edeltraud (Hg.) 2002: Das Ende der politisierten Sozialstruktur, Opladen
Brettschneider, Frank/Deth, Jan van/Roller, Edeltraud (Hg.) 2004: Die Bundestagswahl 2002, Wiesbaden Dalton, Russell J. 1984: Cognitive Mobilization and Partisan Alignment in Advanced Industrial Democracies; in: Journal of Politics, Jg. 46, H. 2, S. 264-284
Dülmer, Hermann 2005: Der Ausgangspunkt: Der Wahlsieg von Rot-Grün bei der Bundestagswahl 1998; in: Güllneru,a. 2005, S. 31-39
Eith, Ulrich/Mielke, Gerd (Hg.) 2001: Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder- und Regionalstudien, Wiesbaden
Flanagan, Scott C. 1987: Value Change in Industrial Societies; in: American Political Science Review, Jg. 81, 5.1303-1319
Focus-Wahl-Spezial 2005
Geiling, Heiko 2003: Anmerkungen zur Landtagswahl 2003, Hannover (Ms.)
Giddens, Anthony 1999: Der dritte Weg — die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt/Main Güllner, Manfred u.a, 2005: Die Bundestagswahl 2002. Eine Untersuchung im Zeichen hoher Dynamik, Wiesbaden
Harrington, Michael 1964: Das andere Amerika. Die Armut in den Vereinigten Staaten, München Klein, Markus/Rosar, Ulrich 2005: Die Wähler ziehen Bilanz: Determinanten der Wahlteilnahme und der Wahlentscheidung; in: Güllner u.a. 2005, S. 181-198
Lazarsfeld, Paul F./Berelson, BernardlGaudet, Hazel 1968 [1944]: The People’s Choice. How the Voter Makes Up His Mind in a Presidential Campaign, 3. Aufl., New York
Lepsius, M. Rainer 1973 [1966]: Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft; in: Ritter, Gerhard A. 1973, S. 56-80
Lipset, Seymour Martin/Rokkan, Stein (Hg,)1967: Party Systems and Voter Alignments, New York Müller, Walter 1997: Sozialstruktur und Wahlverhalten. Eine Widerrede gegen die Individualisierungs-
these; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 49, S. 747-760
Müller, Walter 1998: Klassenstruktur und Parteiensystem. Zum Wandel der Klassenspaltung im Wahl-
verhalten; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 50, S. 3-46 Negt, Oskar 2001: Arbeit und menschliche Würde, Göttingen
Niedermayer, Oskar (Hg.) 2003: Die Parteien nach der Bundestagswahl 2002, Opladen
Niethammer, Lutz (Hg.) 1983ff.: Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet, 3 Bde., Berlin/ Bonn
Oberndörfer, Dieter/Mielke, Gerd/Eith, Ulrich 2003: Niemand zieht für die Hartz-Kommission in den Wahlkampf, Uber die Folgen der jüngsten Landtagswahlen; in: Frankfurter Rundschau vom 7. Februar, S. 7
Oberndörfer, Dieter/Mielke, Gerd/Eith, Ulrich 2005: Ein Graben mitten durch beide Lager. Eine Wahl-
betrachtung aus parteiensoziologischer Sicht; in: Frankfurter Rundschau vom 22. September
Ohr, Dieter 2005, Wahlen und Wählerverhalten im Wandel: Der individualisierte Wähler in der Medi-
endemokratie; in: Güllner u.a. 2005, 5.15-30
Reisz, Gesa 2004: Sozialdemokratie ohne Solidarität? Wandlungen eines linken Begriffs in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert; in: vorgänge 168, H. 4, S. 56-64
Schoen, Harald 2004: Kandidatenorientierung im Wahlkampf. Eine Analyse zu den Bundestagswahl-kämpfen 1980-1998; in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 45, S. 321-345
Spiegel-Wahlsonderheft 2005
Vester, Michael 2001: Milieus und soziale Gerechtigkeit; in: Korte, Karl-Rudolf/Weidenfeld, Werner (Hg.), Deutschland-TrendBuch, Opladen, 5.136-183
Vester, Michael/Oertzen, Peter von/Geiling, Heiko u.a. 2001 [1993]: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt/Main

nach oben